Verschiedentlich entstand in den letzten zwei Jahren der Eindruck, als könnte die allgemeine Gefahr eines Dritten Weltkriegs kurzfristig reale Gestalt annehmen. Oberflächliche Kommentatoren haben des Öfteren diesen Schluß gezogen. Vor allem in gewissen intellektuellen Kreisen hat sich sogar Panik breitgemacht. Davon wurde auch die mächtige und verheißungsvolle Antikriegsbewegung − wenigstens zum Teil − angesteckt, die sich gegenwärtig in den kapitalistischen Ländern entwickelt.
Ernest Mandel
Eine unüberschaubare Zahl von Büchern ist diesem Dritten Weltkrieg, der schon begonnen habe, der gerade im Gange sei, ja der sogar vor seinem Abschluß stehe, gewidmet. [1]
Für diese Welle der Panik gibt es zweifelsohne in den politischen Ereignissen selbst eine Reihe von ernstzunehmenden Gründen. Hat es im Juni 1982 nicht gleichzeitig ein Wiederaufflackern des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak gegeben, den Krieg um die Malwinen, die Vorbereitungen der Invasion des Libanon durch Israel, eine Erweiterung der ausländischen Intervention in den Bürgerkrieg in EI Salvador, ohne von den mehr oder weniger vergessenen „kleinen Kriegen“ etwa im Tschad, in Eritrea, in Namibia, in der Westsahara zu reden, ohne den Bürgerkrieg im Jemen, den niemals erloschenen Bürgerkrieg in Angola und in Mozambique zu erwähnen − und selbst diese Liste ist noch unvollständig … Von da aus ist es nur ein Schritt zur Schlußfolgerung, der Krieg sei dabei, sich auf den ganzen Planeten auszuweiten, einen Schritt, den viele gegangen sind, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, was diese ungerechtfertigte Schlußfolgerung bedeutete. Da es sich um eine Frage von grundlegender Bedeutung handelt, darf man sich weder von Panik noch Euphorie hinreißen lassen, die beide gleich unverantwortlich sind angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, nämlich buchstäblich das nackte Überleben des Menschengeschlechts.
Mehr als je zuvor ist der Imperialismus entschlossen, seine konterrevolutionäre Gewalt jedem Voranschreiten der Revolution auf der Welt entgegenzustellen. Diese konterrevolutionäre Gewalt erfolgt in Form von systematischen bewaffneten Interventionen, die sich manchmal als „Unterstützung“ eines der am Bürgerkrieg beteiligten Lager tarnen, aber bei anderer Gelegenheit auch klar die Form einer ausländischen massiven Intervention annehmen.
Da das imperialistische Weltsystem von einer tiefen Verfallskrise heimgesucht wird, da revolutionäre Herde unaufhörlich seit mehr als einem halben Jahrhundert aufflackern, kommt die hauptsächliche Kriegsgefahr aus den zunehmenden ausländischen Interventionen gegen Revolutionen, die gerade im Gange sind. Im Verlaufe der letzten Jahrzehnte war die große Mehrzahl der Kriege solcher Art. Das Gleiche gilt heute und wird in Zukunft auch nicht anders sein.
Es handelt sich also keineswegs um eine neue Erscheinung. Denn tatsächlich hat sich seit der Intervention gegen Sowjetrussland 1918–22 jede siegreiche Revolution und jeder Schritt hin zu wichtigen Siegen gegen einen konterrevolutionären Krieg von außen wehren müssen. Die wichtigsten seien hier aufgezählt: die Intervention des deutschen Imperialismus gegen die finnische Revolution 1918, die Intervention der Entente (Frankreich, Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien) − wobei Rumänien als Speerspitze gebraucht wurde − gegen die ungarische Sowjetrepublik von Bela Kun 1919, die Intervention Hitlers und Mussolinis gegen die spanische Revolution 1936–37, die britische und amerikanische Intervention gegen die griechische Revolution 1944–49, die imperialistische Intervention gegen die dritte chinesische Revolution 1946–49, der erste Indochinakrieg 1945–54, die imperialistische Intervention gegen die koreanische und die chinesische Revolution 1950–53, der imperialistische Krieg gegen die algerische Revolution 1954–62, die imperialistische Intervention gegen den Krieg in Malaysia 1948–60 und in Kenia 1952, die imperialistische Intervention gegen die Revolution in Angola 1961, Mozambique 1964 und Guinea-Bissau 1971, die imperialistisch-zionistischen Interventionen gegen Ägypten 1956 und 1967 sowie die verschiedenen imperialistischen Interventionen gegen die palästinensische Revolution (1969, 1970, 1975, 1976, 1978, 1981, 1982).
Einige von diesen Kriegen hatten einen weit über den Malwinenkrieg oder die gegenwärtig stattfindende imperialistische Intervention in Mittelamerika hinausgehenden Umfang. Wir wollen nur den ersten Indochinakrieg, den israelischen Angriff und die gleichzeitige französisch-britische Intervention am Suez-Kanal, den Algerienkrieg und schließlich den zweiten Indochinakrieg erwähnen, in die Hunderttausende von Soldaten imperialistischer Länder verwickelt waren.
Diese begrenzten konterrevolutionären Kriege stellen also keine Neuheit dar. Sie sind vielmehr die Regel. Neu war hingegen die Ausnahme, wie sie die nicaraguanische und iranische Revolution darstellen, gegen die zu intervenieren, wenigstens zum Zeitpunkt des Sturzes von Somoza und des Schahs, sich der Imperialismus politisch (nicht materiell oder militärisch!) außerstande sah − und zwar aufgrund der Auswirkungen der in Indochina 1975 erlittenen Niederlage.
Schon damals schätzte die IV. Internationale jene Lähmung als kurzzeitig ein. Sowohl die auf dem XI. Weltkongress 1979 angenommene wie auch die vom Internationalen Exekutivkomitee im Mai 1981 verabschiedete Resolution zeigen korrekt, daß der Imperialismus auf dem Wege war, sich die Mittel zum konterrevolutionären Eingreifen gegen laufende Revolutionen oder neue antiimperialistische Initiativen wieder zu verschaffen, etwa durch den Aufbau der amerikanischen Schnellen Eingreiftruppe (RDF). Diese Einschätzung hat sich seither bestätigt.
Der Krieg um die Malwinen, die Invasion im Libanon, die imperialistische Intervention in Mittelamerika und in komplexerer Weise auch der Krieg Iran – Irak bedeuten deshalb überhaupt keine „neue internationale Situation“ und führen uns auch nicht an die Schwelle des Dritten Weltkrieges, sondern stellen die „Rückkehr zur Norm“ dar, also den systematischen und konzentrierten Versuch des Imperialismus, seine konterrevolutionäre Gewalt jedem neuen Fortschritt der Revolution entgegenzustellen, eine seit etwa 65 Jahren immer wieder bestätigte Norm.
Von dieser praktisch ununterbrochenen Kette von lokalen Kriegen, die wir in der ganzen von der Russischen Revolution eröffneten geschichtlichen Periode wiederfinden − und die die Unfähigkeit des Imperialismus beweisen, der Menschheit Frieden zu sichern, einer der wichtigsten Gründe, sich dieses System vom Halse zu schaffen, das aus allen Poren Gewalt absondert − muß man die beiden 1914 und 1939 ausgebrochenen Weltkriege unterscheiden. Und noch mehr natürlich einen Dritten Weltkrieg.
Die Unterschiede sind nicht nur quantitativer, sie sind qualitativer Natur. Im Unterschied zu den „lokalen“ konterrevolutionären Kriegen waren in die Weltkriege Dutzende, ja Hunderte von Millionen Menschen verwickelt. Sie verursachten eine entsprechende Zahl von Toten und materiellen Schäden und veränderten das Funktionieren der Weltwirtschaft von Grund auf. Sie bewirkten einen starken Verlust an Produktivkräften und an angehäuftem Reichtum der Menschheit und verschlechterten dadurch die Ausgangsbedingungen für eine sozialistische Umgestaltung der Welt. Dies zu sagen, bedeutet keine Annäherung an den „Pazifismus“, sondern stellt nur die verheerenden Auswirkungen der Weltkriege fest. Rufen wir uns diesbezüglich das Urteil der Komintern vom 6. März 1919 in Erinnerung:
„Europa ist von Trümmern und rauchenden Ruinen übersät … Die Widersprüche des kapitalistischen Regiments haben sich im Gefolge des Krieges für die Menschheit in Gestalt körperlicher Leiden gezeigt: Hunger, Frieren, Epidemien und Wiedereinbruch der Barbarei … Es handelt sich jetzt nicht nur um soziale Verelendung, sondern um physiologische und biologische Verarmung, was sich uns in seiner hässlichen Wirklichkeit darstellt.“ („Manifest des 1. Kongresses der Kommunistischen Internationale an die Proletarier der ganzen Welt“.)
Es stimmt, daß „lokale“ konterrevolutionäre Kriege in einem Lande die gleichen Auswirkungen haben können. Es genügt, an die schrecklichen Folgen zu denken, die von den in Kambodscha durch den Imperialismus verursachten Zerstörungen ausgingen (von März bis August 1973 wurden sechs Monate lang alle Gebiete mit dichter Bevölkerung durch die gesamte in Indochina stationierte US-Luftwaffe bombardiert). Aber aus materialistischer Sicht ist es doch ein großer Unterschied, ob es sich um ein Land (oder einige wenige) handelt, das in die „Steinzeit zurückgebombt“ wird, wo die Möglichkeit besteht, daß der Produktionsausfall vom Rest der Welt rasch kompensiert wird, oder ob es die ganze Menschheit ist (oder deren große Mehrheit), die in die Barbarei zurückgetrieben wird, ohne daß noch Reserven bestehen, die eine baldige Überwindung des Elends erlauben.
Dieser Unterschied zwischen „lokalen“ konterrevolutionären Kriegen und einem Weltkrieg wurzelt in den verschiedenen objektiven Gründen für die beiden Erscheinungen. „Lokale“ konterrevolutionäre Kriege sind konjunkturelle Antworten auf Teilfortschritte der Revolution. Der Weltkrieg entsteht aus der strukturellen Krise des Systems, gewissermaßen stellt er die letzte Zuflucht gegen die Strukturkrise dar.
Sicherlich muß man bei dieser Unterscheidung nuancieren. Wenn es immer wieder Fortschritte der Revolution gibt, und seien es auch nur Teilfortschritte, so sind diese selbst Ausdruck derselben strukturellen Krise des Systems, die schließlich den Weltkrieg hervorbringt. Aber wenn man beim qualitativen Unterschied auch abstufen muß, so bleibt er doch groß genug. Die „lokalen“ konterrevolutionären Kriege können mit „friedlichen Aufstiegsphasen der kapitalistischen Wirtschaft“ zusammenfallen, und das war oft genug auch der Fall. Ein Weltkrieg entsteht nur, wenn eine schwere wirtschaftliche Depression für lange Zeit jeden neuen friedlichen Aufschwung der internationalen kapitalistischen Wirtschaft zu blockieren scheint. Vor allem stellen die „lokalen“ konterrevolutionären Kriege Antworten auf Teilfortschritte der Revolution dar, welche mit aufsteigenden Massenbewegungen zusammenfallen können und im Allgemeinen auch zusammenfallen. Diese bremsen, ja lähmen den Marsch des Imperialismus in den Krieg.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hingegen drückte auf synthetische Weise eine Niederlage aus oder eine Reihe so schwerer Niederlagen der Massenbewegung in den Schlüsselländern des Klassenkampfes, daß wegen der zeitweiligen Lähmung des Proletariats dieses den Kriegsgelüsten der Bourgeoisie nicht entgegentreten konnte. Mit anderen Worten, „lokale“ konterrevolutionäre Kriege begleiten Fortschritte oder Teilfortschritte der Weltrevolution. Hingegen drückte der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine schwere historische Niederlage dieser Revolution aus.
Die Bedeutung dieser Unterscheidung wird noch dadurch unterstrichen, daß der Dritte Weltkrieg aller Voraussicht nach ein Atomkrieg sein würde. Umso wichtiger, daß man den Unterschied macht.
Es wäre absurd und würde den Grundprinzipien des historischen Materialismus zuwiderlaufen, wenn man behauptet, die Ansammlung eines Atomwaffenpotentials, das die ganze Menschheit zwanzigmal [2] auszulöschen in der Lage ist, würde nichts „Grundlegendes“ an der „Natur des Weltkrieges“ ändern oder dieser würde dem Weltproletariat oder den Revolutionären die „gleichen strategischen und taktischen Probleme“ stellen wie der Erste und der Zweite Weltkrieg.
Um eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen, braucht es beträchtliche menschliche und technische Produktivkräfte. Aus der atomaren Asche wird sich nicht der Sozialismus erheben, sondern ein von Gräsern und Insekten beherrschter Planet. [3] Oder vielleicht im günstigsten Fall eine barbarische Menschengesellschaft, auf deren Grundlage die Überlebenden der atomaren Massenvernichtung einen langwierigen und schwierigen Neubeginn versuchen könnten. Der Sozialismus wäre jedenfalls für eine lange Periode nicht mehr möglich; man kann natürlich davon ausgehen − nach unserer Meinung zu Unrecht – daß all dies bereits unausweichlich geworden ist. Aber es ist schwerlich einzusehen, was besonders „revolutionär“ daran ist, wenn man den Sozialismus durch ein anderes Gesellschaftskonzept aufgrund der Annahme ersetzt, die materiellen Grundlagen des Sozialismus seien zum Verschwinden verurteilt, wenn man also von der Unvermeidlichkeit der atomaren Massenvernichtung ausgeht.
Daraus folgt, daß es das strategische Ziel der Arbeiter − und der weltweiten revolutionären Bewegung – sein muß, einen atomaren Weltkrieg zu verhindern und nicht, ihn zu gewinnen (was immer der verrückte Inhalt jener letzten Formel auch sein mag). Oder drücken wir dieses Ziel noch deutlicher aus: Wir müssen alles tun, damit der Fortschritt der Weltrevolution − obwohl er die „lokalen“ konterrevolutionären Interventionen des Imperialismus nicht wird verhindern können (denn dies ist utopisch, solange der Imperialismus seine politische Macht und seine materielle und militärische Stärke in den Schlüsselländern behält) − in steigendem Maße die Interventionsmöglichkeiten des Imperialismus mit Atomwaffen lähmt und so nach und nach durch den Sturz seiner politischen Macht auch zur atomaren Entmachtung führt. Wie es bereits in zahlreichen Dokumenten der IV. Internationale dargelegt wurde, ist diese Abrüstung nur im Innern der imperialistischen Festungen, die über Atomwaffen verfügen, durchsetzbar und nicht von außen. [4] Nur das nordamerikanische, französische, britische, westdeutsche und japanische Proletariat kann die Atomwaffen entschärfen, ihren Einsatz ein für alle Mal unterbinden und sie ein für alle Mal von der Erde verbannen (mit Unterstützung des sowjetischen und chinesischen Proletariats). Alles andere läuft darauf hinaus, an ein Wunder zu glauben, auf das man lange warten kann, nämlich daß die Imperialisten schließlich weise genug sind, oder zu ängstlich oder demoralisiert, jene Verzweiflungswaffen nicht einzusetzen, selbst wenn sie die Macht behalten, es zu tun.
Auf den ersten Blick könnte man einen Widerspruch finden zwischen der Tatsache, daß wir die Unvermeidlichkeit von „begrenzten“ konterrevolutionären Kriegen unterstreichen und gleichzeitig die Notwendigkeit und Möglichkeit betonen, einen atomaren Weltkrieg zu verhindern. Entwickeln sich erstere nicht Schritt für Schritt und gleichsam unmerklich zum zweiten? Gibt es nicht die reale Gefahr, daß „taktische“ Atomwaffen eines Tages gegen das Voranschreiten der Revolution eingesetzt werden, entweder vom Imperialismus direkt oder aber von einem seiner besonders „motivierten“ Verbündeten (etwa den zionistischen Extremisten im Vorderen Orient oder den radikalen Verfechtern der Apartheid in Südafrika)? Läuft nicht jede Ausweitung von „lokalen“ Kriegen Gefahr, einen allgemeinen Zusammenstoß vom Zaun zu brechen, der zum atomaren Weltkrieg führen kann?
In diesen Einwänden steckt ein Körnchen Wahrheit, aber eben nur ein Körnchen. Es beinhaltet, daß die Gefahr eines Atomkrieges in dem Maße steigt, wie das atomare Arsenal zunimmt und die „lokalen“ Konflikte sich ausweiten. Aber man gerät von der Dialektik in die Spitzfindigkeit, wenn man aus der Feststellung, daß die Gefahr eines Atomkrieges größer wurde, die Schlußfolgerung zieht, dessen Ausbruch sei bereits unvermeidlich geworden.
Es ist gerade die Eigenart dieser Atomwaffen, die uns mit dem Kopf auf jenen entscheidenden Unterschied stößt: Solange der Imperialismus überlebt, sind lokale Kriege und die Gefahr eines Atomkrieges unvermeidlich; der Atomkrieg selbst aber ist es nicht.
Tatsache ist, daß − obwohl seit dreißig Jahren ein immer schrecklicheres Arsenal an Atomwaffen angehäuft worden ist − dieses bislang nicht eingesetzt wurde, während sich die „lokalen” Kriege vervielfacht haben und immer mehr ausgeklügelte und mörderischere „klassische“ Waffen Anwendung finden. Der Grund für diesen Unterschied scheint uns klar: Diejenigen, welche Atomwaffen besitzen und über Ihren Einsatz entscheiden, wissen genau um deren selbstmörderischen Charakter für die Menschheit. Das große Publikum kann man mit monströsen Erzählungen über die Atomkriege, „die nur einige hundert Millionen Tote kosten” (sic), und Behauptungen, daß „diejenigen, welche Schutzbunker haben, überleben werden”, zum Narren halten. Aber die Mächtigen dieser Welt sind so blöde nicht.
Es stimmt, daß ein besonders „rationaler” Aspekt des verrückten atomaren Rüstungswettlaufs in der fieberhaften Suche nach so „kleinen” und „sauberen” Atomwaffen liegt, daß ihre „taktische” Anwendung in „begrenzten” Konflikten möglich wird, ohne automatisch einen atomaren Weltkrieg auszulösen. Ohne daß man diese Hypothese von vornherein ausschließen kann, lässt sich jedoch sagen, daß sie sehr unwahrscheinlich ist, und daß sie in jedem Fall zu schrecklichen Kosten an Menschenleben und Material führen würde.
Das bedeutet in aller Klarheit, daß bislang die Menschheit vor einer atomaren Massenvernichtung deshalb bewahrt wurde, weil die Sowjetunion Atomwaffen herstellte und zur Verfügung hatte. Ohne jenes „Gleichgewicht des Schreckens“, soviel steht fest, hätte mit ziemlicher Sicherheit der Imperialismus die Atomwaffe bereits gegen die „chinesischen Freiwilligen” im Koreakrieg eingesetzt, [5] vielleicht auch gegen andere Revolutionen.
Friedensdemonstration Bonn am 10.06.1982 - Blick auf die Rheinauen Foto: Mummelgrummel |
Trotz der totalitären und konterrevolutionären Diktatur der sowjetischen Bürokratie, die zu einem großen Teil für das Überleben des Imperialismus im Weltmaßstab (und damit indirekt für das Bestehen der atomaren Bedrohung) verantwortlich ist, behält die Existenz des sowjetischen Arbeiterstaats als eines seiner Natur nach von den imperialistischen Staaten verschiedenen Staates, als Staat einer Gesellschaft, die durch keine höllische Logik auf den Weg der atomaren Massenvernichtung getrieben wird, einmal mehr ihre ganze widersprüchliche Bedeutung in der heutigen Welt. Sie bestätigt nochmals die marxistische Analyse, selbst wenn das jenen missfällt, die oberflächlich und leichtfertig behaupten, er habe die gleiche gesellschaftliche Natur wie die Vereinigten Staaten.
Wenn wir sagen, daß bislang das „Gleichgewicht des Schreckens“ tatsächlich den Ausbruch eines atomaren Weltkrieges verhindert hat, dann ist dies keine Meinung, die auf einem naiven Glauben an die „menschliche Vernunft“ gründet. Wir haben zu oft den überaus unvernünftigen Charakter des Spätkapitalismus angeprangert, um uns einen solchen Vorwurf zuzuziehen. [6] Wir gründen unsere Meinung auf etwas viel Grundlegenderes als die Vernunft: auf den Instinkt der Selbsterhaltung im physischen Sinne der besitzenden Klassen und besonders ihrer mächtigen Vertreter in den Reihen des Finanzkapitals, des militärisch-industriellen Komplexes und ihrer politischen Führer. Diese Leute stellen die reichste herrschende Klasse dar, die die Welt je gesehen hat. Sich vorzustellen, sie wären bereit, all ihren Reichtum, all ihre Freuden, all ihre Macht zu irgendwelchem Zeitpunkt und unter beliebigen Bedingungen auf dem Altar abstrakter Ideen oder „absoluter“ Prinzipien wie dem „Antikommunismus“, der „Verteidigung der Marktwirtschaft“ (genannt „Verteidigung der Freiheit“) oder dem „Haß auf die Revolution“ zu opfern, hieße, sich grundlegend über Beweggründe und Verhalten dieser Klasse zu täuschen.
Was man von Zeit zu Zeit erleben kann, ist eine atomare Erpressung, die darauf abzielt, das Kräfteverhältnis innerhalb des „Gleichgewichtes des Schreckens“ etwas zu verschieben. Doch dies ist etwas anderes als ein selbstmörderischer Versuch, Atomwaffen zu benutzen, um im Osten den Kapitalismus wieder einzuführen oder um auf Weltebene das Kräfteverhältnis zwischen der Gesamtheit der imperialistischen Kräfte einerseits und der der nichtkapitalistischen Kräfte auf der anderen Seite (darunter die Sowjetunion und China) zu ändern.
Im Übrigen handelt es sich um das dritte Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges, daß der Imperialismus einen derartigen verschärften atomaren Rüstungswettlauf startet. Erstmals hat er das während des Koreakrieges getan (1950–53). Dann zum zweiten Mal Anfang der sechziger Jahre. Zum dritten Mal geschah dies Ende der 1970er Jahre. Jeder dieser Wettläufe hat schließlich zu einem neuen „Entspannung“-Versuch geführt, also zu einer Betätigung des „Gleichgewichtes des Schreckens“.
Wir sind überzeugt, daß das „Gleichgewicht des Schreckens“ bislang über einen erheblichen Zeitraum den Einsatz von Atomwaffen verhindert hat − und damit wegen der Vergeltung und drohenden Eskalation den Ausbruch des Dritten Weltkrieges. Dennoch wissen wir, daß dieser Zustand nicht ewig dauern wird. Der Grund für eine mögliche Änderung scheint uns wiederum verbunden mit der Ausweitung der strukturellen Krise, die das kapitalistische System im Weltmaßstab trifft.
Der heutige Rüstungswettlauf unterscheidet sich von dem der fünfziger und sechziger Jahre vor allen dadurch, daß er mehr einem der imperialistischen Wirtschaft selbst innewohnenden ökonomischen Bedürfnis entspricht, das mit der langfristigen Verschlechterung der Wirtschaftssituation des Kapitalismus zusammenhängt. Wenn die Profitrate fällt und die „normalen“ Absatzmärkte stagnieren, stellt die Waffenproduktion mehr und mehr den entscheidenden Ersatzmarkt dar, der die Kapitalakkumulation wieder in Schwung bringt.
Je größer aber das Gewicht der Rüstungsausgaben in der imperialistischen Wirtschaft ist, umso größer wird der Druck, eine „Sparpolitik“ zu betreiben und mit dem Wohlfahrtsstaat in all seinen Formen Schluß zu machen, umso schärfer wird der Klassenkampf auch bei Sofortforderungen und Abwehrkämpfen und umso mehr wird die Bourgeoisie sich veranlaßt sehen, sich auch in ihren wichtigsten Hochburgen nach einem Wechsel des politischen Systems umzusehen. [7]
Wenn wir sagen, daß die herrschenden Klassen Nordamerikas, Europas und Japans im Verlauf der letzten dreißig Jahre ihre Handlungen danach ausrichteten, und bis heute ausrichten, was ihr Reichtum in der Praxis bedeutet und vor allem, welche Möglichkeiten für Manöver sich aus ihren nach wie vor ungeheuren Reserven ergeben, bedeutet das etwas ganz Präzises für uns. Nämlich ein politisches, gesellschaftliches, militärisches und ideologisches Gesamtklima, das aus einer langen Periode beschleunigten Wachstums resultiert und das politische Führungspersonal des Imperialismus tief geprägt hat. Dieses hat sich vor dem Hintergrund eines spezifischen Kräfteverhältnisses sowohl bezogen auf die Arbeiterklasse als auch bezogen auf die sowjetische und chinesische Bürokratie entwickelt. Natürlich ist dieses Personal zu unzähligen barbarischen Aktionen gegen die Kolonialrevolution fähig (Folter in Algerien, Entlaubung in Vietnam, Massaker in Lateinamerika, Vakuumbomben gegen das palästinensische Volk etc.). Aber es ist nicht bereit für die selbstzerstörerische Barbarei eines Adolf Hitler 1944–45 oder eines Generals Hideki Tojo zur selben Zeit in Japan.
Um ein politisches Personal in den wichtigsten imperialistischen Staaten an die Macht bringen zu können, das zu einer „finalen Lösung“ für die ganze Menschheit bereit ist, bedarf es eines ganz anderen wirtschaftlichen Klimas. Dann müssten die wichtigsten Kräfte des Großkapitals buchstäblich völlig in die Enge getrieben worden sein. Es müssten andere Ideologien vorherrschend werden und ein anderes Kräfteverhältnis zwischen den Klassen in diesen Ländern entstehen. Natürlich werden mit dem Anhalten des Abwärtstrends der internationalen kapitalistischen Wirtschaft und mit der Verschärfung der Austeritätspolitik sowie der Kriegstreiberei des internationalen Kapitals nach und nach am Rande oder an der Kante der Bühne neue Persönlichkeiten, Tendenzen, ja sogar politische Kräfte aufzutreten beginnen. Sie werden wie Adolf Hitler oder Hideki Tojo die Entschlossenheit verkörpern, sich, wenn nötig, auf Leben und Tod zu schlagen und dabei den kollektiven Selbstmord in Kauf zu nehmen – für den höchsten Ruhm von Privateigentum, Nation oder Rasse. Aber dann würde es den Atomtod bedeuten.
Es wäre völlig unverantwortlich, die Möglichkeit einer solchen „Wende zum Selbstmord“ des Führungspersonals des Großkapitals mit leichter Hand hinwegzuwischen, wenn erst einmal eine gewisse Schwelle der Strukturkrise des niedergehenden Kapitalismus überschritten ist – wie das 1932 in Deutschland der Fall gewesen ist. Diejenigen die glauben, das „Gleichgewicht des Schreckens“ oder die Propaganda gegen die Atomwaffen könnten uns für immer vor der nuklearen Vernichtung bewahren, handeln, als ob sie nur auf ihre innere Stimme hörten, die flüstert: „Du kannst nicht sterben“. Doch leider ist es den Menschen vorgegeben, daß nicht nur die Individuen zwangsläufig sterben müssen, sondern daß auch die Gattung verschwinden kann. Dies ist der Fall, wenn sie nicht rechtzeitig ihre eigene Zukunft gestaltet, wenn sie nicht angesichts der atomaren Bedrohung klare Gesellschaftsregeln aufstellt. Dies erfordert die Schaffung einer weltweiten Gesellschaftsordnung, die den Krieg verunmöglicht. Anders ausgedrückt bedeutet dies die Aufhebung des Privateigentums [an den Produktionsmitteln] und des souveränen Nationalstaates sowie den Aufbau einer Weltregierung der Produzenten (einer weltweiten sozialistischen Föderation), die die Herstellung aller größeren Waffen untersagt und die in der Lage ist, dieses Verbot durchzusetzen.
Das „Gleichgewicht des Schreckens“ verliert nach und nach seine Wirkung, wenn sowohl die Depression sich vertieft und die Krise sich verlängert, wenn sich das Kräfteverhältnis innerhalb der imperialistischen bürgerlichen Gesellschaften verändert, aber auch wenn die Austeritätspolitik und die Kriegstreiberei sich verschärfen. Alle diese Phänomene hängen strukturell miteinander zusammen.
Daraus ergibt sich eine erste grundlegende Schlußfolgerung: Die Möglichkeit, ob eine Gruppe von bürgerlichen Politikern an die Macht gelangt oder nicht, die bereit ist, den Atomkrieg auszulösen, hängt vom Ausgang der Gesamtheit aller politischen und wirtschaftlichen Klassenkämpfe der kommenden Jahre und Jahrzehnte in den wichtigsten kapitalistischen Ländern ab. Diese Politiker müssen zuerst das westliche Proletariat (und die antiimperialistische Bewegung in den am meisten entwickelten abhängigen Ländern) besiegen, bevor sie auf den Knopf der atomaren Vernichtung drücken können. Dieses Verständnis muß die Leitlinie der revolutionären Marxisten und der politische Kurs aller derer sein, die die Größe der atomaren Bedrohung verstanden haben.
Es kommt einem sofort ein Vergleich ins Gedächtnis. Gegen Ende der 1920er Jahre hat die stalinistische Fraktion die drohende Kriegsgefahr zur Rechtfertigung des verbrecherischen ultralinken Kurses der Kommunistischen Internationale − der „Dritten Periode” − benutzt. Es gab in dieser Einschätzung einige richtige Punkte. Aber heute wissen wir, wie sehr Trotzki damals recht hatte, als er betonte, daß überhaupt noch nichts endgültig entschieden war. Weder 1928, 1929 oder 1931 (als der japanische Krieg gegen China begann, der zugleich eine allgemeinere und diffusere Ausweitung der imperialistischen Aggression gegen die Chinesische Revolution und der Beginn des Marsches in den Zweiten Weltkrieg war) und auch nicht 1936.
Zweifelsohne hatte der Marsch in den Zweiten Weltkrieg schon begonnen. Aber unvermeidlich wurde der Zweite Weltkrieg erst nach der Niederlage des deutschen Proletariats 1933, nach dem Verrat des revolutionären Aufschwungs in Frankreich 1936 und vor allem nachdem die spanische Revolution 1936–37 zuerst abgewürgt und dann vernichtet wurde. Daran war nichts unvermeidbar, und schon gar nicht in den Jahren 1928–29.
Ernest Mandel (1982) Foto: Hans van Dijk / Anefo |
In diesem Sinne − und mit all den bei historischen Vergleichen erforderlichen Vorbehalten − nähert sich die Situation heute mehr derjenigen von 1928–31 an als der nach 1938. Die entscheidenden Klassenschlachten liegen noch vor, nicht hinter uns. Und erst sie werden über den Marsch in den Krieg entscheiden.
Man kann eine zweite wesentliche Schlußfolgerung ziehen: Das Schicksal der Menschheit hängt einerseits ab von der Fähigkeit der internationalen Arbeiterbewegung, die herrschende Macht in den wichtigsten imperialistischen Bastionen zu stürzen − wobei jede äußere Schwächung selbstverständlich zu diesem Sturze beiträgt, ohne ihn jedoch ersetzen zu können − und einen Durchbruch zum Sozialismus erreichen zu können. Andererseits hängt es von dem Bemühen des Imperialismus ab, der internationalen Arbeiterbewegung entscheidende Niederlagen zufügen zu können, die dann den Weg für einen Atomkrieg ebnen würden. Die sozialen Kürzungs- und militärischen Aufrüstungsoffensiven werden früher oder später zu einer offensiven Infragestellung der wichtigsten demokratischen Grundrechte der Arbeiterbewegung führen, die ihrerseits das Tor für eine radikale Ersetzung des politischen Führungspersonals des Imperialismus öffnen könnte. [8]
Der erste Weg impliziert das Wachstum der Weltrevolution von ihrer gegenwärtig fragmentierten und empirischen Entwicklung zu einer universellen und bewussten Durchführung. Der zweite bedeutet die Niederlage der Weltrevolution. Während der erste Weg die Menschheit retten und die Chancen für eine Wiedergeburt der Zivilisation in einem von der Angst vor der atomaren Vernichtung befreiten Sozialismus wahren wird, [9] kann der zweite möglicherweise − oder wird sogar wahrscheinlich − zu dieser atomaren Vernichtung führen.
In dem Maße, wie sich die Kürzungsoffensive beschleunigt, wie die Aufrüstung zunimmt, wie immer heftigere Angriffe gegen die sozialen und politischen Errungenschaften des Proletariats der westlichen imperialistischen Länder erfolgen – im Gleichschritt mit mörderischen und barbarischen Schlägen gegen die Kolonialrevolution – verliert das „Gleichgewicht des Schreckens” seine Wirksamkeit als wichtigstes Hindernis für den Marsch in den Dritten Weltkrieg. Angesichts einer solchen Tendenz wächst umso mehr die Bedeutung der Antikriegsbewegung (vor allem der Antiatomwaffenbewegung), welche sich heute in den wichtigsten imperialistischen Ländern kräftig entwickelt. Die Demonstration vom 1. Juni 1982 in New York stellt nur ein erstes Indiz für das Potential dieser Bewegung dar. Sie war mit einer Million Teilnehmern die größte Demonstration in der Geschichte der Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar der imperialistischen Länder überhaupt.
Was diese Bewegung motiviert, ist nicht das unmittelbare Verlangen, den Kapitalismus zu stürzen, der einzig für den Rüstungswettlauf verantwortlich ist, oder die Revolution weltweit zu unterstützen. Es ist natürlich wahr, dass viele Aktivisten dadurch motiviert sind und dass es die Aufgabe der revolutionären Marxisten ist, diese Ideen unablässig zu propagieren und ihren Einfluss in der Bewegung zu stärken. Aber die fundamentale Motivation dieser Bewegung ist Angst vor der atomaren Vernichtung, ist der physische Selbsterhaltungsinstinkt. Deshalb beteiligen sich auch zur allgemeinen Überraschung die deutschen Massen, die doch ein sehr viel niedrigeres politisches Bewusstsein haben als etwa die französischen oder italienischen Massen, weit zahlreicher an der Bewegung als ihre Klassenbrüder und -schwestern in den Nachbarländern. Denn die deutschen Massen sind davon überzeugt, daß ganz Deutschland in den ersten Tagen eines Atomkrieges völlig zerstört sein wird. Sie wollen aber leben.
Wer pedantisch der Aktion dieser Massen ihre objektiv revolutionäre Stoßkraft abspricht unter dem Vorwand, sie würden nicht zwischen bürokratisierten Arbeiterstaaten und bürgerlichen Staaten unterscheiden, sie würden manchmal die USA und die UdSSR mit dem Begriff „Supermächte“ als gleich gefährlich kennzeichnen, und sie würden keinen „proletarischen Internationalismus” hinsichtlich der gegenwärtig sich entwickelnden Revolutionen zeigen (Vorwürfe, die im Übrigen teilweise falsch sind), der verkennt zwei entscheidende Aspekte der Weltsituation.
Erstens ist es der Imperialismus, und nur dieser, der Atomwaffen für seine konterrevolutionäre militärische Strategie um jeden Preis benötigt. Die Bewegung gegen die Atomwaffen auszurichten, ist also objektiv ein Schlag gegen den Imperialismus.
Zweitens lösen in dem Maße, wie diese Massenbewegungen wachsende Teile der organisierten Arbeiterbewegung und der Jugend umfassen, eine objektiv antikapitalistische Dynamik aus − unabhängig von der Phraseologie gewisser Führer. Denn sie zielen darauf ab, nicht nur konkrete Maßnahmen der einseitigen Abrüstung gegen den Imperialismus durchzusetzen (gegen die Aufstellung der Pershing Il und der Marschflugkörper, gegen die Basen des Nordatlantikpaktes), sondern auch eine Wirtschaftspolitik, die auf einer Alternative zur „Spar“- und Aufrüstungspolitik gründet: Arbeitsplätze statt Bomben, Schulen und Krankenhäuser statt Militärbasen, die 35-Stunden-Woche durch radikale Kürzung der Militärausgaben etc. …
Auf eine allgemeinere Weise überschneidet sich der Kampf gegen den atomaren Rüstungswettlauf und gegen die Aufrüstungsoffensive mindestens in einem Punkt mit dem Kampf gegen die kapitalistische Krise und gegen den Kapitalismus überhaupt. Dieser Kampf lehrt breiteste Schichten der Massen, daß kein vorgegebenes Schicksal in einen Dritten Weltkrieg führt, genauso wenig wie es für eine Wirtschaftskrise, für 35 Millionen Arbeitslose in den imperialistischen Ländern oder für den Hunger und die Folter in der Dritten Welt ursächlich ist. Die apokalyptischen Reiter können aufgehalten werden unter der Bedingung, daß die Massen, die Ausgebeuteten und Unterdrückten, ihre Geschicke in die eigenen Hände nehmen.
Unter solchen Bedingungen ist es die Aufgabe der revolutionären Marxisten, in der ersten Reihe der Antikriegs- und der Antiatomwaffen-Bewegung zu kämpfen, dort einigend und zusammenfassend zu wirken und möglichst viele Kräfte der organisierten Arbeiterbewegung und anderer „sozialer Bewegungen“, die ihre natürlichen Verbündeten sind, zu aktivieren, damit weltweit Millionen und Abermillionen von Menschen auf die Straße gehen. Wenn diese Bewegung sich ausweitet und sich verallgemeinert, dann wird die Reise in die entgegengesetzte Richtung von 1913–14 oder 1938–39 gehen. In jenen Jahren wurde die Revolution vom Krieg erstickt, diesmal wird die Revolution den Krieg verhindern. Im Rahmen dieser Massenbewegung verteidigen wir unser gesamtes Programm, sowohl in Solidarität mit den gegenwärtigen Revolutionen als auch mit allen Opfern der „lokalen” konterrevolutionären Kriege des Imperialismus. Wir revolutionären Marxisten ordnen die gemeinsamen Mobilisierungen nicht der ideologischen Diskussion unter, denn wir wissen um den entscheidenden Einfluß solcher Mobilisierungen auf die objektiven Möglichkeiten der Weltrevolution.
In derselben Weise unterstützen wir entschieden die unabhängigen Massenbewegungen gegen den Rüstungswettlauf in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und in den anderen osteuropäischen Ländern. Nicht, weil wir die bürgerlichen und die [bürokratisierten] Arbeiterstaaten auf die gleiche Stufe stellen, oder weil wir die Aufgabe, die letzteren gegen die ersteren im Falle eines militärischen Konfliktes zu verteidigen, vergessen hätten. Wir verstehen jedoch, daß angesichts der heutigen Weltlage alles, was möglichst weitgehende und einheitliche Mobilisierungen für die einseitige Abrüstung des Imperialismus in Europa begünstigt, einen tausendmal härteren Schlag gegen den Imperialismus darstellt und daher eine tausendmal wirksamere Verteidigung der Sowjetunion und der anderen [bürokratisierten] Arbeiterstaaten als einige Raketen mehr oder einige Disziplinschwierigkeiten weniger in der Armee dieses oder jenes [bürokratisierten] Arbeiterstaates.
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Die Antikriegsbewegung im Osten trifft den Imperialismus objektiv härter als die Bürokratie, indem sie der Bourgeoisie eines ihrer bedeutendsten Argumente aus der Hand schlägt, durch das sie die Antikriegsbewegung im Westen zu spalten und ihren Aufschwung zu bremsen versucht. Die autonome Antikriegsbewegung in Osteuropa und der UdSSR fördert objektiv die antibürokratische politische Revolution, indem sie eine öffentliche und demokratische Kontrolle über die Verteidigungs- und Außenpolitik verlangt. Dies ist ein integraler Bestandteil der Weltrevolution und damit des Kampfes um die Rettung der Menschheit vor der atomaren Vernichtung. Die Fortschritte der politischen Revolution und dann der Konterrevolution in Polen [10] haben gerade gezeigt, daß solche Entwicklungen nahezu unmittelbar Konsequenzen haben. Nämlich positive Folgen im ersten und negative im zweiten Fall für den antiimperialistischen und antikapitalistischen Kampf auf internationaler Ebene.
Es ist falsch und unproduktiv, mit den Pazifisten eine Diskussion darüber anzufangen, ob man zuerst die Atomwaffen vernichten muß (genauso wie die Grünen sagen, man müsse zuerst die Umwelt von der Verschmutzung befreien) oder das kapitalistische System überwinden muß. Man kann unmöglich die atomare Bedrohung beseitigen, ohne das kapitalistische Regime zu beseitigen. Solange das Privateigentum an Produktionsmitteln überlebt und die daraus resultierende Konkurrenz, die Marktwirtschaft, die dies alles mit sich bringt, der Kampf um den individuellen Vorteil, das System der Produktion um des Profites willen mit seiner ganzen tödlichen Logik einschließlich wachsender Frustration und Gewalt, wird nichts und niemand, Gruppen oder Individuen daran hindern können, Maschinen und Arbeitskräfte zu kaufen, um mit der Herstellung von die Menschheit bedrohenden Waffen noch mehr Geld einzunehmen. Um verhindern zu können, dass gesellschaftliche Gruppen mit dem Überleben des Menschengeschlechts russisches Roulette spielen, müssen die erforderlichen gesellschaftlichen und materiellen Bedingungen für das geschaffen werden, was wir alle wollen: durch den Sieg der sozialistischen Weltrevolution, durch den Aufbau einer sozialistischen Weltföderation, durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und deren Gebrauch unter möglichst weitgehender öffentlicher Kontrolle ohne jedes „Geschäftsgeheimnis“.
Wir kritisieren die Pazifisten also nicht deswegen, weil sie die Gefahr von Atomwaffen „übertreiben“, sondern wir werfen ihnen vor, daß sie sie unterschätzt haben. Wir werfen ihnen vor, sich mit vorläufigen Maßnahmen zu begnügen − dem Kampf für diese oder jene Sofortmaßnahme, die wir natürlich auch unterstützen, etwa den Kampf für eine atomwaffenfreie Zone in Europa von Portugal bis Polen. Wir halten ihnen vor, daß die schreckliche Gefahr genauso lange existieren wird, wie es das kapitalistische System und den souveränen Nationalstaat gibt. Das heißt solange also die Möglichkeit für einige wenige besteht, hinter dem Rücken der großen Mehrheit der Weltbevölkerung die Herstellung solcher Bomben zu beschließen. Den radikalen Pazifisten sagen wir: Die Menschheit wird vom Alptraum der atomaren Bedrohung nur befreit werden können, wenn sie das Recht und die Macht, darüber zu entscheiden, was produziert wird, und was zu produzieren verboten ist, in die eigenen Hände nimmt. Dies verlangt die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, der Konkurrenz zwischen Individuen und Staaten sowie der Marktwirtschaft. Wenn Ihr nicht bereit seid, diesen Preis zu bezahlen, dann nehmt Ihr lieber das Risiko der Auslöschung der Menschheit in Kauf als das Gesellschaftssystem zu ändern, das zu diesem kollektiven Selbstmord führt.
Für uns ist der Kampf gegen den Krieg und für den Sozialismus identisch. Nur eine selbstverwaltete sozialistische Welt wird eine Welt ohne Waffen sein. Die Frauen und Männer, die diesen Planeten bewohnen und die schreckliche sie bedrohende Gefahr begriffen haben, werden gemeinsam entscheiden, daß keine Vernichtungswaffen mehr hergestellt werden. Sie werden das Gesellschaftssystem aufbauen, das allein ein solches Verbot auf Dauer durchsetzen kann.
Wir unterstützen jeden Kampf, jede konkrete aktuelle Mobilisierung gegen den vom Imperialismus wiederaufgenommenen Rüstungswettlauf. Dennoch werden wir unaufhörlich die historische Illusion anprangern, dass es möglich sei, die Vernichtungswaffen zu beseitigen, ohne das kapitalistische System zu zerstören. Sie steht auf der gleichen Stufe wie jene Illusion der 1950er oder 1960er Jahre, wonach es möglich gewesen wäre, Wirtschaftskrisen zu verhindern, ohne die Herrschaft des Kapitals aufzuheben. Es besteht die Gefahr, daß die aktuelle Illusion genauso krachend zerstört werden wird − nur mit einem tausendmal schlimmeren Ergebnis für die Menschheit.
Der Kampf gegen die Aufrüstung kann ebenso wie der Widerstand gegen die „Spar“-Politik seine volle Wirkung nur erreichen − und vor allem siegreich sein −, wenn er eine umfassende antikapitalistische Perspektive verfolgt. Es gibt keine andere historische Lösung für die Krise der Menschheit – deren zugespitzter Ausdruck der selbstmörderische nukleare Rüstungswettlauf ist − als die Eroberung und die Ausübung der Macht durch die Arbeiter auf Weltebene. Dies muß im Rahmen der breitesten pluralistischen sozialistischen Demokratie erfolgen, die auf der Basis einer von den Produzenten selbstverwalteten Planwirtschaft beruht.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz