Europäische Union

Ein Kampf gegen Windmühlen

Wie auch andere internationale Institutionen wirkt die EU wie eine Kriegsmaschine gegen die Interessen der einfachen Bevölkerung. Die Fähigkeiten des linken Wahlbündnisses NUPES in Frankreich, hiergegen Widerstand zu leisten, sind denkbar gering.

Léon Crémieux

Bei den Parlamentswahlen wurde tunlichst jede politische Debatte vermieden, zumal Macron befürchten musste, dass eine öffentliche Konfrontation die Wähler*innen aus der einfachen Bevölkerung dazu bewegen könnte, zur Wahlurne zu gehen. Schließlich haben diese Menschen von der Politik der vergangenen Legislaturperiode die Nase voll und würden infolgedessen nach einer solchen Debatte vornehmlich die NUPES [1] wählen.

Trotz der Verweigerung einer öffentlichen Debatte hatte das linke Wahlbündnis fast die gesamten Medien gegen sich. Die NUPES galt als Inbegriff einer neuen roten Gefahr, die Frankreich ruinieren und ins Chaos stürzen würde. Neben allen Schmähungen stand besonders die Frage der Europäischen Union (EU) im Mittelpunkt, wobei der NUPES unterstellt wurde, die EU-Vorgaben kippen zu wollen und zugleich den Ungehorsam zum Programm zu erheben und damit zwangsläufig Sanktionen der EU und der Märkte heraufzubeschwören.


Tsipras als abschreckendes Beispiel


Insbesondere Geoffroy Roux de Bézieux und der Think Tank Terra Nova warfen der NUPES vor, die gleichen Fehler wie Tsipras 2015 zu machen. Wie Tsipras werde Mélenchon mit einer überzogenen Ausgabenpolitik, die Frankreich – so wie Griechenland – in eine abgrundtiefe Verschuldung und in den Bankrott treiben würde, von den Finanzmärkten sanktioniert werden: „...drei Jahre, die Griechenland an den Rand des Abgrunds gebracht haben. Sie erinnern sich an jene Nacht im Jahr 2015, als er zögerte, mit Griechenland Europa zu verlassen. [...] Die Folge war, dass der Mindestlohn um 50 % und die Renten um 30 % gesunken sind und das Renteneintrittsalter in Griechenland bei 67 Jahren liegt... Dies ist eine Wirtschaftspolitik jenseits aller Realität“, erklärte der Präsident des Unternehmerverbandes MEDEF am 8. Juni im Sender LCI unter Verdrehung aller Tatsachen.

In mehreren Gesprächen mit den Wirtschaftsexperten der NUPES argumentierte Guillaume Hannezo, der Berater von Mitterrand und Finanzdirektor von Vivendi war und Mitglied des PS-nahen Think Tanks Terra Nova ist, ebenfalls, dass die NUPES „vor derselben Wahl wie Tsipras stehen“ werde. Seiner Meinung nach werden die vorgesehenen unüberlegten Ausgaben zu mehr Schulden führen und die Kreditwürdigkeit untergraben, weswegen die Schulden nicht mehr auf den Finanzmärkten refinanziert werden könnten und höhere Zinssätze zu erwarten seien. Die Folge wäre, dass die NUPES sich einem noch härteren Sparprogramm unterwerfen müsse.

Interessanterweise übersehen diese beiden neoliberalen Kritiker in ihrer Argumentation in Bezug auf Griechenland ein und denselben wesentlichen Punkt. Im Grunde ist Tsipras nicht unter dem Druck der Märkte eingeknickt und es kam nicht mit seinem Amtsantritt im Jahr 2015 zu der abgrundtiefen Staatsverschuldung und Halbierung des Mindestlohns (der bereits 2012 unter der Rechtsregierung um 33 % gesunken ist). Die Renten waren schon zwischen 2010 und 2014 um fast 50 % gesenkt worden und 2014 verlangten die Gläubiger die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre. Die Ursache für die Verschuldung waren das Vorgehen von Goldman Sachs, die Spekulation der Banken mit der Schuldenkrise von 2009 bis 2015, die laxe Besteuerung und die Steuerflucht des griechischen Kapitals, die enormen Rüstungsausgaben (alles bereits vor der Regierung Tsipras), der spekulative Anstieg der Zinssätze und die beiden katastrophalen Memoranden, die dem Land durch die Troika 2010 und 2012 aufgezwungen worden waren.

Dass Tsipras eingeknickt ist, lag nicht an den Märkten, sondern an seiner Weigerung, sich mit den EU-Institutionen anzulegen, die Zahlung der Schulden auszusetzen, die Kontrolle über das Bankensystem einschließlich der Nationalbank zu übernehmen und (vor Juni 2015) eine Kapitalverkehrskontrolle zu verhängen.

Diese Fragen sind umso dringlicher, als gerade seit 2015 die anti-neoliberale und antikapitalistische Linke in Europa darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen eine Regierung, die mit der kapitalistischen Politik bricht, eine Politik im Sinne der Bevölkerungsmehrheit umsetzen könnte. Damit stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis zu den Institutionen der Europäischen Union – insbesondere der Kommission (also der EU-Regierung) und der Europäischen Zentralbank (EZB) – und der Rolle, die diese Institutionen für die Durchsetzung der kapitalistischen und neoliberalen Politik spielen. Diese Frage hatte sich bereits während der Kampagne 2017 von Jean-Luc Mélenchon um die Alternative Plan A oder Plan B gestellt und wurde wieder bei den letzten Wahlen aktuell und wird es natürlich auch in den kommenden Jahren bleiben.


Europa im Dienst des Kapitals


Insofern lohnt es sich, diese Debatte vor dem Hintergrund des Programms der Volksunion (Union Populaire), dem der NUPES und der Reaktionen, die diese Programme auf Seiten der Neoliberalen und der Sozialistischen Partei hervorrufen, zu führen.

Mit der Wende des Kapitalismus Anfang der 1980er Jahre hin zum Neoliberalismus und der Durchsetzung einer umfassenden Globalisierung, die einige Jahre später auch Russland und China in den Welthandel einbezog, konsolidierte sich der Aufbau der Europäischen Union. In diesem Rahmen haben die europäischen Kapitalisten eine Reihe von Strukturen und Regeln geschaffen, die nicht nur darauf abzielen, die Märkte zu öffnen, sondern auch Bestimmungen zum Schutz von Finanzinvestitionen und internationalen Konzernen durchzusetzen und sich gegen jede „heterodoxe“ Politik zu wappnen, die die kapitalistischen Interessen infrage stellen könnte.

Die Entwicklung in Europa in den 1990er Jahren (mit dem EU-Vertrag, dem Vertrag von Maastricht) ging einher mit der Gründung der WTO (im Gefolge des Multilateralen Investitionsabkommens und der GATT-Vereinbarungen), die die Staaten daran hindern sollte, sich in die freien Gesetze des internationalen Marktes einzumischen, und die es den Unternehmen ermöglichen sollte, sich über protektionistische oder soziale Gesetze hinwegzusetzen.

Gleichzeitig konnte infolge der Schuldenkrise einer Reihe von Ländern (die Kredite vom IWF und der Weltbank in Anspruch nahmen) eine neoliberale Strukturanpassungspolitik aufgezwungen werden.

Durch all diese Mechanismen sollte der Weltmarkt zu einem offenen, freien Raum für das Kapital gemacht werden, der jegliche Infragestellung der neoliberalen Politik verhindert.

Die Strukturierung und Festigung dieser Prinzipien innerhalb der Europäischen Union erfolgte mittels aller Verträge, die seit den 1990er Jahren (Maastricht und Lissabon) durchgesetzt wurden, sowie mithilfe des politischen Gewichts der Europäischen Kommission und der EZB, die mit der Unterstützung der politischen Säulen des kapitalistischen Europas alleinige Herrin der Einheitswährung ist.

Jeder Staat musste in seiner Verfassung den Vorrang der europäischen Regeln vor allen bisherigen und künftigen nationalen Vorschriften verankern. Dies ist der Sinn von Artikel 55 der französischen Verfassung, der eine Hierarchie der Normen festschreibt. Jedes europäische Gesetz, jede Richtlinie oder Verordnung ist in den Staaten der Union verbindlich. Das europäische Recht hat Vorrang vor jedem Element des französischen Rechts, das ihm widersprechen könnte.

Sinn und Zweck dieses Regelwerks der Europäischen Union ist eben, jede Möglichkeit zu unterbinden, sich dem „freien und unverfälschten Wettbewerb“ zu widersetzen, indem allen Regierungen der Europäischen Union de jure ein neoliberaler kapitalistischer Kurs aufgezwungen wurde.

Jede wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahme einer austeritätsfeindlichen Regierung kann also vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), aber auch in Frankreich vor dem Verfassungsrat und dem Verwaltungsgericht angefochten werden.


Die Illusionen der NUPES


In ihrem Programm stellt die Volksunion fest, dass zahlreiche Elemente ihres Programms unter diese Kriterien der „Illegalität“ fallen und zu Klagen und Verurteilungen durch den EuGH sowie zu Unterlassungsverfügungen der Kommission führen könnten: z. B. die Einführung einer Mehrwertsteuer von weniger als 5 % auf Grundversorgungsgüter, die Schaffung eines öffentlichen Monopols (Wasser, Energie, Medikamente, Krankenhaussystem) oder ein Haushaltsdefizit von mehr als 3 %. Hier ist die France Insoumise-Abgeordnete Manon Aubry jedoch der Ansicht, dass es bereits eine große Anzahl von Verstößen (900 registrierte) gibt und dass viele Spielräume bestehen. Zweifellos könnten auf Löhne und Sozialleistungen begrenzte soziale Maßnahmen von den europäischen Instanzen toleriert werden, wie es 2019 bei der portugiesischen SP-Regierung der Fall war, aber strukturelle Wirtschaftsmaßnahmen würden natürlich blockiert werden.

Während normalerweise EU-weite Vergeltungsmaßnahmen einige Zeit dauern können, liegt es auf der Hand, dass bei einer austeritätsfeindlichen Regierung sehr viel schneller und kompromissloser vorgegangen würde als dem Buchstaben nach vorgesehen. In jedem Fall belegt die lange Liste der Hindernisse, die in den Verträgen für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik im Interesse der Arbeiterklasse vorgesehen sind, wie die EU beschaffen ist, nämlich keineswegs als eine flexible Hülle, die die Umsetzung jeder demokratisch beschlossenen Politik im Rahmen der nationalen Souveränität ermöglicht. Eine „widerspenstige“ Politik würde umgehend eine Lawine juristischer Verfahren nach sich ziehen, die kaskadenförmig im französischen und europäischen Rahmen umgesetzt würden.

Die Führung von La France insoumise beruft sich auch auf das „Opt-out“, das es einem EU-Staat ermöglicht, von bestimmten gemeinsamen Bestimmungen abzuweichen. Beispiele dafür sind Dänemark – insbesondere bei der Währung und der europäischen Verteidigungspolitik – und Polen bei der Grundrechtecharta. Dies ist jedoch nicht kurzfristig und im Rahmen einer direkten Konfrontation mit den EU-Instanzen möglich, da der Mechanismus des Opt-out nur bei der Aushandlung oder Neuverhandlung der Verträge greift. Die bestehenden Opt-out-Regelungen basieren also nicht auf einer einseitigen Entscheidung, sondern wurden alle von den Mitgliedstaaten bei der Aushandlung der Verträge akzeptiert (Aushandlung und Unterzeichnung fallen in Frankreich beide unter das Vorrecht des Staatspräsidenten).

Das Programm der NUPES ist zwar weder antikapitalistisch noch revolutionär, erkennt aber an, dass man sich den EU-Regeln widersetzen und sie missachten muss, selbst dann schon, wenn es nur um eine keynesianische Nachfragepolitik geht. Bei dem detaillierten Programm der NUPES L‘Avenir en Commun fällt auf, dass es sich bei den wesentlichen wirtschaftlichen und sozialen, ökologischen und demokratischen Fragen auf die Debatten stützt, die in Frankreich und Europa in den sozialen Bewegungen geführt werden, etwa den Analysen von ATTAC, der Fondation Copernic oder CADTM (siehe insbesondere das gemeinsame Manifest von ReCommons von 2019).

Zwar ist das Programm der NUPES weit weniger radikal als das ReCommons-Manifest, was die Bedingungen einer Konfrontation mit der EU anlangt, aber diesbezüglich dennoch klarer als viele linke Programme in Europa (wie von Podemos oder DIE LINKE). Darin wird von vornherein die Frage des Ungehorsams gegenüber den Verträgen aufgeworfen, auch wenn La France insoumise die eindeutigen Aussagen über einen möglichen Bruch mit der EU und dem Euro, die noch im Plan B der Kampagne von Jean-Luc Mélenchon 2017 propagiert wurden, entschärft hat. Die Vorgehensweise gibt sich pädagogischer: „Die Europäische Union folgt nicht dem „Friss oder stirb“-Prinzip, sondern ist ein Rahmen mit variabler Geometrie, der Handlungsspielräume bietet, sofern man sich die Mittel verschafft, diese auch entsprechend zu nutzen“. Indem das Programm keine Aussagen über den Klassencharakter der EU liefert, stellt es ihre Institutionen als eine Art Arena dar, in der die Staaten gegeneinander um das Kräfteverhältnis ringen. Im Gegensatz zu vielen radikaleren Stellungnahmen der Gewerkschafts- und sozialen Bewegung unterschätzt das Programm die zentrale Bedeutung, die der EU-Aufbau für die kapitalistischen Großkonzerne einnimmt, und dass gegen die Austeritätspolitik nur wirksam gekämpft werden kann, wenn die Bevölkerung mobilisiert wird.


Am längeren Hebel


Die Erfahrungen in Griechenland, aber auch in Italien 2019, zeigen, dass die Sanktionen der Kommission und des EuGH die wichtigsten Instrumente sind, um widerspenstige Regierungen zum Einlenken zu bewegen, und dass die Ablehnung der Haushaltspläne durch die EZB mittels der Einflussnahme auf die Schuldenfinanzierung und die Zinssätze durchgesetzt wird.

Im Kapitalismus nimmt jeder Staat ständig Kredite auf, finanziert seine Schulden und den Handel. Da Staaten sich nicht direkt bei ihrer Nationalbank oder der EZB finanzieren dürfen, erfolgt dies – etwa in Frankreich – über die Ausgabe von Schatzanleihen, sogenannten Obligationen. Ein Staat wie Frankreich findet leicht Käufer für diese Vermögenswerte, die regelmäßig durch das Auflegen und den Verkauf weiterer Schuldscheine und Anleihen zurückgezahlt werden. Dies ist ein fortlaufender Prozess. Ein weiterer ständiger Prozess ist die Öffnung des Geldhahns der EZB, der den Banken stetig erlaubt, Geld für ihre täglichen Interbankenkredite und Kreditgeschäfte zu schöpfen. Diese Geschäftsbanken wiederum kaufen selbst u. a. von Staaten ausgegebene Vermögenswerte. Darüber hinaus werden die von den Geschäftsbanken bei der EZB aufgenommenen Kredite durch „Sicherheiten“ (d. h. durch die Garantie, die sich aus der Qualität der Finanzanlagen, die diese Bank bei der EZB besitzt, ergibt) unterlegt.

Die gesamte Finanzarchitektur, das gesamte europäische Bankensystem beruht also auf der alleinigen Macht der EZB, die Ausgabe von Geld zu genehmigen und die Finanzstabilität zu kontrollieren, und auf dem Vertrauen zwischen den kapitalistischen Banken. Die Zinssätze, die ein Staat für die Ausgabe seiner Vermögenswerte erzielen kann, hängen daher direkt von diesem Vertrauen und vor allem von der Garantie ab, die die EZB gibt. Ein Staat kann Anleihen und Schatzanweisungen ausgeben und auf den Markt bringen, aber ihr „Wert“, nämlich die Zinssätze, zu denen sie ausgegeben werden, hängt von der Bewertung durch die Ratingagenturen ab. Eine Ablehnung der von Frankreich vorgelegten Haushaltspläne durch die EZB und die EU-Finanzausschüsse würde automatisch zu einer deutlichen Verschlechterung dieses Rating und damit zu höheren Zinssätzen führen.

Der Maßnahmenkatalog, der gegenüber einer „heterodoxen“ Politik sofort eingeleitet würde, wäre das Aus für diese von der EZB gewährleisteten Garantie, was die Finanzierung der französischen Banken und die Bereitstellung von Bargeld (die Banknoten kommen aus den Druckereien des Euroraums und die Banque de France sorgt ‒ unter Kontrolle – für die Herstellung der Münzen) erschweren könnte. Ausschlaggebend für die dann entstehenden Risiken in solchen Szenarien ist also der Wegfall der Garantie seitens der EZB als der alleinigen Herrscherin über die Währung, was in diesem Fall natürlich durch die Kapitalflucht noch verschärft wird.

La France insoumise argumentiert immer noch mit der Illusion, dass sich die europäischen Spitzen eine Konfrontation mit der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der EU nicht leisten könnten. Aber eine austeritätsfeindliche Regierung könnte in Frankreich natürlich nicht auf die geringste Solidarität der Kapitalist*innen, Aktionäre und Privatbanken gegenüber der EU zählen. Es wäre also nicht „Frankreich“ als solches, das mit seiner Wirtschafts- und Finanzkraft den Clinch mit der EU-Kommission austragen würde. Eine Regierungsübernahme bedeutet nicht, die Macht über den Wirtschafts- und Finanzapparat des Landes zu haben. Wenn eine solche Regierung nicht sofort die Kontrolle über die wirtschaftlichen Hebel übernimmt, hätte sie nicht nur die europäischen Institutionen gegen sich, sondern auch alle französischen Kapitalist*innen, die im Übrigen als erstes ihre Guthaben außerhalb des Landes schaffen würden (80 Milliarden Euro sind nach 2010 aus den griechischen Banken abgeflossen).

Bereits 1981 kam es unmittelbar nach der Wahl Mitterrands zu einer massiven Kapitalflucht und einer massiven Abwertung des Franc, der im Rahmen des Europäischen Währungssystems bereits an die D-Mark angebunden war. Auch wurde das Verstaatlichungsgesetz der Regierung Mauroy von 1982 (36 Banken und zwei Holdings sowie fünf Industriekonzerne) vom Verfassungsrat kassiert, um eine fette Entschädigung für die Aktionäre durchzusetzen. Mitterrand hat sich daraufhin sehr schnell für den Verbleib im europäischen Währungssystem entschieden und damit das sozialpolitische Programm geopfert, auf dessen Grundlage er gewählt worden war. Damals hatte die französische Regierung notabene noch die Kontrolle über ihre Zentralbank.


Wer sich nicht Gefahr begibt, …


Dafür muss natürlich eine Regierung, die eine antikapitalistische Politik betreiben möchte, sich gegen dieses Risiko absichern und daher die Kontrolle über das Bankensystem ‒ insbesondere über die Nationalbank ‒ und über die Kapitalbewegungen übernehmen. In jedem Fall muss sie eine Währungssouveränität durchsetzen und so verhindern, dass sie von der EZB erstickt wird.

Die Positionen der NUPES bilden keinen Schutz gegen die Macht der Kapitalisten. Zwar tritt FI in ihrem Programm für die Schaffung eines öffentlichen Bankenpols ein, lässt jedoch die Verstaatlichung des Bankensystems und die Wiedererlangung der Kontrolle über die Banque de France komplett außen vor. Zudem haben ihre Verbündeten in der NUPES, PS wie EELV [2] (deren Führungen die Unterzeichnung aller EU-Verträge mitgetragen haben), deutlich zu verstehen gegeben, dass sie jede Konfrontation mit der EU und auch die geringste Verstaatlichung der Banken ablehnen. Darüber hinaus ist von der Frage des Euro und einer komplementären oder alternativen Währung, die 2015 noch in den Positionen der FI vertreten war, 2022 überhaupt nicht mehr die Rede, nicht im Programm der FI und natürlich noch weniger im Programm der NUPES.

Zur Frage der Staatsschulden, die zu etwa 30 % von der EZB gehalten werden, drückt sich das Programm um eine mögliche Aussetzung der Schuldenrückzahlung und thematisiert lediglich einen freiwilligen Schuldenerlass durch die EZB. Die Gruppe der NUPES-Ökonomen geht in ihrer Antwort auf Terra Nova sogar so weit: „Terra Nova kann beruhigt sein, wir wollen nicht die Zahlungen einstellen, sondern lediglich aufzeigen, dass eine französische Regierung, die mit der Austeritätspolitik brechen möchte, die gesamte EU infrage stellen würde. Wer hätte ein Interesse daran? ... Aber warum sollte man in der gegenwärtigen Situation in Zahlungsverzug geraten, wenn unsere Berechnungen zeigen, dass die geplanten Ausgaben zu höheren Einnahmen führen und die effektiven Zinssätze negativ sind?“

Solche Loyalitätsbekundungen zeugen nicht gerade davon, dass die FI-Parlamentsfraktion in der Lage sein wird, den Erpressungen der Kommission und der EZB zu widerstehen. Darüber hinaus beruht die Argumentation der FI immer noch auf der Vorstellung, dass die EU es nicht mit der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Union aufnehmen könnte. Natürlich würden die EU und die EZB nicht versuchen, die französischen Großbanken, die zu den Säulen des europäischen Bankensystems gehören, in den Bankrott zu treiben, zumal diese eine austeritätsfeindliche Regierung in der Konfrontation mit der EU keineswegs unterstützen, sondern sich – so wie in Frankreich das Verwaltungsgericht und der Verfassungsrat – auf die Seite der europäischen Kapitalist*innen schlagen würden.

      
Mehr dazu
NPA – Nouveau Parti Anticapitaliste: Für eine allgemeine Mobilisierung, um Macron durch Stimmen für NUPES zu schlagen, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022) (nur online)
Erklärung des Büros der Vierten Internationale: Nach den Europawahlen, die internationale Nr. 4/2019 (Juli/August 2019)
Eric Toussaint: Die Herausforderungen für die Linke in Europa, die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018). Bei intersoz.org
Lehren aus Griechenland mit 10 Vorschlägen, intersoz.org (8.5.2017)
Büro der Vierten Internationale: Brexit: Für Einheit und Solidarität in Europa, gegen Rassismus und Sozialdumping, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016)
Léon Crémieux: Tsipras beugt sich der Arroganz der Troika, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online)
 

Auch wenn diese überschaubare Debatte über die EU und ihre Institutionen kein großes Medienecho findet, werden diese Fragen in Frankreich immerhin wieder ins Licht gerückt. Dabei wird umso deutlicher, dass der Krise angesichts der kapitalistischen Wirkmechanismen nicht mit einem bloßen Regierungsprogramm begegnet werden kann. Immerhin hat die Gründung der NUPES dazu geführt, dass eine politische Debatte, die bislang ausschließlich von der Rechten und der extremen Rechten dominiert worden ist, wieder von links aufgegriffen wird.

Wesentlich dabei – und dies ist ein weiterer blinder Fleck in den Positionen der NUPES – ist jedoch die Frage der sozialen Bewegung und der Mobilisierung der Bevölkerung. Auch wenn sich viele Aktivist*innen der sozialen Bewegungen mit dem Wahlkampf der NUPES identifiziert und engagiert haben, geht es dabei doch um die autonome Mobilisierung dieser sozialen Bewegungen, wenn man sich politisch für die Interessen der Arbeiter*innenklasse einsetzen will. Nur so kann man die notwendigen politischen Entscheidungen durchsetzen und auf Augenhöhe dem Kapital gegenübertreten. Zwar verfügen die europäischen Institutionen über alle Mittel zur Blockade, aber das Haupthindernis sind natürlich die kapitalistischen Konzerne in Frankreich und die französische Bourgeoisie mit all ihren materiellen, politischen und medialen Mitteln.

Umso wichtiger ist, dass eine solche Regierung und eine Bewegung zur Mobilisierung der Bevölkerung in Frankreich einen Ansatz auf internationaler und insbesondere europäischer Ebene verfolgen, um so einen solidarischen und internationalistischen Impetus zu erzeugen und den Druck zu erhöhen, der für das erforderliche Kräfteverhältnis sorgen kann

Die in der Wahlkampagne aufgeflammte Begeisterung wird schnell nachlassen, wenn die Organisationen und Aktivist*innen der politischen und sozialen Bewegung nicht auf nationaler und lokaler Ebene das Heft in die Hand nehmen, um den politischen Druck auf Macron aufrechtzuerhalten. Dabei können sie sich auch auf die Erfahrungen stützen, die es in einzelnen Städten mit den „offenen Volksparlamenten“ gegeben hat.

Aus: l’anticapitaliste la revue, Monatszeitschrift des Nouveau parti anticapitaliste (NPA) vom Juni 2022
Übersetzung: Miwe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Nouvelle union populaire écologique et sociale (Neue ökologische und soziale Volksunion)

[2] PS: Sozialistische Partei; EELV: Europe Écologie les Verts (Europa Ökologie die Grünen)