Bundestagswahl

Vom unaufhaltsamen Niedergang der sogenannten „Volks“partei CDU

Tote Pferde kann man nicht reiten!

J. H. Wassermann

Nach dem Wahlergebnis vom 26. September 2021 wird viel darüber spekuliert, dass „die CDU“ sich „erneuern“ und „personell neu aufstellen“ müsse, und es wird über die Notwendigkeit einer „inhaltlichen und programmatischen Erneuerung“ phantasiert.

Das gewünschte Ergebnis dieser Erneuerung soll sein, dass die Union wieder zu alter Stärke bei Wahlergebnissen und zu ihrem Charakter als „Volkspartei“ zurückfindet.

Beides sind Kehrseiten derselben Medaille und gleichermaßen illusorisch. Diese deprimierende Aussicht für die nach Mandaten, Posten und Bereicherungsmöglichkeiten jagenden Funktionäre, insbesondere der Jüngeren unter diesen, wird zu innerparteilichem Streit führen. Weil es um etwas geht, nämlich Geld, wird dieser Streit erbittert sein. Wenn es weniger zu verteilen und zu erreichen gibt, wird heftiger gekämpft. Für eine Diskussion, damit wir diese Entwicklung besser verstehen, sollen die nachfolgenden Überlegungen ein Anstoß sein.


„Volks“partei CDU


Der Begriff der Volkspartei macht nur Sinn im Unterschied zu Begriffen wie „Klassenpartei“ oder Parteien, die sich eindeutig auf bestimmte soziale Gruppen oder Schichten beziehen (wie z. B. Bauernpartei), oder bewusst nur auf Ausschnitte des Volkes (Bayernpartei) oder nur auf einen oder einen Teil der Gesichtspunkte der Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet sind (wie es mal die Grünen mit dem Thema Umweltschutz waren).

Noch vor ein paar Jahren wurde im Einbürgerungstest für die deutsche Staatangehörigkeit nach der Bedeutung der Abkürzung C D U gefragt, und eine der möglichen Antwortvarianten war „Club deutscher Unternehmer“. Wer auch immer der Spaßvogel bei der Redaktion des Fragebogens war, drückt die mögliche Antwort doch eine tief verankerte Erfahrung aus, nämlich dass die CDU die Partei des Unternehmertums, insbesondere der großen Kapitalgruppen sei. Das wird gestützt durch die jahrzehntelange und generationenübergreifende Erfahrung der Menschen seit der Gründung der BRD und auch nach der Annektion des Beitrittsgebietes der Ex-DDR.

Gleichzeitig hatte die CDU aber auch über Jahrzehnte eine wirkliche Massenbasis im Volk. Das drückte sich nicht nur in Wahlergebnissen aus, sondern in Mitgliederzahlen und verbundenen Organisationen.

Ohne Anspruch auf Vollzähligkeit oder Gewichtung sollen hier genannt werden: die christliche Arbeiterbewegung mit der CDA, die evangelischen und katholischen Laienorganisationen, die Vertriebenenverbände, die Landfrauen, Bauernverbände, …

Notwendigerweise ist auch die soziale Basis zu betrachten. Die CDU war stärker verankert in der ländlichen Bevölkerung, und dort noch stärker im katholischen Süd- und Westdeutschland als im protestantischen Norden.

Das klassische Kleinbürgertum, die selbständigen Ärzte, Rechtsanwälte, Einzelhändler, Zinshausbesitzer, Handwerkerunternehmer, Lehrer war eine soziale Stütze - mit Unterschieden in Stadt und Land.

Dazu kamen in den Nachkriegsjahrzehnten noch Millionen Bauern und ihre Familien. Diese sind im Laufe der Zeit durch Industrialisierung und daraus folgende Konzentration in der Landwirtschaft als Klasse nahezu verschwunden, wenn auch politische Präferenzen z. T. familiär weiterleben.

1949 – als die Fronten noch klar waren

Grafik: Bernd Cardinal, Archiv: ACDP

Mit dem Altern der Menschen geht in der Regel eine Zunahme einer bewahrenden Sichtweise auf das Leben einher, nicht umsonst war die CDU bis zu dieser Wahl 2021 stets die Mehrheitspartei unter den Rentnerinnen. Diese Rolle ist jetzt lustigerweise an die SPD gefallen.

Die Leistung der CDU war, die Interessen all dieser Gruppen und Menschen scheinbar miteinander und den Interessen des Großkapitals unter einen Hut zu bringen.


Familie und Vaterland


Als ein wesentliches verbindendes Element muss hier der ideologische Kitt eines vermeintlichen „Werte“-Kanons von Heimat-Vaterland, Familie, Religion betrachtet werden. Ein weiteres Element war strammer Antikommunismus, den häufig auch völlig zu Unrecht die Sozialdemokratie abbekam. Und ehemalige „Nazis“, denen Blut und Boden, deutsche Ehre usw. wichtig waren, wurden augenzwinkernd geduldet.

Allein, Ideologie macht nicht satt, Interessen mussten auch materiell bedient werden. Das ging aber den 50 er und 60er im Rahmen von Wirtschaftswachstum auch ganz gut durch Lastenausgleich, Bauernförderung, Industrieförderung in sogenannt „strukturschwachen“ Regionen (Bayern z. B.).

Und es gab auf kommunaler Ebene, in den Bundesländern, in den gesellschaftlichen Institutionen einen Haufen von Posten und Pöstchen zu vergeben, mit denen die Anhänger befriedigt werden konnten. Nur als Merkwürdigkeit am Rande sei erwähnt, dass in Gewerkschaftsvorständen auf allen Ebenen es üblich war, dass die „Roten“ Sozialdemokraten selbstverständlich einen Sitz für die „Schwarzen“ freihielten.

Diese verschiedenen Elemente, die der CDU über Jahrzehnte den Charakter einer „Volkspartei“ verliehen haben, sind nun auf ihr fortgesetztes Vorhandensein oder ihr Ab- und Aussterben hin zu betrachten.

Als ein wichtiges Element ist wohl die Wanderung der Bevölkerung vom Land in die Stadt zu bewerten.

Ein Ergebnis davon ist: Die Bauern sind weitgehend weg. Industrialisierung und die daraus folgende Konzentration haben eine ganze Klasse nachdrücklich dezimiert. Auch das ländliche Proletariat, die Landarbeiterinnen sind fast völlig verschwunden.

Die Vertriebenen sind faktisch ausgestorben. Letzte Rest wie Erika Steinbach etwa sind jetzt wirklich nur noch revanchistisch und finden in der CDU keine Heimat mehr, der Rest schwelgt in tumber Folklore und spielt politisch auf Massenebene keine Rolle mehr.

Das klassische Kleinbürgertum ist auch von der massiven Bewegung vom Land in die Stadt betroffen.

Ein Teil der akademischen Berufe hat nicht mehr den gleichen Automatismus von gesellschaftlich gehobener Stellung und sicheren, überdurchschnittlichen Einkommensaussichten. Die Konzentration im Einzelhandel dezimiert die Kaufleute. Der Kiosk um die Ecke in der Großstadt, der eine gewisse Ersatzfunktion einnimmt, wird aber in der Regel von Menschen mit Migrationshintergrund eröffnet.

2021 – der Absturz

Foto: Steffen Prößdorf

 

Der Anteil an sogenanntem Wohneigentum (Häuser, Wohnungen) ist in den letzten Jahrzehnten massiv gestiegen, zusammen mit einer Konzentration des Wohnungsbesitzes nimmt die Bedeutung und die Anzahl der Zinshausbesitzer ab.

Handwerker, Kleinunternehmergibt es weiterhin und sie reproduzieren sich laufend („Start-ups“). Deren objektive Interessen nach niedrigen Steuern, keinen behördlichen Vorschriften, Herabsetzung des Arbeitsschutzes und der Rechte der Beschäftigte lässt sich auch mit anderen Parteien verfolgen. Hier hängt es wenigstens zum Teil von der Attraktivität der angebotenen „Werte“ ab, wo die politische Gefolgschaft erfolgt.


Der Kitt ist rissig


Der ideologische Kitt, der jahrzehntelang mehr oder weniger alles zusammenhielt, ist ausgetrocknet, rissig und hat seine Bindungskraft eingebüßt.

Diejenigen, für die tatsächlich Heimat, Vaterland, Ehre der Wehrmacht, Volk und womöglich sogar Rasse wichtig sind, finden in der AfD eine neue, angemessenere Heimat.

Der vermeintlich gemäßigte Patriotismus, wie er sich in schwarzrotgoldener Schminke bei Sportereignissen zeigt, entfaltet noch keine politische Gefolgschaft für eine bestimmte Partei. Noch ist ein „großer Zapfenstreich“ nicht Anlass militaristischer Massenaufmärsche. Dass die „deutsche Freiheit“ auch „am Hindukusch verteidigt“ werde, hat schon Peter Struck von der SPD niemand so recht geglaubt. Der Katalog: Vaterland, Patriotismus, Schutz der Heimat vor Überfremdung, Stolz darauf, eine Deutscher zu sein ist im Moment für die CDU keine Perspektive Masseneinfluss zurückzugewinnen. Unter anderem haben ihre ehemaligen Kollegen mit der AfD für diesen Teil krauser Ideen schon einen glaubwürdig(er)en Pol geschaffen.

Der massive Antikommunismus verfängt vielleicht noch bei Älteren, ansonsten ist die abschreckende Wirkung zusammen mit Zonengrenze und planwirtschaftlichem Mangel weggefallen.

Die Familie, gedacht als Kleinfamilie, ist sicherlich immer noch die am meisten verbreitete, wenn vielleicht auch nicht mehrheitliche Form des privaten Zusammenlebens in diesem Land. Ein wesentlicher Bestandteil jedoch des Konzeptes der bürgerlichen Familie, ihr patriarchalischer Charakter ist nachhaltig angeknackst. Wer auf einer öffentlichen Versammlung etwa die Vorherrschaft des Mannes in der Ehe und der Familie und in der Gesellschaft propagieren würde, bekäme zwar weiterhin Zuspruch aber bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie es zum Wiedergewinn eines Volksparteicharakters nötig wäre.

      
Mehr dazu
Angela Klein: Das Ende der Kanzlerdemokratie, die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
Manuel Kellner: Legitimitätsverlust für etablierte Politik und schwere Niederlage für die Partei Die Linke, die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
Jakob Schäfer: Zur Bewertung des Wahlausgangs der Bundestagswahl 2021, die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
Erklärung der ISO zu den Ergebnissen der Bundestagswahl 2017, die internationale Nr. 6/2017 (November/Dezember 2017)
 

Bliebe noch die Religion, die natürlich – schon der Name sagt es – christlich ist. Glücklicherweise hat sich der ideologische und moralische Würgegriff der Pfaffen beider Konfessionen nachhaltig gelockert.

Vor allem auf dem Land wird nicht mehr so gepredigt, was zu wählen sei. Die katholische Kirche ist darüber hinaus dabei sich selbst zu ruinieren, weil sie natürlich nicht rückhaltlos aufklären kann, was es mit Kindes- und sonstigem sexuellem Missbrauch auf sich hat, berührt dies doch zentrale Elemente ihres Dogmas, also der unumstößlichen Lehrsätze (Zölibat, kein Priesteramt für Frauen, usw.).

Fortgesetzte Einwanderung und die Entwicklung in der DDR haben dazu geführt, dass die wirkliche Bindung und Einbindung an die beiden christlichen Konfessionen gesellschaftlich so nachgelassen hat, dass von der CDU aus dem Glauben wenig Honig gesogen werden kann für zukünftige politische Aussichten.


Kein Weg zurück


Diese Entwicklungen haben seit vielen Jahren die soziale Basis der CDU, die aus durchaus unterschiedlichen und teilweise gegensätzlich orientierten Interessengruppen bestand, ausgehöhlt.

Das lässt sich nicht umkehren, die Vergangenheit ist dahin. Die relative Stabilität der parlamentarischen Demokratie im „rheinischen Kapitalismus“ der BRD in der Nachkriegszeit (und im Wege des Überstülpens dann auch in der Ex-DDR) auf Grundlage zweier, recht stabiler „Volksparteien“ ist unwiderruflich verschwunden. Ein Blick ins westeuropäische Ausland lehrt uns, dass Deutschland nur eine Entwicklung nachvollzieht, die woanders schon vor langem eingesetzt hatte oder die hier und da schon endgültig vollzogen ist.


Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz