Russland im Krieg

Der Arbeiter ist immer in einer schwachen Position

Wie hat sich die Situation der Arbeiter*innen seit Kriegsausbruch verändert? Wer wird am häufigsten gefeuert, weil er/sie sich gegen den Krieg positioniert? Schließen sich die Menschen in Russland zusammen, um ihre Arbeitsrechte zu verteidigen? Und welche Methoden wenden sie an? Teilnehmer*innen der Projekte „Antijob“ und „Antifond“ sprachen [mit Posle] über ihre Arbeit und über die Aussichten für die Arbeiterbewegung im Lichte des Krieges und der Massenentlassungen.

Ein Gespräch mit Aktivist*innen von „Antijob“ und „Antifond“

 Wie ist das Projekt Antijob entstanden und was sind seine Ziele?

Antijob wurde von mehreren Teilnehmer*innen der Autonomen Aktion im Jahr 2004 gegründet. Zu Beginn sollte das Projekt als Gegenstück zu „job.ru“ aufgebaut werden, der ältesten, auf eine breite Öffentlichkeit abzielenden Website für Stellengebote. Unser Projekt basiert auf moralischen und politischen Fundamenten, wobei wir den Klassenstandpunkt stets im Fokus behalten. Unser Ausgangspunkt ist, dass innerhalb eines kapitalistischen Systems die Ausbeutung der Lohnabhängigen durch die Unternehmer die Norm darstellt und die Lohnabhängigen immer in einer schwachen Position sind. Dem wollen wir entgegentreten.

Später, im Jahr 2011, übernahm Antijob eine aktive Rolle in dem „solidarischen Netzwerk“ (Seti Solidarnosti) – einer radikal dezentralen Organisation mit Zellen in diversen Städten, die den Beschäftigten dazu verhalf, an ihren Arbeitsplätzen Gerechtigkeit zu erlangen. Die Bewegung setzte dabei auf die Taktik direkter Aktionen. Dazu gingen ihre Mitglieder in die Unternehmen, halfen Streiks zu organisieren, drohten, Informationen über den Konflikt im Unternehmen öffentlich zu machen, wenn die Forderungen der Beschäftigten nicht erfüllt würden, und enthüllten kompromittierende Informationen über die Besitzer der betroffenen Unternehmen. Aufgrund der zunehmenden Restriktionen durch das Regime stellte das „solidarische Netzwerk“ seine Aktivitäten zwar nach und nach ein, Antijob existiert aber weiter als Online-Projekt, das Beurteilungen von Beschäftigten über ihre Chefs veröffentlicht. Darüber hinaus nehmen wir, im Gegensatz zu später ins Leben gerufenen ähnlichen kommerziellen Internetprojekten, prinzipiell kein Geld an, um negative Beurteilungen zu löschen.

 

Grafik: Posle

Unternehmen legen Wert auf einen guten Ruf, denn heutzutage schauen sich potentielle Bewerber*innen an, was andere über diese Firma sagen, bevor sie zu einem Vorstellungsgespräch gehen. Es gibt inzwischen viele Fälle, in denen Beschäftige durch Beurteilungen Unternehmen zwingen konnten, ihnen die zustehenden Löhne oder Abfindungen zu zahlen oder andere Forderungen zu erfüllen. Ein Bauunternehmen musste aufgrund der zahllosen schlechten, auf Antijob veröffentlichten Beurteilungen sogar sein Logo und seinen Namen ändern.

Antijob veröffentlicht auf seiner Online-Plattform zudem diverse Texte über Anarchismus, Lohnarbeit und Kapitalismus sowie analytische Artikel zu aktuellen Themen. Darüber hinaus haben wir zwei Bücher mit herausgegeben: die zweite Ausgabe von Arbeit. Kapitalismus. Wirtschaft. Widerstand [Work. Capitalism. Economics. Resistance – Erstausgabe 2013] des amerikanischen anarchistischen Kollektivs Crimethink (in Kooperation mit dem Verlag Radical Theory and Practice), und, zusammen mit der Kooperative Napilnic, Arbeit macht frei [Labor Sets You Free], ein Sammelband mit Geschichten von Arbeiter*innen über die Verletzung ihrer Rechte und ihre Gegenwehr. Seit Beginn des Krieges haben wir in unseren sozialen Medien aktiv über die aktuelle Situation berichtet, in der Beschäftigte wegen ihrer Äußerungen in den sozialen Medien gegen den Krieg entlassen wurden, sowie über die zahlreichen Entlassungen und Lohnkürzungen infolge des Kriegs. Wir veröffentlichen mittlerweile auch lange Texte auf unserer Webseite; der aktuellste befasste sich mit der wirtschaftlichen Situation in Russland und den zunehmend schlechteren Arbeitsbedingungen.

Hin und wieder müssen aber auch wir gewisse Kompromisse eingehen und bestimmte Texte und Kritiken, die die Aufmerksamkeit der „Roskomnadzor“ [RKN, russische Regulierungs-, Aufsichts- und Zensurbehörde für Massenmedien, Telekommunikation und Datenschutz, AdÜ] auf sich gezogen haben, löschen, denn wir wollen sicherstellen, dass den Menschen in Russland der Zugang zu unserer Webseite und unseren sozialen Netzwerken erhalten bleibt. In diesem Fall wird der Text häufig durch die von Roskomnazdor gestellte Auflage und manchmal auch durch ein Gerichtsurteil ersetzt. [Hinweis: Dieses Interview fand statt, bevor antijob.net blockiert wurde. Die Site ist auf Anordnung der RKN jetzt gesperrt. Über ein virtuelles privates Netzwerk oder eine Weiterleitung zu antijob.info ist sie jedoch weiterhin erreichbar.] Für uns ist es überaus wichtig, dass Antijob weit verbreitet ist, auch bei Menschen, die möglicherweise noch keine dezidierten politischen Ansichten haben. Der größte Teil unserer Leser*innen kommt aus der Arbeiterschaft und an sie wenden wir uns in erster Linie. Manchmal reicht es einfach schon, eine Reihe von Berichten über die Willkür von Unternehmern zu veröffentlichen, um Menschen zu politisieren. Sogar trotz einer gewissen Selbstzensur gelingt es uns, die Menschen draußen zu erreichen.

 Nach Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine gründeten Antijob, der Feministische Antikriegswiderstand (FAS) und die Initiatoren des Aufrufs „Krankschreibung gegen den Krieg“ [Antiwojennyj bolnitschnyj] den AntiFond [АнтиФонд]. Was genau ist seine Aufgabe?

Zu Beginn halfen wir Beschäftigten, die aufgrund ihrer Antikriegshaltung entlassen oder an ihrer Arbeitsstelle unter Druck gesetzt wurden. Im Rahmen dieses Fonds organisierten wir eine Rechtshilfe, die Betroffene z. B. darin beriet, wie sie Klage einreichen konnten, und sie sogar vor Gericht vertrat. Anfragen erhielten wir vor allem von Lehrer*innen und Angehörigen von künstlerischen Berufen. Ich erinnere mich z. B. an einen Lehrer, der gefeuert worden war, weil er am Ende des Unterrichts einen Vortrag gegen den Krieg hielt. Ihm wurde nicht einmal gestattet, seine persönlichen Gegenstände noch aus dem Klassenzimmer zu holen. In einem anderen Fall ging es um eine Mitarbeiterin einer italienischen Versicherungsgesellschaft, die der Firmenleitung einen Brief mit der Bitte um Versetzung schrieb. Die russische Seite der Firmenleitung sah den Brief und sperrte sämtliche Firmenserver für die Frau. Ihr wurde dann mehrere Monate lang ein Arbeitsplatz vor einem unbrauchbaren Computer zugewiesen, da die Firma sie aus formellen Gründen nicht entlassen konnte. Ihre Tochter allerdings, die in derselben Firma als Praktikantin arbeitete, wurde direkt entlassen.

Im Laufe der Zeit haben sich zwar weniger Leute mit solchen Problemen gemeldet, aber der Krieg, die Sanktionen und die schwierige wirtschaftliche Lage führten vermehrt zum Abbau von Arbeitsplätzen und zur Einbehaltung von Löhnen. Die Massenentlassungen betreffen im Moment noch meist Unternehmen, die ihre Geschäfte in Russland runterfahren, aber schon bald werden auch lokale Firmen betroffen sein. Der Autohersteller AwtoWAS z. B. verlagerte die Produktion des Lada Vesta von Ischewsk nach Togliatti. Aufgrund fehlender Teile konnten in Togliatti keine Autos mehr montiert werden, sodass die Firmenleitung beschloss, das Werk in Ischewsk aufzugeben. Einzelnen Fachleuten wurde eine Versetzung nach Togliatti angeboten, den meisten Beschäftigten jedoch wurde gekündigt. Zwar erklärte das Unternehmen, es wolle eine kleine Anzahl von Arbeiter*innen weiterbeschäftigen, da in diesem Werk jetzt Elektroautos produziert werden sollen, die Beschäftigten schenken dem jedoch keinen Glauben und denken, dass das Werk geschlossen wird. Piloten von Boeing-Maschinen dürften ebenfalls bald entlassen werden, da diese Flugzeuge aufgrund der Sanktionen nicht mehr in Gebrauch sind.

 Soziolog*innen und andere Forscher*innen sagen oft, dass Russlands Bevölkerung extrem zersplittert sei. Schließen sich die Russ*innen jetzt zusammen, um ihre Arbeitsrechte zu verteidigen?

Nachdem die Massenentlassungen und Lohneinbehaltungen begonnen hatten, schlossen sich nach und nach die Menschen zusammen, aber hauptsächlich, um die Regierung um Hilfe zu bitten. Sie führen Sammelklagen vor Gericht oder schreiben offene Briefe an den Präsidenten. Außerdem suchen sie häufig den Kontakt zu Journalisten, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, da sie nicht glauben, dass sie für sich selbst kämpfen können. In den letzten Monaten gab es mehrere direkt an Wladimir Putin gerichtete Appelle, sowohl von den Beschäftigten des oben erwähnten Automobilwerks in Ischewsk als auch von den Beschäftigten von Moskanal (Notfalldienst für Moskaus Abwassersystem), die zur Arbeit in der selbsternannten „Volksrepublik Luhansk“ abkommandiert worden waren.

Bei AntiFonds versuchen wir, Informationen über kollektive Methoden für den Kampf um unsere Rechte zu verbreiten. Wir bieten Rechtshilfe bei der Organisation von Gewerkschaften und Streiks an. Bisher allerdings gab es noch nicht sehr viele solcher Aktionen. Viele Menschen fürchten sich vor solchen Aktionen, da sie ihre Rechte nicht kennen und glauben, damit gegen Gesetze zu verstoßen und dadurch ihre Jobs zu verlieren. Beschäftigte in der Dienstleistungsbranche, wie Taxi- und Kurierfahrer*innen, sind in puncto Selbstorganisierung am weitesten.

 Angesichts der neuen repressiven Gesetze und dubiosen Praktiken der Justizbehörden scheint es absolut sinnlos zu sein, sich zur Durchsetzung der eigenen Rechte an Gerichte oder Regierungsinstitutionen zu wenden. Wie stellt sich da die Situation bezüglich der Arbeitsrechte dar?

Die Arbeitsverhältnisse unterliegen in Russland oftmals eher informellen Regeln als Gesetzen im eigentlichen Sinn. Viele Beschäftigte kennen ihre Rechte nicht, daher sind diese Menschen sehr leicht zu manipulieren. Die meisten Unternehmen versuchen z. B., ihre Angestellten irgendwie dazu zu bringen, selbst zu kündigen. Es gab da etwa den bemerkenswerten Fall einer Lehrerin, der nahegelegt wurde, zu gehen, und die dies rundweg ablehnte. Daraufhin wurde sie ins Buchhaltungsbüro der Schule gerufen, um einige Dokumente zu unterzeichnen, eines davon war ein dazwischen geschmuggeltes Schreiben, in dem sie angeblich um ihre Entlassung ersuchte. Die Rechtsanwälte sagten ihr dann, dass sie den Brief zurücknehmen könne, aber zwei Tage, nachdem sie den Brief unterzeichnet hatte, gelangten ihre Vorgesetzten an die Überwachungsbänder und hatten damit Beweise für ihre Unachtsamkeit.

Häufig verhandeln Unternehmer auch und bieten für ein Schreiben mit einer freiwilligen Kündigung im Gegenzug die Zahlung eines Monatslohns an. Auf diese Weise umgehen sie ein förmliches Kündigungsverfahren. Tatsächlich ist es aber sehr oft so, dass Beschäftigte, die vor Gericht Klage einreichen, recht ansehnliche Abfindungen erhalten. Allerdings können wir nicht wirklich objektiv beurteilen, wie die Regierungsbehörden arbeiten, da wir nicht wissen, wieviele Klagen sie einfach ignorieren.

Wir können jedoch mit Bestimmtheit sagen, dass die Missachtung von Arbeitsrechten in Russland ein Massenphänomen ist. Denn auch wenn einzelne Beschäftigte das Glück haben mögen, nach einer Gerichtsverhandlung die ihnen zustehenden Vergütungen ausgezahlt zu bekommen, so übernimmt doch die überwältigende Mehrheit der Unternehmen keinerlei Verantwortung für Rechtsverletzungen. So sind z. B. die Arbeitsbedingungen in den Lagerhäusern von Ozon, Wildberries und Sima Land absolut mit Sklaverei vergleichbar. Bevor die Leute dort an ihren Arbeitsplatz gehen, werden sie gezwungen, nackt durch einen Metalldetektor zu gehen und nach Ende der Schicht dieselbe Prozedur nochmals zu durchlaufen. Obwohl diese Situation schon vor etlichen Monaten öffentlich gemacht wurde, hat sich nichts geändert.

      
Mehr dazu
Interview mit Alexandra Sapolskaja und Michail Lobanow: Widerstand gegen den „Nicht-Krieg“, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022)
Interview mit Warja Michailowa: Wir lassen uns nicht unterkriegen!, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022)
ПОСЛЕ/Posle – neue Website auf Russisch und Englisch, die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022)
Interview mit Ilja Budraitskis: Zynismus als Ideologie, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Interview mit Michail Lobanow: Eine neue sozialistische Bewegung in Russland, die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022)
 

Aber selbst wenn man dem russischen Justizsystem kein großes Vertrauen entgegenbringt, sollte man sich grundsätzlich an die Justiz wenden und Verstöße melden. Das lohnt sich aber nur, wenn dies nicht direkt mit einer Kritik am Regime oder einer antimilitaristischen Position verbunden ist, denn sonst ist von vornherein klar, dass ein Gericht nicht im Sinne des Klägers urteilen wird. Bei Konflikten am Arbeitsplatz besteht jedoch durchaus eine gewisse Möglichkeit, Recht zu bekommen und andere Beschäftigte dadurch zu ermutigen, für ihre Rechte einzutreten.

Nachdem nun AntiFonds entstanden ist, können die Menschen kostenlose Rechtsberatungen erhalten und erfahren, wie sie ihre Rechte konkret verteidigen können. Derartige Hilfe war bisher lediglich zum Schutz von politischen Rechten verfügbar. Daneben gibt es auch ein Unterstützungskomitee für die Bürger*innen, das mit Geflüchteten arbeitet; dieses Komitee bietet allerdings eher Unterstützung bei der Job-Suche als bei der Lösung von Arbeitskonflikten an. Durch den Krieg sind auf jeden Fall viele verschiedene Hilfsinitiativen entstanden.

 Einige Leute hoffen, dass sich aufgrund der zunehmenden Krise auf dem Arbeitsmarkt noch mehr Menschen der Antikriegsbewegung anschließen: Menschen, die ihre Jobs verlieren und denen dadurch klar wird, dass der Krieg direkte Auswirkungen auf sie hat. Was halten Sie von dieser Ansicht?

Wir bei Antijob teilen diese Ansicht. Beispiele aus der Geschichte zeigen, dass das durchaus möglich ist. Nehmen wir die damalige Revolution im Iran. Auch wenn sie einen konservativen Charakter hatte und mit einem Sieg der Islamisten endete, zeigt ihre Geschichte, wie sich Proteste entwickeln. Am Anfang demonstrierten die Student*innen. Arbeiter*innen schlossen sich ihnen erst an, nachdem Scheich Mohammad Reza Pahlevi Reformen angestoßen hatte, die zu einer massiven Inflation führten. Fabriken begannen zu schließen und entließen ihre Beschäftigten. Diese gewaltigen Demonstrationen zwangen den Schah schließlich dazu abzudanken und eine neue Regierung zu bilden. Ganz Ähnliches ereignete sich in Polen, wo die Gewerkschaft Solidarność und die Arbeiterbewegung eine gewichtige Rolle spielten.

Aufgrund von Entlassungen und Werksschließungen werden die Proteste dagegen zunehmen. Dadurch bekommen wir mehr Gelegenheit, unsere Agenda zu verbreiten, einschließlich unseres Antimilitarismus. Auf dieses Szenario zählen wir, und wir versuchen, es voranzubringen, indem wir Arbeiter*innen dazu aufrufen, sich selbst zu organisieren. In Russland wird es noch mehr Entlassungen geben, die Preise werden steigen und das Lohnniveau wird abstürzen. Ab einem bestimmten Punkt kann die Frage nicht mehr ignoriert werden.

Übersetzung: A. H.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz