Der XX. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas fand im Oktober 2022 statt. Mit seiner Wiederwahl für eine dritte Amtszeit bricht Xi Jinping mit der in den 1980er Jahren durchgesetzten Regel und vollzieht damit auch symbolisch die politische Konterrevolution. Unter seiner Herrschaft erreicht die Zentralisierung der Macht neue Höhen, doch sein Triumph kann nicht über die Sackgassen seiner Politik hinwegtäuschen.
Pierre Rousset
Nach dem XX. Parteitag gibt es keine Anzeichen dafür, dass Xi Jinping alle Probleme erkannt hat, da er zu sehr damit beschäftigt ist, seine Macht über den Staat zu festigen. Die Fähigkeit der Regierung, die wirtschaftliche Entwicklung zu steuern, war lange Zeit ein wichtiger Trumpf für den Aufstieg Chinas. Das von Xi geprägte neue politische System könnte sich nun jedoch als gefährlicher Nachteil erweisen.
Die von Deng Xiaoping in den 1980er und 1990er Jahren eingeleiteten Reformen zielten darauf ab, das postmaoistische China auf den kapitalistischen Weg zu bringen, indem ein Teil der Bürokratie „verbürgerlicht“ und das Land mit einem stabilen politischen System zum Wohle der Eliten ausgestattet wurde. Insbesondere sollten eine kollegiale Arbeitsweise auf jeder Führungsebene und die regelmäßige Erneuerung der Führungsgremien die Konzentration der Macht in den Händen eines einzelnen Mannes verhindern.
In seinen ersten beiden Amtszeiten war Xi Jinping bestrebt, eine Regierungsform einzuführen, die im schroffen Gegensatz zu Dengs Absichten stand. Auf dem XX. Parteitag der KPCh konnte nun das vollendet werden, was man als politische Konterrevolution im kapitalistischen China bezeichnen könnte. Xi trat seine dritte Amtszeit als Vorsitzender der KPCh an, während zuvor niemand länger als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten von fünf Jahren im Amt bleiben durfte. Wohl hatte Deng seine engsten Vertrauten in Schlüsselpositionen gebracht, er selbst war aber lediglich Vorsitzender der Zentralen Militärkommission gewesen. Xi hingegen ist zugleich Vorsitzender dieser Kommission, Generalsekretär der Partei und Präsident der Volksrepublik.
Der siebenköpfige Ständige Ausschuss des Politbüros ist das Zentrum der Macht in der KPCh. Traditionell sollte es ein Minimum an Fraktionspluralismus enthalten und der designierte Nachfolger des Generalsekretärs darin vertreten sein. Die Frage der Nachfolge stellt sich indessen nicht, da Xi wohl damit rechnet, weitere Amtszeiten zu absolvieren – er vereint nun in seiner Person eine dreifache Führungsposition auf Lebenszeit.
Li Keqiang saß als Premierminister (ohne Vollmachten) im Ständigen Ausschuss, wurde aber nicht wiederberufen. Er ist ein enger Vertrauter von Hu Jintao, dem früheren Generalsekretär der KP, der bei der Abschlusssitzung des Parteitags (offensichtlich ohne seine Zustimmung) von zwei schwarz gekleideten Männern von der Tribüne entfernt wurde – ein seltsames Schauspiel bei einer Zeremonie, bei der alles minutiös geregelt ist. Darüber hinaus will Xi (als weitere Gegenreform) die von Li verkörperte Verwaltung an den Rand der Regierung des Landes drängen. Zwar war die Vorherrschaft der Partei zuvor uneingeschränkt gesichert, doch durch die Pluralität der Entscheidungszentren war das System flexibel und ermöglichte es der Bevölkerung, sich an mehr als einen Ansprechpartner zu wenden. Jetzt aber verfügt die Partei über die exklusive Entscheidungsmacht.
Xi Jinpings Hauptrivalen wurden aufgefordert, sich in den Ruhestand zu verabschieden, und nicht wieder in das neue Zentralkomitee berufen, das aus 205 Mitgliedern besteht und zu 65 % erneuert wurde. Üblicherweise liegt die Altersgrenze für die Wahl in die Parteiführung bei 68 Jahren liegt (Xi selbst ist 69 Jahre alt und schickt sich an, noch sehr lange an der Spitze der KP zu bleiben). Wang Yang (67) wurde jedoch aus dem Amt gedrängt, obwohl er Vorsitzender der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes ist (ein Gremium, das aus „demokratischen“, will heißen der KPCh unterstellten Parteien, besteht und einen informellen Austausch ermöglicht). Für die Peking-Astrologen galt er als zu wirtschaftsliberal.
Man sollte sich jedoch davor hüten, die Fraktionskämpfe innerhalb des Parteiapparats wirklich als solche zu werten. De facto geht es dabei zumeist um die Macht und weniger um die politische Richtung. Zumindest sollte man vermeiden, diese Konflikte zu einer Konfrontation zwischen „Reformern“ (Li Keqiang, Wang Yang etc.) und „Konservativen“ aufzubauschen und von ersteren zu erwarten, dass sie letztere bekämpfen. Die Hoffnungen, die in Deng Xiaoping gesetzt wurden, das Land zum Wohle der Bevölkerung zu demokratisieren, haben sich mit der blutigen Unterdrückung der sozialen Bewegungen im Jahr 1989 als dramatische Illusion entpuppt. Seitdem haben sich drei Blöcke um die Generalsekretäre Jiang Zemin, Hu Jintao und Xi Jinping gebildet. Keiner von ihnen hat jemals die Diktatur der Partei über die Gesellschaft in Frage gestellt oder die Zulassung einer organisierten politischen Opposition erwogen, auch wenn die ersten beiden einzelne Dissidenten hinnehmen konnten.
Was Xi hingegen auszeichnet, ist, dass er rivalisierende Cliquen oder Fraktionen rausgesäubert hat, so wie er auch die Armee und den Geheimdienst gesäubert hat. Der XX. Parteitag war für ihn nunmehr eine Gelegenheit, seine Kontrolle über den Apparat der Staatspartei zu vollenden.
Es wurden Verfassungsänderungen durchgeführt, um den persönlichen Status von Xi Jinping und seinem „Denken“ noch höher zu stilisieren. Der Parteitag billigte Änderungsanträge, darunter die „Zwei Niederlassungen“ und die „Zwei Sicherungen“, die darauf abzielen, Xi im Zentrum der Partei und sein politisches Denken als maßgebliche Ideologie zu verankern. Xi zu kritisieren oder seine Worte zu hinterfragen, wird zu einem Verstoß gegen die Verfassung!
Der Personenkult um Xi erreicht wahnhafte Höhen, ähnlich wie bei Mao zu Beginn der Kulturrevolution (1966–1969). In der Resolution, die auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees im November 2021 verabschiedet wurde, hieß es in Bezug auf Xi bereits, dass die heutige Zeit „die großartigste Epoche in der tausendjährigen Geschichte der chinesischen Nation“ sei, da „der Sozialismus chinesischer Prägung in ein neues Zeitalter eingetreten“ sei, seit er an die Macht gekommen sei. Aber auch, dass sein „Denken die Quintessenz der chinesischen Kultur und Seele“ sei, deren Präsenz im „Herzen“ der Partei „von entscheidender Bedeutung […] ist, um den historischen Prozess der großen Erneuerung der chinesischen Nation zu fördern“.
Xi Jinping, XX. Parteitag der KP Chinas Foto: China News Service |
Am Anfang des Mao-Kults stand der Wunsch, dem Stalin-Kult eine chinesische Persönlichkeit entgegenzusetzen, die dazu diente, die Kommunistische Internationale zu lenken, aber wenn man einmal eine solche Waffe in den Händen hält, benutzt man sie auch, um Rechnungen zu begleichen oder seine Position in Fraktionskämpfen zu stärken, ob diese nun einen politischen Inhalt haben (den hatten sie damals oft) oder nicht. Was das „Denken“ betrifft, so steht Xi nicht in der Kontinuität von Mao. Obwohl er es nie schaffte, eine Fremdsprache zu lernen und nicht reiste wie viele andere asiatische Revolutionäre, las Mao, was er in Übersetzungen fand, und nahm zahlreiche intellektuelle Anregungen auf – chinesische, regionale und westliche. Seine offiziellen Werke sind eher trocken, aber viele interne Parteidokumente wurden während der Kulturrevolution freigegeben und erweisen sich als weitaus lebendiger. Wenn man kein Sinologe ist, wird man sich in dieser Hinsicht eher zurückhalten, aber einige meinen, dass er ein taoistisch geprägtes Geschichtsverständnis hatte; immerhin war er davon überzeugt, dass sich Gesellschaften nur unter dem Einfluss ihrer inneren Widersprüche und damit der sozialen Kämpfe entwickeln. Die Beschwörung von Widersprüchen kann natürlich sowohl zum Guten als auch zum Schlechten führen, wie die Geschichte des „Großen Steuermanns“ zeigt ...
Dem Ständigen Ausschuss des Politischen Büros gehörten bisher keine Frauen an und das ist auch heute noch so. Seit 1997 gab es jedoch immer eine Frau im PB (und kurzzeitig sogar zwei). Ein Quotensystem war eingeführt worden, das vorschrieb, dass auf allen unteren Leitungsebenen mindestens eine weibliche Führungskraft vertreten sein musste, was zu einem schwachen, aber stetigen Zustrom von Kandidatinnen beitrug.
Heute ist das 24-köpfige Politbüro ausschließlich mit Männern besetzt. Sun Chunlan, die sogenannte Zarin des Covid (Null-Covid-Beauftragte), wurde weder wiedergewählt noch ersetzt. Laut der Guardian-Journalistin Emma Graham-Harrison war sie eine von nur drei Frauen in über 70 Jahren, die aus eigener Kraft so weit im Parteiapparat aufgestiegen waren, ohne die Ehefrau eines einflussreichen Mannes oder ein „Propagandawerkzeug“ zu sein! Es wurde jedoch gemunkelt, dass eine weitere Frau in das Präsidium aufgenommen werden sollte (die Namen zweier Kandidatinnen kursierten). Auf einer Liste von 205 stimmberechtigten Mitgliedern des neuen Zentralkomitees, die am 22. Oktober veröffentlicht wurde, befanden sich nur 11 Frauen.
Die KPCh hat fast 100 Millionen Mitglieder, aber weniger als ein Drittel davon sind Frauen, und dieser Anteil sinkt mit jeder Stufe der Hierarchie. Als Xi Jinping damit begann, zivilgesellschaftliche Organisationen systematisch zu unterdrücken, zielte er besonders auf Feministinnen ab, die jedoch keine Gefahr darstellten. Generell geht die zunehmende Macht Xis mit einer ausgesprochen reaktionären Entwicklung in sogenannten gesellschaftlichen Fragen einher. Um die rückläufige Geburtenrate zu erhöhen, übt er Druck auf die Jugend aus, die sich jedoch seinen Anordnungen widersetzt. Unter diesen Umständen ist zu befürchten, dass das „Recht auf den eigenen Bauch“ eines Tages in Frage gestellt werden wird.
Wie Emma Graham-Harrison abschließend feststellt, „lässt sich eines getrost sagen: Wenn es keine Frau in der Führungsriege gibt, werden Frauenanliegen auch weniger Beachtung finden.“
Nach der Wiederwahl von Xi Jinping bleiben die Probleme, mit denen sein Regime konfrontiert sein wird. Wie weit die wirtschaftliche Entwicklung Chinas gediehen ist und welchen Weg sie dabei genommen hat, verdeutlichen allein zwei Zahlen:
China und die USA stellen mit mehr als der Hälfte der Milliardäre weltweit den Löwenanteil. Im Jahr 2021 waren es 1058 in China (32,8 % der weltweiten Gesamtzahl) und 696 in den USA (21,6 %) (Hurun Global Rich List 2021).
Dasselbe gilt für die Unternehmen auf der Rangliste der Fortune Global 500 (2020). An der Spitze steht China mit 124 Unternehmen (24,8 % der Gesamtzahl), gefolgt von den USA mit 121 Unternehmen (24,2 %).
Doch die Dynamik der chinesischen Binnenwirtschaft erschöpft sich allmählich, wenn man den folgenden Daten Glauben schenken will, die zum Teil einem Artikel der Journalistin Helen Davidson (The Guardian vom 20. Oktober) entnommen sind:
Langsameres Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Nachdem es sich von 2012 bis 2021 verdoppelt hatte, hat es nunmehr so stark abgenommen, dass es zum ersten Mal seit dreißig Jahren hinter dem Wachstum der Region Asien-Pazifik zurückbleibt.
Wachsende soziale Ungleichheit. Im selben Zeitraum hat sich nach Angaben der Weltbank auch das Bruttonationaleinkommen pro Kopf verdoppelt und liegt 2021 bei 11 890 US-Dollar. Im vergangenen Jahr erklärte die KPCh, sie habe die absolute Armut im Land beseitigt. Die Einkommensunterschiede sind jedoch nach wie vor hoch und die Corona-Epidemie hatte zahlreiche Auswirkungen auf die chinesischen Arbeiter*innen, insbesondere auf die Wanderarbeiter*innen. Da das Niveau der sozialen Absicherung sehr niedrig ist, sind die Haushalte gehalten, so viel wie möglich zu sparen. Die strukturelle Arbeitslosenquote liegt seit 2019 bei über 5 %. Laut dem Nationalen Amt für Statistik erreichte sie 2019 mit 19,9 % in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen einen Rekordwert.
Die Krise im Immobiliensektor. Dieser vereint einen großen Teil der Investitionen auf sich. Nach Angaben der Wirtschaftswissenschaftlerin Mary-Françoise Renard (The Conversation, 18. Oktober) macht er im engeren Sinne 14 % des BIP aus, liegt aber bei 30 %, wenn man die vorgelagerten (z. B. Zement oder Stahl) und nachgelagerten Sektoren (Dekoration, Möbel) mit einbezieht. Zwischen diesen Sektoren besteht eine starke gegenseitige Abhängigkeit, weswegen sie bei auftretenden Problemen verwundbar sind. Genau das ist heute der Fall. Die Urbanisierung und die Erfordernis, Wohneigentum zu besitzen, um heiraten zu können, haben die Nachfrage angekurbelt, aber auch Spekulation und Überproduktion gefördert. Die Immobilienkrise hat weitreichende soziale Folgen: Viele Menschen haben ihre Ersparnisse in den Kauf von Wohnungen gesteckt, die vielleicht nie gebaut werden, oder in neue Städte, die Geisterstädte bleiben werden. Das wirkt sich auf den gesamten Finanzsektor aus und es droht eine Schuldenkrise. Die nationale Regierung oder lokale Regierungen greifen mitunter massiv ein, um den Bankrott von Bauträgern zu verhindern, aber das löst die grundlegenden Probleme nicht.
Die demografische Krise. Sie zeichnet sich in China wie auch in weiten Teilen Ostasiens ab. Trotz aller Bemühungen ist es den Herrschenden nicht gelungen, den Abwärtstrend der Geburtenrate umzukehren; 2021 fielen diese auf den niedrigsten Stand seit 61 Jahren, da junge Menschen die hohen Lebenshaltungskosten, die ungleichen Geschlechterrollen, die stagnierenden Karriereaussichten und die fehlenden Mutterschaftshilfen beklagen. Jahrjährlich heiraten immer weniger Menschen.
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Die Neuausrichtung der US-Außenpolitik in Asien unter Joe Biden und die russische Invasion in der Ukraine sind für Xi Jinping schlechte Nachrichten. Der triumphalistische Expansionszug der chinesischen Supermacht scheint erst einmal gestoppt. Xi konnte Putin nicht dazu bewegen, seinen Konfrontationskurs zu beenden, wodurch für Chinas Einfluss in West- und Osteuropa erhebliche Risiken drohen.
Nachdem der Marcos-Clan seine Macht auf den Philippinen wieder gefestigt hat, werden auch deren Beziehungen zu Washington wieder enger. Im Südpazifik hatte Peking ein strategisches Abkommen mit den Salomonen unterzeichnet, trotzdem haben sich diese am 20. September der sog. Transpazifischen Partnerschaft angeschlossen, der bereits 15 Staaten dieser Region angehören, darunter die Cook-Inseln und Papua-Neuguinea.
Trotz erheblicher Investitionen schafft es China nicht, seinen Rückstand auf dem so wichtigen Gebiet der hochwertigen Halbleiter aufzuholen. Biden setzt inzwischen alles dran, China am Erwerb oder der Entwicklung bestimmter Schlüsseltechnologien zu hindern. Allerdings stehen die Volkswirtschaften mittlerweile so sehr in gegenseitiger Abhängigkeit, dass der Riss zwischen China und den USA nicht so einfach machbar ist. Die westlichen Multis beargwöhnen sehr die zunehmende politische Kontrolle Pekings über Investitionen, wollen aber wiederum auch nicht von ihren Profiten lassen und ihre Produktion wieder in die USA verlagern, wie Biden dies möchte.
Xi Jinping hat alle Kooperationsbeziehungen mit Washington abgebrochen, auch in der Gesundheits- und Umweltpolitik, obwohl sich gerade diese nicht an Grenzen und Spannungen zwischen den Großmächten halten. Insofern reicht das „Denken“ von Xi doch nicht aus, diese beiden existentiellen Bedrohungen der Menschheit zu umfassen.
Was die Macht seiner Person angeht, wird Xi Jinping oft als neuer Mao Zedong gesehen. Das ist jedoch nicht vergleichbar. Nicht nur gehören sie zwei unterschiedlichen historischen Epochen an, sondern auch die Mannschaft, die 1935 während des Langen Marsches an die Spitze der KPCh gelangte, bestand bei weitem nicht nur aus abhängigen Vasallen. Mao verstand es, erprobte Kader, starke Persönlichkeiten, die verschiedenen Richtungen entstammten und oft an der Spitze von Armeekorps standen, zu vereinen. Viele von ihnen hatten sich in den zahlreichen Fraktionskämpfen, die die KPCh zerrissen hatten, sogar gegen ihn gestellt.
Aus l’anticapitaliste 634 vom 27.10.2022 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz