Am 19. Dezember haben Wissenschaftler:innen einen internationalen Aufruf für die konsequente Eindämmung der Covd-19 Pandemie in ganz Europa lanciert [1]. Die Gewerkschaften, emanzipatorischen Bewegungen und sozialistischen Organisationen sollten diesen Aufruf vorbehaltlos unterstützen und mit einem sozial-ökologischen Forderungsprogramm anreichern.
Christian Zeller
Die Autor:innen des Aufrufs stellen fest, dass die europäischen Regierungen es bislang nicht geschafft haben eine gemeinsame Vision im Umgang mit der Pandemie zu formulieren. Um die Pandemie wirksam zu bekämpfen, ist jedoch sofort eine gemeinsame europäische Strategie nötig. Nur so können die Grenzen offengehalten werden. Denn die Impfstoffe werden erst stark zeitverzögert wirklich helfen, das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen. Damit ist vor Ende 2021 nicht zu rechnen. Die Autor:innen formulieren ein klares unmittelbares gesellschaftliches Ziel: jede einzelne SARS-CoV-2-Ansteckung in Europa muss direkt nachvollziehbar sein. Um dieses Ziel zu erreichen, verlangen die Autor:innen die Umsetzung einer dreistufigen Strategie.
Erstens sind die Ansteckungen auf maximal 10 Covid-19-Fälle pro Million Menschen pro Tag zu reduzieren [entspricht einem Inzidenzwert von 7 Fällen pro 100 000 Einw. und Woche]. Hierzu braucht es entschlossenes Handeln und tiefgreifende Interventionen. Um einen Ping-Pong-Effekt zwischen den Ländern und Regionen zu vermeiden, müssen die Maßnahmen zur Reduktion der Fallzahlen in allen europäischen Ländern möglichst schnell und synchronisiert durchgesetzt werden.
Ist dieser erste Schritt erreicht, können zweitens die Beschränkungen sorgfältig gelockert werden. Die niedrigen Fallzahlen sind mit einer Kontrollstrategie – mindestens 300 Tests pro Million Einwohner:innen pro Tag – langfristig zu stabilisieren. Lokale Ausbrüche sind sofort energisch, nötigenfalls mit regionalen Absperrungen, einzudämmen.
Drittens ist eine gemeinsame langfristige Vision zu formulieren. Auf der Basis von europäischen Zielen sind kontextabhängige regionale und nationale Aktionspläne zu entwickeln. Diese beinhalten Screening- und Impfstrategien, Schutz von Risikogruppen und Unterstützung der Menschen, die besonders stark von der Pandemie betroffen sind.
Abbildung 1: Grafische Darstellung des durch die geforderten Maßnahmen erreichten Verlaufs der Ansteckungen (this work by Ewa Szczurek is licensed under CC BY 4.0) |
Dieses Ziel und die Strategie dieses Aufrufs sind aus einer ökosozialistischen und emanzipatorischen Perspektive vollumfänglich zu unterstützen. Warum ist eine derart massive Eindämmung der Pandemie auf nur noch ganz wenige Ansteckungen sinnvoll? Fünf Argumente:
Mit der zunehmenden Verbreitung eines Virus nimmt auch die Häufigkeit seiner Mutation zu. Nur mit einer möglichst geringen Anzahl von Ansteckungen sind Mutationen des Virus so niedrig zu halten, dass auch deren überraschende Konsequenzen gesellschaftlich angemessen kontrolliert werden können.
Die wiederholt propagierte Herdenimmunisierung ist menschenfeindlich und reaktionär. Die wissenschaftlichen Evidenzen sind erdrückend, dass eine solche Strategie bei SARS-CoV-2 in eine gesellschaftliche Katastrophe führen würde. Die Impfkampagnen werden erst mit starker Zeitverzögerung gegen Ende 2021 ihre Wirkung erzielen. Zudem werden die Impfungen geographisch und sozial sehr ungleich stattfinden und eine gigantische Gerechtigkeitslücke im Weltmaßstab aufreißen.
Der vielbeschworene Schutz der Risikogruppen ist eine Illusion. In den europäischen Ländern zählt rund ein Viertel der Menschen zu einer Risikogruppe oder steht in engem Kontakt mit risikobehafteten Menschen (hoher Anteil von Menschen mit als 65 Jahren, Beschäftigte im Gesundheitswesen und Pflegeheimen, Familienangehörige, Freund:innen etc.). Eine derart große Anzahl Menschen lässt sich nicht besonders schützen oder gar abschirmen. Der Verlauf der Pandemie und die Hilflosigkeit der Behörden offenbaren das sehr brutal. Zudem wäre es weder solidarisch noch sozial angemessen, sondern ausgesprochen selektierend Kranke und Alte einfach monate- oder gar jahrelang zu isolieren und vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen.
Nur eine massive Eindämmung der Pandemie auf ganz wenige Fälle ermöglicht es, zu verhindern, dass die Lasten und Folgekosten der Pandemie weitgehend auf die Lohnabhängigen, Unterklassen und Armen und hierbei besonders auf die Frauen abgewälzt werden. Die radikale Eindämmung der Pandemie muss ein zentrales Anliegen der Organisationen der Arbeiter:innenbewegungen, Frauenbewegung und antirassistischen Bewegung sein. Die Pandemie lässt die Klassenverhältnisse, Geschlechterverhältnisse und den Rassismus noch offener zu Tage treten.
Die Gesellschaften in den imperialistischen reichen Ländern sind in der Lage mit technischen und gesellschaftlichen Mitteln, mit Lock downs, Shut downs und gezielten Einschränkungen die Virusausbreitung einzudämmen. Dazu braucht es primär den gesellschaftlichen und politischen Willen. In den aufstrebenden und armen Ländern, besonders in den riesigen urbanen Großräumen, ist eine solche radikale Eindämmungsstrategie aufgrund der Armut, der konkreten Lebensbedingungen und der fehlenden Infrastruktur nahezu unmöglich. Darum haben die Gesellschaften in den reichen imperialistischen Ländern auch eine globale Verantwortung.
Es ist offensichtlich, dass die Kräfteverhältnisse nicht ausreichen, um diese Orientierung auf eine nahezu Ausmerzung der Virusausbreitung durchzusetzen. Dennoch ist sie in die gesellschaftliche Debatte zu bringen. Eine ökosozialistische Orientierung besteht ja gerade darin, die scheinbaren wirtschaftlichen Sachzwänge argumentativ zu durchbrechen und das gesellschaftlich scheinbar Unrealistische denkbar und realisierbar zu machen. Große Teile der Linken prangern zur Recht die autoritären Tendenzen der Pandemiepolitik der Regierungen an. Doch diese demokratische Argumentation macht nur dann Sinn, wenn man die fundamentale Herausforderung der Pandemie für die Gesundheit der Menschen anerkennt und zugleich das klare Ziel der radikalen Eindämmung der Ausbreitung des SARS-Cov-2 Virus formuliert und mitträgt. Nur auf die individuellen Freiheitsrechte zu pochen entspricht einem primitiven Liberalismus.
Mit dem oben erwähnten Aufruf mischen sich zahlreiche Naturwissenschaftler:innen aktiv in eine zentrale gesellschaftliche Debatte ein. Sie handeln damit unmittelbar politischer als Gewerkschaften und linke Parteien, die es nach fast einem Jahr Covid-19 Pandemie bis heute nicht geschafft haben, ein klares Ziel der Pandemiepolitik in Bezug auf die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus zu definieren. Für die Entwicklung gemeinsamer gesundheitspolitischer Initiativen ist es sinnvoll, den Dialog mit diesen Forscher:innen aufzunehmen. Einige von ihnen meldeten sich bereits im April und September mit wertvollen Stellungnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu Wort. [2]
Allerdings fehlen in diesem Aufruf zentrale gesellschaftliche und ökonomische Anliegen, die zu berücksichtigen sind, um diese Strategie zu einer solidarischen Strategie zu machen und um die Menschen von den erforderlichen Maßnahmen zu überzeugen. Die Pandemie betrifft die Menschen äußerst ungleich, weltweit und in jeder Gesellschaft. Die einschränkenden Maßnahmen der Regierungen verschärfen die soziale Ungleichheit und die soziale Diskriminierung. Die Pandemie offenbart das soziale Elend unserer Gesellschaften.
Die Regierungen verfolgen mit ihren bisherigen Maßnahmen zu allererst das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit und damit die Profitabilität der Unternehmen in den von ihnen als wichtig erachteten Wirtschaftssektoren zu verteidigen. Unausgesprochen haben die meisten europäischen Regierungen das verschwommene Ziel einer abgebremsten Herdenimmunisierung vor Augen. Damit nehmen die Regierungen bewusst den Tod mehrerer hunderttausend Menschen in Europa in Kauf. Die wirtschaftlichen Interessen gehen vor. Einige liberale Vertreter:innen der Kapitalinteressen sprechen diese „Güterabwägung“ ganz offen aus.
Die Regierungen ließen und lassen die Ausbreitung der Ansteckungen solange zu, bis das Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps steht. Dabei planen sie willentlich die physische und psychische Erschöpfung der Gesundheitsarbeiter:innen ein. Sie setzen darauf, dass eine massive Impfkampagne die Pandemie beenden werde. Doch das wird dauern und viele Menschen zeigen sich gegenüber der überhastet wirkenden Impfkampagne skeptisch. Zudem wurden die gegenwärtig in Zulassung befindlichen Impfstoffe vorerst nur darauf geprüft, ob sie die Erkrankung verhindern. Es ist bislang nicht bekannt, wie stark sie auch Ansteckungen verhindern.
Verena Kreilinger, Winfried Wolf und ich haben in unserem Buch Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie [3] bereits ausführlich das Scheitern der EU in der Pandemiebekämpfung beschrieben und eine solidarische gemeinsame Antwort eingefordert. Eine europäische Pandemiestrategie hat es nie gegeben. Das ist folgerichtig, weil die EU keine Solidargemeinschaft, sondern eine Institution zur Verschärfung der Konkurrenz ist. Daher sind auch in Zukunft von EU keine solidarischen Impulse zu erwarten.
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Schwerwiegend ist allerdings das Versagen der Gewerkschaften und sozialistischen Parteien, die eine solidarische europäische Pandemiestrategie nie auch nur ansatzweise vorgeschlagen haben. Schlimmer noch, weder die LINKE in Deutschland noch eine andere Linkspartei in Europa von Gewicht waren in der Lage ein klares Ziel zur Bekämpfung der Pandemie in ihrem eigenen Land zu formulieren. Warum konnte sich die Partei DIE LINKE nie dazu durchringen, klar und einfach zu fordern, dass die Ansteckungen sofort auf ein Maß zu reduzieren sind, damit jede einzelne Ansteckung wieder zurück verfolgbar ist? Das ist aber erforderlich, um die Gesundheit der Bevölkerung sicherzustellen. Warum ist die Arbeiter:innenbewegung nicht in der Lage, sich bedingungslos für die Gesundheit der Lohnabhängigen einzusetzen? Liegt das daran, dass sie sich den wirtschaftlichen Interessen der großen Unternehmen oder gewisser Teile der Wirtschaft unterordnen und befürchten, sie könnten die Lohnabhängigen nicht wirksam gegen Erpressungen durch die Unternehmen und gegen Entlassungen verteidigen?
Die Gewerkschaften, emanzipatorischen Bewegungen und sozialistischen Organisationen müssen sich vorbehaltlos hinter die hier vorgestellte internationale Initiative aus der Wissenschaft stellen und dabei selbstverständlich ein sozialökologisches Forderungsprogramm aufstellen. Dazu zählen:
Lock downs, Shut downs und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie müssen in einer solidarischen Weise alle Bereiche der Gesellschaft einbeziehen – Produktion, Transport, Konsum und Freizeit. Nicht unmittelbar gesellschaftlich notwendige Bereiche der Wirtschaft sind temporär nötigenfalls einzuschränken oder runterzufahren, sofern die Einschränkungen dazu beitragen, die Virusausbreitung rasch einzudämmen. Das gilt ganz besonders für Fleischfabriken, große Lager und alle Betriebe, in denen die Beschäftigten dicht nebeneinander arbeiten müssen.
Der gesamte Gesundheits- und Pflegebereich ist sofort und nachhaltig auszubauen und mit einer Ausweitung des Personalbestandes zu stärken. Die Löhne sind spürbar anzuheben.
Alle Privatisierungen im Gesundheits- und Pflegebereich sind sofort zu stoppen. Die Krankenhausfinanzierung über Fallpauschalen ist durch ein solidarisches und bedarfsgerechtes System zu ersetzen.
Es darf keine Rettungspakete für Unternehmen geben, die dazu beitragen gesellschaftlich und ökologisch unsinnige Bereiche aufrechtzuerhalten (bspw. in der Luftfahrt- und Automobilindustrie). Vielmehr ist ein sozial-ökologischer Umbaufonds einzurichten, um den industriellen Um- und Rückbau zu mitzufinanzieren.
Die Beschäftigten sind vor Kündigung zu schützen und die Arbeitslosenunterstützung ist auszubauen. Kulturschaffende und Kleinstunternehmen sind direkt zu unterstützen.
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Virusausbreitung treffen die ohnehin bereits benachteiligten Menschen am stärksten. Dieser Diskriminierung ist mit geeigneten Maßnahmen entgegenzutreten (Kleingruppen in Kindergärten, kleine Schulklassen, Öffnung leerstehender Hotels für Familien in kleinen Wohnungen und Flüchtlinge, etc., siehe auch Kreilinger, Wolf, Zeller 2020: S. 174ff und Kapitel 13).
Die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung sind gesellschaftlich solidarisch mit einer Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Einkommen und Unternehmensgewinne zu finanzieren.
Impfstoffe müssen ein globales öffentliches Gut für die gesamte Menschheit sein. Darum ist der Patentschutz aufzuheben. Die Menschen in den armen Ländern müssen das das gleiche Recht auf Impfung haben wir die Menschen in den reichen Zentrumsländern.
Die Gewerkschaften sollten umgehend in allen Betrieben unter Einhaltung der Pandemievorsorgemaßnahmen einen offenen Diskussionsprozess mit allen Beschäftigten initiieren, um gemeinsame Schritte „von unten“ gegen die Pandemie in den Betrieben, im öffentlichen Verkehr und am Wohnort zu konzipieren und durchzusetzen. Im Dialog mit den Initiativen aus der feministischen Bewegung, der Flüchtlingssolidarität, Mieter:innenbewegung und der Klimabewegung sowie den Initiativen aus der Wissenschaft lässt sich ein wirksames und solidarisches Programm zur Pandemiebekämpfung formulieren und verwirklichen. Die Regierungen schützen die Bevölkerung nicht, die Menschen müssen sich gemeinsam selber schützen, gegen die Pandemie und gegen die ungerechten Maßnahmen der Regierungen.
Christian Zeller, 21. Dezember 2020 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 1/2021 (Januar/Februar 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz