Bundestagswahl

Legitimitätsverlust für etablierte Politik und schwere Niederlage für die Partei Die Linke

Manuel Kellner

Die Parteien der „Großen Koalition“, die die Regierung von Angela Merkel stützen, die CDU/CSU und die SPD haben jeweils nur ein Viertel der Wähler*innen gewonnen. Mit 24,1 % der Stimmen haben CDU und CSU das schlechteste Ergebnis in ihrer Geschichte erhalten. Die SPD konnte mit ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz wieder Boden gewinnen (vor einigen Wochen war sie in den Umfragen auf unter 15 % gerutscht) und mit 25,7 % zur stärksten Partei werden. Damit haben 75 % der Wähler:innen nicht für die Partei Nr. 1 der nächsten Regierung gestimmt, gleich welche das sein wird. Die rund 1,6 Millionen Stimmen, die die Christlich-Konservativen an die Sozialdemokratie verloren haben, haben recht viel mit dem konservativen politischen Profil von Olaf Scholz zu tun, ist er doch einer aus der Generation des sozialdemokratischen Spitzenpersonals, die die einschneidenden Gegenreformen der Agenda 2010 befürwortet und durchgeführt hat…

Blockupy-Demonstration, 2014

Foto: Stefan Bellini

Mit einer Wahlbeteiligung von 76 % und mit 8,7 % der Stimmen für die Kleinparteien, die nicht in den Bundestag eingezogen sind, wird ungefähr ein Drittel der Wahlberechtigten nicht im Parlament vertreten sein. Der Verlust an demokratischer Legitimität, der damit einhergeht, entspricht einem Prozess, der seit längerem läuft und der sich zunehmend verschärft.

Was die extreme Rechte im Bundestag angeht, kann die AfD mit ihren Verlusten nicht zufrieden sein, mit ihren 10,3 % der Stimmen hat sie den Rang als größte Oppositionspartei verloren. Außerdem ist sie durch innere Auseinandersetzungen zerrissen, ein Teil der Mitglieder und der Führung will mit den Corona-Leugner:innen und mit Neonazi-Gruppierungen marschieren, während ein anderer mehr Ernsthaftigkeit in den Augen von Kreisen der etablierten bürgerlichen Politik an den Tagen legen will. Dennoch bleibt diese Partei ein ernstzunehmender Feind, der in zwei großen Flächenstaaten im Osten des Landes die CDU überflügelt hat und zur stärksten Partei geworden ist.

Die beiden Gewinner sind die Grünen mit 14,8 %, ihrem besten Ergebnis jemals (wobei sie allerdings in den Umfragen vor einigen Wochen noch vor der CDU gelegen hatten, so dass sie zur stärksten Partei geworden wären), und die FDP mit recht spektakulären 11,5 %. Bis auf weiteres denkt niemand an eine Neuauflage der Großen Koalition aus CDU/CSU mit der SPD als Juniorpartner. In den nächsten Wochen oder Monaten wird über zwei Optionen geredet und verhandelt werden: eine Koalition der SPD mit den Grünen und der FDP oder aber eine Koalition von CDU/CSU mit den beiden gleichen Parteien, die in jedem Fall eine wichtige Rolle spielen und Teil der nächsten Bundesregierung sein werden. Dabei ist es nicht ganz einfach sich vorzustellen, welche Kompromisse zustande kommen können, ist die FDP doch gegen höhere Steuern auf die großen Vermögen und Einkommen und zugleich gegen jedwede neue öffentlichen Schulden, so dass nicht zu sehen ist, wie die von der SPD und von den Grünen versprochenen Investitionen in die Infrastruktur, erneuerbare Energien und digitale Kommunikation finanziert werden sollen. Da CDU/CSU mit ihrem Kanzlerkandidaten Armin Laschet als die Wahlverlierer gelten, scheint eine rot-gelb-grüne Koalition dennoch wahrscheinlich zu sein.

Die Partei DIE LINKE hat die 5-Prozent-Hürde nicht überwinden können und nur 4,9 % der Stimmen erhalten. Wenn sie dennoch mit einer Fraktion entsprechend ihrer Stimmenzahl in den Bundestag einzieht, so nur dank einer Besonderheit des deutschen Wahlrechts; damit wird dies Parteien, die in mindestens drei Wahlkreisen Direktmandate erobern, ermöglicht – und DIE LINKE hat in Berlin und Leipzig genau drei solche Mandate gewonnen. Mit diesem sehr schlechten Ergebnis scheint die Partei DIE LINKE ihre ganze Glaubwürdigkeit aufgezehrt zu haben, die sie bei ihrer Gründung hatte. 2009 hatte sie 11,9 % der Stimmen gewonnen, das schien damals ein guter Anfang zu sein …

Was ist falsch gelaufen? Die Revolutionär:innen und die radikale Linke tendieren dazu, die Schuld beim Opportunismus und bei der Anpassung an den Parlamentarismus zu suchen (beides sind echte Probleme). Mit der Beteiligung an Landesregierungen, die eine reichlich „normale“ prokapitalistische Politik umsetzen, kann diese Partei nicht mehr als eine Kraft der Revolte gegen die Herrschaft des Kapitals gelten.

Es ist allerdings nicht ganz so einfach: Die Mehrzahl der Menschen, die mehr oder minder bereit sind, DIE LINKE zu wählen, neigen eher dazu, sich eine Regierungsbeteiligung der Partei zu wünschen, auch auf Bundesebene, damit ein kleiner Teil der sozialen und ökologischen Programmpunkte verwirklicht werden kann. Manche finden sogar die (in Wirklichkeit eher platonischen) Positionen der Partei zur NATO und gegen jede Form von internationalem Einsatz der Bundeswehr etwas zu radikal.

      
Mehr dazu
J. H. Wassermann: Vom unaufhaltsamen Niedergang der sogenannten „Volks“partei CDU, die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
Angela Klein: Das Ende der Kanzlerdemokratie, die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
Jakob Schäfer: Zur Bewertung des Wahlausgangs der Bundestagswahl 2021, die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
Anders Ekeland und Einar Braathen: Die Linke und die Regierungsfrage, die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021)
Peter Widén: Zur Frage der Regierungsmacht, die internationale Nr. 4/2020 (Juli/August 2020) (nur online)
Erklärung der ISO zu den Ergebnissen der Bundestagswahl 2017, die internationale Nr. 6/2017 (November/Dezember 2017)
Thies Gleiss: Ein neuer Anlauf: Die Linke in Berlin als Regierungspartei, die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017)
Buchbesprechung: Nach Goldschätzen graben, Regenwürmer finden. Die Linke und das Regieren, SoZ, März 2017
Buchbesprechung: Harald Wolf: DIE LINKE und das Regieren, links-bewegt.de, 03.12.2021
Manuel Kellner: DIE LINKE NRW nach zwei Jahren Präsenz im Landtag, Inprekorr Nr. 4/2012 (Juli/August 2012)
Manuel Kellner: Zur Regierungsfrage aus sozialistischer Sicht, Inprekorr Nr. 307 (Mai 1997)
 

Es ist nicht einfach, ein Rezept zu nennen. Es wäre nicht ehrlich zu sagen, wir wüssten immer, wie mehr Stimmen zu gewinnen sind. Manchmal kommt es darauf an, unpopuläre Dinge zu sagen, auch laut, gegen den Strom. Oder nehmen wir das Beispiel der 600 000 Stimmen, die DIE LINKE an die SPD verloren hat. Das war eine Auswirkung der „nützlichen“ oder „taktischen Stimmabgabe“, um zu verhindern, dass Armin Laschet die SPD schlägt, was an den allerletzten Tagen vor der Wahl (wieder) möglich zu sein schien. Sogar unter denen, die uns ausgesprochen nahestehen, gab es Menschen, die eine Entscheidung ausgesprochen schwierig fanden: Sowohl die Gefahr, dass CDU/CSU gewinnen als auch dass DIE LINKE an der 5-Prozent-Hürde scheitert und dass man die Stimme verschenkt, wenn man sie wählt, erschienen real. Und es ist nicht einfach, ein Gegengift gegen das „nützlich Abstimmen“ für das „kleinere Übel“ zu erfinden, das in breiten Schichten wirkt.

Allerdings stehen in der Partei DIE LINKE und in der Linken generell Debatten darüber an, wie auf mittlere Sicht eine stärkere und besser in den Betrieben, in den Stadtteilen, in den Schulen verankerte, eine aktive Linke aufgebaut werden kann, eine Kraft, die in den sozialen Bewegungen Ansehen genießt, die Teil und Trägerin von mobilisierenden Projekten und konkreten Aktionen ist, die sich in eine Perspektive radikaler Gesellschaftsveränderung einreiht, damit die Herrschaft des Großkapitals und dessen politischer Dienerschaft gebrochen werden kann.

Wir können nicht bis zur nächsten Bundestagswahl 2025 warten. Nehmen wir nur den Kampf gegen die Klimakatastrophe: Die nächste Bundesregierung wird weitere vier verlorene Jahre bedeuten. Das verbleibende Zeitfenster beginnt sich zu schließen. Entweder siegt das Prinzip der Solidarität und der ökologischen Verantwortung ‒ oder aber wir erleben das Ende von allem, was auf dem Planeten noch an Zivilisation gibt.

Der zeitgleiche Sieg bei dem Volksentscheid für die Enteignung großer privater Wohnungsunternehmen (ab 3000 Wohnungen) mit 59,1 % der gültigen Stimmen dafür nach einer großartigen Kampagne an der Basis zeigt den Weg, der zu gehen ist.

Artikel für Gauche Anticapitaliste / SAP Antikapitalisten (Belgien)



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz