Die schwedische Sozialdemokratie unterstützt das Lieblingsprojekt der Liberalen: die Freigabe der Mieten. Konsequenter Widerstand ist nötig – bis hin zum Sturz der rot-grünen Regierung.
Könnte man es deutlicher zeigen? Bei der [am 4.6. vorgelegten] Studie zur Freigabe der Mieten im Neubau geht es nicht um mehr Wohnraum, nicht um gerechtere Mieten, nicht um mehr Angebot. In der Mindestbedingung von Zentrumspartei und Liberalen beim Abschluss des Januar-Abkommens ging es nur um eines: um den kalkulierten Gewinn der Grundstückseigentümer*innen, oder in den Worten der Studie: um „Berechenbarkeit“ Daher sollen alle Neubauten, plus Umwandlungen von Büros in Wohnungen, plus Mieterwechsel künftig ohne die bisherige Gebrauchswertfeststellung in Verhandlungen mit organisierten Mieter*innen, sprich dem Mieter*innenbund, vermietet werden. Stattdessen werden großzügig freie Verhandlungen zwischen Vermieter*in und Mieter*in vorgeschlagen – also zwischen Großunternehmen mit Millionenressourcen und dem Einzelnen ohne Dach über dem Kopf. Hat da jemand „Machtgleichgewicht“ gesagt?
Nein zu Marktmieten |
Alle scheinen sich einig zu sein, dass das Ganze eine reine Auftragsarbeit der Immobilienfirmen ist und eine Öffnung für den gesamten Mietbestand - von den Bauherren über das Bürgertum bis hin zu den Wohnungsexperten. Alle, außer dem sozialdemokratischen Justizminister Morgan Johansson. Seine verlogene Verschleierung der des Entwurfs auf der Regierungspressekonferenz sucht seinesgleichen. Die von ihm herausgestellte Abmilderung der Folgen für die Mieter*innen des Landes, auf die sich wiederholende Mietschocks zukommen werden, glich dem Ruf des Diebes: „Haltet den Dieb!“ Das sei es, „wovor Vänsterpartiet-Mieter Angst haben sollten“, nicht die Marktmieten, warnte Johansson. Denn wenn es der Vänsterpartiet gelänge, die Regierung zu stoppen, dann warte [der konservative Parteichef] Kristersson im Foyer mit „echten“ Marktmieten.
Mit diesen Nebelkerzen soll das drohende Attentat der Regierung auf einen Großteil der sozialdemokratischen Wählerbasis, die ja eben Mieter*innen sind, verschleiert werden. Im Wahlkampf vor gerade einmal drei Jahren hat sich die Sozialdemokratie noch gegen jeden Versuch ausgesprochen, Marktmieten einzuführen. Der Mieter*innenbund gehört zur klassischen, von der Partei dominierten „Volksbewegungsfamilie“. Viele führende Sozialdemokrat*innen lehnen eine Öffnung zur Einführung von Marktmieten ab. Karin Wanngård, Chefin der Sozialdemokratie in Stockholm, hat scharf protestiert und örtliche Gegenwehr versprochen. Philip Botström, Vorsitzender der schwedischen Jusos (SSU), bezeichnet den Entwurf als „Scheißidee“. Die Mieter*innenbundsvorsitzende Marie Linder, ebenfalls Sozialdemokratin, fordert die Vänsterpartiet (Linkspartei) sogar auf, die Regierung zu stürzen, wenn der Entwurf auf den Tisch des Reichstags kommt.
Bei den Demonstrationen am vergangenen Wochenende wurde die Vänsterpartiet (Linkspartei) nachdrücklich aufgefordert, von ihrer Drohung gegen die Regierung nicht abzuweichen. Alles andere als ein solcher Rückzug war die Rede ihrer Vorsitzenden Nooshi Dadgostars: Sie zerriss der Studie förmlich mit dem Versprechen, den Widerstand nicht aufzugeben. Auch die Stockholmer Vorsitzende, Ebba Elena Karlström, warnte die Regierung davor, den Entwurf einzubringen und antwortete Morgan Johansson: „Keine Mieter*in sollte Angst vor der Linkspartei haben, es ist Morgan Johansson, der sich fürchten sollte!“
Dass die Vänsterpartiet den Entwurf so eindeutig angreift und die Protestbewegung unterstützt, ist von größter Bedeutung, sowohl um den Entwurf zu stoppen als auch für das Vertrauen der Partei in der Arbeiter*innenklasse. Die Mehrheit der Schwed*innen lebt in Einfamilienhäusern oder Eigentumswohnungen, aber die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse, Lohnabhängige mit mittleren und kleinen Einkommen, mieten ihre Wohnungen. In der nationalen Politik und den Medien, die von bürgerlichen Lebensverhältnissen und Perspektiven durchzogen sind, können unerträgliche Mieten für andere hinter Villenfinanzierungen und Amortisationssorgen in den Hintergrund treten. Stefan Löfvens Aussage, dass „normale Leute“ sich keine Sorgen um steigende Wohnkosten durch eine neue Grundsteuer machen müssen, verdeutlicht die Priorität. Bei drei Millionen Mieter*innen, deren Mieten bereits jetzt zu teuer sind und durch die Einführung der Marktmieten explodieren werden, herrscht nicht dieselbe Sorglosigkeit. Für die Linke gilt es dann, das aufrecht bis zum bitteren Ende oder bis zum Sieg durchzustehen – als Loyalitätserklärung an die Arbeiter*innenklasse, der das Establishment seit dreißig Jahren seinen neoliberalen Finger zeigt.
Hier sollte es keinen Zweifel geben, dass im Reichstag das Misstrauen ausgesprochen wird, wenn die Regierung einen scharfen Entwurf einbringt. Christdemokraten und Konservative (Moderaterna) haben schon erklärt, dass ihnen die Interessen der Immobilienunternehmen wichtiger seien als ein Misstrauensvotum. Und? Sie folgen nur ihrem Klasseninteresse - und wenn dies mit dem der Regierung übereinstimmt, umso erhellender. Um einen Misstrauensantrag einzubringen, reichen die Parlamentsmandate der Vänsterpartiet nicht aus, es braucht etwa zehn weitere. Ob diese von den [rechtspopulistischen] Schwedendemokraten oder vom Teufel und seiner Großmutter kommen, ist in der jetzigen Situation unerheblich. Bei der eigentlichen Abstimmung ist, wenn sie so überhaupt stattfindet, jede*r gezwungen, Farbe zu bekennen.
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Eine solche Abstimmung würde dann im Frühjahr 2022 erfolgen. [1] Wenn die Regierung mit Unterstützung der Bourgeoisie gewinnt, wird die Linkspartei alleinige Verteidigerin von drei Millionen Mietern sein. Wenn die Regierung stürzt und Kristersson eine rechte Regierung bildet, muss sie sich nach wenigen Monaten einer Reichstagswahl stellen, bei der die politischen Kräfte gemessen werden.
Bis zu diesem Kräftemessen braucht es eine Linkspartei, die ohne Angst standhaft an der Seite der Mieter*innen und der Arbeiter*innenklasse steht
Socialistisk Politik, 7. Juni 2021 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz