Der folgende Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags, den ich [P. R.] am 15. April 2023 bei der zweiten Podiumsdiskussion des Internationalen Kolloquiums zum 100. Geburtstag von Ernest Mandel gehalten habe.
Pierre Rousset
Zu dem Thema der Diskussionsrunde „Mandel, 1968 und die neuen Radikalitäten“ war ich gebeten worden, seine Lesart des französischen Mai ’68 vorzustellen, ein Thema, für das es erforderlich war, den historischen Kontext in den Blick zu nehmen. [1] Denn das Jahr 1968 war auch das Jahr der Tet-Offensive in Vietnam, der militärischen Eskalation der USA in Indochina und des Prager Frühlings.
Ein Sammelband, den Jean-Marie Vincent mit Artikeln von Ernest Mandel unter dem Titel „La longue marche de la Révolution“ [2] (Der lange Marsch der Revolution) zusammengestellt hat, zeigt insbesondere die Bedeutung, die Ernest der chinesischen Revolution beimisst (ein bedeutender Teil des Buches ist ihr gewidmet), die Entwicklung seiner „Lesart“ der Weltlage in den Jahrzehnten vor den französischen „Ereignissen“ und die Erwartungen, die er mit der Radikalisierung der Jugend (Arbeiter*innen und Studierende) und dem Generalstreik vom Mai/Juni verband. Der erste Artikel in diesem Band stammt aus dem Jahr 1945. Der Artikel über den Vierten Kongress der IV. Internationale ist aus dem Jahr 1954 und trägt den Titel „Die Weltrevolution, von ihrer empirischen Phase zu ihrer bewussten Phase“ – eine Formulierung, die erklärt werden muss. Der letzte Artikel des Buchs lautet „Die Stellung des Neunten Weltkongresses in der Geschichte der Vierten Internationale“ und datiert aus dem Jahr 1969.
Alle diese Artikel Ernests wurden in der Zeitschrift quatrième internationale unter dem Pseudonym Germain veröffentlicht. Sie scheinen mir ein guter Ausgangspunkt für das zu sein, was ich in meinem Beitrag darlegen möchte.
Zusammenfassend möchte ich betonen: Mandel versteht die Bedeutung der asiatischen Revolutionen und er sorgt sich um unsere Fähigkeit, die Entwicklungen dieser Zeit zu erfassen, als die maoistischen Bewegungen einen Aufschwung erleben; wir dürfen nicht schwanken. In diesem Bemühen hätte er unserer Bewegung möglicherweise ein gewisses Sektierertum nahelegen können. Aber er analysiert diese Revolutionen positiv, nicht sektiererisch, und bemüht sich, den chinesischen Maoismus in seiner Originalität zu erfassen, seinen „Pragmatismus“, der ihn seiner Ansicht nach vom eigentlichen Stalinismus abhebt. Der Generalstreik vom Mai/Juni ist in seinen Augen das Ende eines großen „Umwegs“ der Weltrevolution, indem er die Möglichkeit eröffnet, ihren Schwerpunkt nach Westeuropa und ins Industrieproletariat zu verlagern. Daraus ergibt sich die grundlegende Bedeutung des Mai ’68 und die Botschaft, die davon in die Welt ausgeht.
In seinem Beitrag über den Neunten Weltkongress 1969 greift Ernest explizit seine früheren Analysen über die „empirische“ Phase der Weltrevolution auf (und bekräftigt sie damit im Nachhinein). So war der revolutionäre Aufstieg ab 1949 (die jugoslawische und die chinesische Revolution …) in seinen Augen durch „teilweises Bewusstsein“ und „Zentrismus“ gekennzeichnet. Seiner Ansicht nach änderte sich dies allmählich in den 1960er Jahren, insbesondere aufgrund der internationalen Radikalisierung der Jugend in Ländern wie Belgien und Frankreich und des Entstehens von Formen der Selbstverteidigung der Arbeiter*innen gegen die Repression. Damit begann die „bewusste“ Phase der Revolution …, deren programmatischen Ausdruck wir (die revolutionären Marxist*innen) verkörperten. „So“, schloss er, „kommt die internationale sozialistische Revolution in den imperialistischen Ländern zum Vorschein“ und unsere Sektionen müssen sich von Propagandagruppen in „Kampforganisationen“ (nicht zwangsläufig bewaffnete) verwandeln. Auf diesem Weltkongress trat die französische Ligue communiste als solche der Vierten Internationale bei. [3]
Bewusstsein und Teilbewusstsein, Zentrismus, Aktualität der sozialistischen Revolution in den imperialistischen Ländern … wir werden auf diese Begriffe zurückkommen. Zuvor möchte ich etwas zur Beziehung zwischen Germain und Mandel ausführen.
Die Aufmerksamkeit von Germain, einem führenden Vertreter der Vierten Internationale, ist stark auf unsere französische Organisation ausgerichtet. Für Mandel, einen bekannten marxistischen Ökonomen, ist das Spektrum der Gesprächspartner bedeutend breiter und das verwendete Vokabular variiert demzufolge. Anfang der 1960er Jahre leitete er Schulungen für den Pariser Verband der PSU und eine Broschüre, die seine Vorträge wiedergibt, wurde im Februar 1964 von den Cahiers des centres d‘études socialistes unter dem Titel „Initiation à la théorie économiste marxiste“ (Einführung in die Marxistische Wirtschaftstheorie) veröffentlicht. Er nahm an mehreren Streitgesprächen mit Vertretern der CFTC-CFDT und der PSU Rocard teil. Er griff aktiv in die Debatten zur Arbeiterkontrolle und zu der in Westeuropa zu verfolgende Strategie in der Zeit der Krise des Stalinismus ein. Ernest leistete über die Vermittlung von André Gorz regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift Les Temps modernes. Mitteilung von Jean-Claude Vessilier Hier veröffentlichte er übrigens seinen wegweisenden Artikel über den französischen Mai.
Neben Ernests eigener Erfahrung in Belgien müssen wir also auch diesen franko-europäischen Hintergrund im Blick behalten.
Auf der anderen Seite aber haben wir uns – ungeachtet der Bedeutung, die Ernest in der Vierten Internationale und für unseren Aufbau in Frankreich hatte – nie als „mandelistisch“ bezeichnet, sondern haben immer die Pluralität unserer politischen Bezüge betont, sei es kollektiv oder individuell. Es gab natürlich ein Generationenphänomen. Die JCR entstand aus der Krise der Union des étudiants communistes (UEC, Kommunistischer Studentenverband), über die die Kommunistische Partei (PCF) die Kontrolle verloren hatte. Die UEC war zu einem Schmelztiegel geworden, in dem sich viele neue Strömungen der radikalen Linken formierten. In der Führung der linken Fraktion befanden sich Mitglieder der PCI (der franz. Sektion der IV. Internationale). Als die JCR nach einem Prozess der Spaltung und des Ausschlusses gegründet wurde, wurde einer Reihe von Aktivist*innen die Mitgliedschaft in der Vierten Internationale angeboten, die dann gemeinsam eintraten, um den Kader der neuen Organisation zu stärken. Ich gehörte zu dieser Gruppe. Wir waren sehr unterschiedlich, aber die kollektiven Erfahrungen und die Lehren, die wir gemeinsam daraus zogen, haben uns zusammengeführt.
Viele von uns hatten die Gesamtausgabe der Werke Lenins in unseren Regalen stehen, wir lasen sie und benutzten sie, und sei es nur aus … pädagogischen Gründen. Ein Zitat von Trotzki, so passend es auch gewesen sein mochte, war in einer Auseinandersetzung mit Mitgliedern der KPF oder mit den Maoisten wertlos. Die Schriften Lenins hingegen waren der gemeinsame Bezugspunkt für fast alle Strömungen, die sich um das Prädikat „kommunistisch“ stritten. Außerdem ist er verdammt interessant, dieser Lenin, das muss man schon sagen! Kommunist*innen waren wir – wie hätten wir überhaupt „Sozialist*innen“ sagen können, wo doch die Sozialistische Partei diese schöne Bezeichnung für sich beansprucht hatte.
Ich bin recht kritisch (das Schlimmste kommt noch), aber es ist vielleicht an der Zeit, zu betonen, was ich dem Mai ’68 und Ernest verdanke. Meine Generation von Aktivist*innen hatte das außergewöhnliche Glück, im Jahr ’68 eine grundlegende Erfahrung zu machen, die uns in die Spur brachte. [5] Darüber hinaus hat mir der Beitritt zur Vierten Internationale geholfen, eine Verbindung zwischen dem studentischen Hyperaktivismus und den historischen und programmatischen Bezügen herzustellen, die von unseren damaligen Alten vermittelt wurden: Pierre Frank, Livio Maitan, Ernest … Mehr noch, wir wurden Marxist*innen, nachdem seinerzeit gerade damit begonnen worden war, den Reichtum des Marx’schen Werks im Lichte seiner Korrespondenz und der Vorarbeiten zur Abfassung des Kapitals zu erforschen. Ernest gehört zu dieser Scharniergeneration, die die Lektüre von Marx erneuert, und wir hatten das Glück, davon zu profitieren. Außerdem versteht er perfekt Deutsch – kann man Marx ohne diese Sprache überhaupt verstehen? Er war ein wertvoller Lotse.
Fabrikbesetzung Südfrankreich, 1968, Foto: George Garrigues |
Nach Ernests Ansicht war der Mai-Juni 68 keine revolutionäre Krise, sondern öffnete seiner Einschätzung nach ein Zeitfenster, das schnell zu einer allgemeinen Situation der Doppelherrschaft in Frankreich führen konnte. Für ihn war dieser „Moment“ vergleichbar dem „Februar 17“, eine vorrevolutionäre Krise, auf die in Russland acht Monate später die Oktoberrevolution folgte. Wir selbst bezeichneten diese „Ereignisse“ als eine „Generalprobe“, ein ungenauerer Begriff. Um zu versuchen, im Rahmen der Reflexion die Begriffe besser zu umreißen, plädiere ich für die Bezeichnung Regimekrise, in einem Kontext, der durch die Aktualität der internationalen Radikalität, die Konfrontation der Blöcke und – in einem Teil der „Dritten Welt“ – die Aktualität der Revolution geprägt ist.
Manchmal lese ich, dass es eines gewissen Abstands bedurfte, um zu verstehen, dass die Situation damals nicht revolutionär war. So formuliert, scheint mir das nicht korrekt zu sein. Natürlich wurde häufig der Begriff „Revolution“ benutzt, auch bei uns. Es ist kein Konzept, sondern ein gängiges Wort. Wir lebten in revolutionären Zeiten mit revolutionären Hoffnungen, in einer Revolution der Sitten, einer Generationenrevolution und so weiter und so fort. Doch wie ich in meinem Rückblick vom 13. Mai 2018 feststelle, spielten wir in Sachen Gewalt bewusst eine mäßigende Rolle. Wir wollten nicht, dass die Gewalt durch unser Zutun höher getrieben wurde. Pflastersteine, Molotowcocktails, Holzknüppel und (gefürchtete) Tischbeine aus unseren Unterrichtsräumen; aber nicht mehr. Die Gewalt hatten übrigens nicht wir „geschaffen“, sie existierte bereits vorher: der Algerienkrieg und die dort verübten Folterungen, die paramilitärischen Organisationen der Gaullisten, die Aggressivität faschistischer Strömungen im universitären Umfeld, Neonazigruppen der schlimmsten Art (gegen die wir übrigens einen Schattenkrieg führen mussten).
Man muss über die Bezeichnungsebene hinausgehen und die realen Aktivitäten untersuchen, um den Spannungsbogen zu erfassen, den es zwischen der außergewöhnlichen emanzipatorischen Stimmung und dem alltäglichen Realismus gab, den wir brauchten, um entscheiden zu können: „Was machen wir morgen?“. Ich zitiere etwas ausführlicher aus der Antwort, die Alain Krivine 1973 auf die Frage „Mai ’68, Revolte oder Revolution?“ gab. Der französische Mai, sagte er gleich zu Beginn, „stellt einen der weitestgehenden revolutionären Versuche in einem fortgeschrittenen kapitalistischen Land dar. (…) Innerhalb weniger Tage [waren] die Menschen nicht mehr wiederzuerkennen. (…) Die Straße begann zu sprechen (…) Unmöglich, die Gruppen zu vergessen, die nächtelang auf der Straße waren und diskutierten. Es war nur der Anfang einer Revolution, aber es war bereits ein Hauch von Befreiung zu spüren.“
Allerdings: „Der Verrat der PCF und der PS sowie das Fehlen einer von den Arbeiter*innen anerkannten alternativen Führung verhinderten den Übergang von der Revolte zur Revolution. In den täglichen Treffen mit Geismar, Sauvageot, Cohn-Bendit und einem Dutzend politischer Führer waren alle davon überzeugt. Und als der Plan, das Rathaus zu besetzen, d. h. eine härtere Gangart einzuschlagen – ein realisierbarer Schritt, aber für wie lange! – vorgeschlagen wurde, lehnten ihn alle ab. Es kam nicht in Frage, die Verantwortung für eine Kraftprobe zu übernehmen, die zu einer bewaffneten Konfrontation hätte führen können (…). Während dieser Zeit waren wir uns einig, dass sich das Problem der Machtergreifung nicht stellte – zumindest nicht für uns! – weil die mittelfristigen politischen Probleme nicht angegangen bzw. gelöst worden waren.“
„Einige politische Kämpfe fanden dennoch statt. Zunächst mit mehr oder weniger organisierten Gruppen, die wir manchmal physisch daran hinderten, Waffenlager zu plündern. Einige von uns wurden dann als ‚neue Bullen‘ beschimpft, aber das schien uns unerlässlich, um zu verhindern, dass eine Provokation zu einem Massaker durch echte Bullen führt.“ [6]
„Sicherlich kann man sagen, dass die Führung der KPF diese sich anbahnende Revolution verraten hat, aber zur Wahrheit gehört auch, dass die große Mehrheit der Arbeiter*innen zwar wusste, was sie nicht mehr wollte, aber sie wusste nicht, wohin es gehen sollte und wie man dorthin gelangen konnte. Und die KPF hatte leichtes Spiel, wenn sie ausführte, dass die Arbeiter*innen nicht für die Revolution bereit seien. In gewissem Sinne stimmt das, aber es beweist nur eins (…): Der Sozialismus und die Mittel, ihn durchzusetzen, entstehen nicht von sich aus im Bewusstsein der ausgebeuteten und entfremdeten Arbeiter*innenklasse; es ist die Aufgabe der Partei, die Arbeiter*innen in den täglichen Kämpfen in dieser Perspektive politisch zu bilden. Selbst mit gutem Willen konnte man nicht in drei Wochen Jahrzehnte der Untätigkeit und mangelnder politischer Bildung ersetzen.“ [7]
Es scheint mir interessant zu sein, Alains Aussagen mit denen von Ernest Mandel zu vergleichen, der in einem langen Artikel für die Zeitschrift Les Temps modernes im Juli 1968, in der Hitze des Gefechts, schrieb:
„Die Spontaneität ist die embryonale Form der Organisation“, schrieb Lenin. Die Erfahrung des Mai 1968 ermöglicht es, die Aktualität dieses Gedankens auf zweifache Weise zu präzisieren. Die Spontaneität der Arbeiter ist niemals reine Spontaneität; in den Betrieben wirken die Fermente der Avantgardegruppen – manchmal ein einziger erfahrener revolutionärer Aktivist –, deren Hartnäckigkeit und Geduld in diesen Momenten des auf den Höhepunkt getriebenen sozialen Fiebers belohnt werden. Die Spontaneität der Arbeiter führt zur Organisierung einer größeren Avantgarde, weil innerhalb weniger Wochen Tausende von Arbeitern die Möglichkeit der sozialistischen Revolution in Frankreich erkannten. Sie haben verstanden, dass sie sich zu diesem Zweck organisieren müssen, und sie knüpfen tausendfach Verbindungen mit Studenten, mit Intellektuellen, mit den revolutionären Avantgardegruppen, die nach und nach der künftigen revolutionären Massenpartei des französischen Proletariats ihre Form geben, von der die JCR schon jetzt als der solideste und dynamischste Kern erscheint.“ [8]
Er folgert: „Was im Mai 1968 für einen ersten entscheidenden Durchbruch zur Doppelherrschaft fehlte – damit Frankreich, auch wenn der Vergleich etwas hinkt, seinen Februar 1917 erleben würde – war eine revolutionäre Organisation, die in den Betrieben nicht zahlreicher zu sein brauchte, als sie es bereits an den Universitäten war. Zu diesem Zeitpunkt und an diesen Orten hätten kleine Kerne von bewusst auftretenden Arbeitern – mit einem korrekten Programm und einer politischen Analyse bewaffnet – sich Gehör verschaffen können. Sie hätten ausgereicht, um die Zerstreuung der Streikenden zu verhindern und in den wichtigsten Fabriken des Landes die Massenbesetzung und die demokratische Wahl der Streikkomitees durchzusetzen. Das wäre gewiss weder ein Aufstand noch die Machtergreifung gewesen. Aber eine entscheidende Seite in der Geschichte Frankreichs und Europas wäre aufgeschlagen worden. Alle, die den Sozialismus für möglich und notwendig halten, müssen dafür sorgen, dass es beim nächsten Mal so ist“.
Inwieweit glaubt Ernest, was er hier schreibt, inwieweit schreibt er, was er glaubt, sagen zu müssen, um der jungen, aktivistischen Mai-Generation Ermutigung zu geben? Weiter oben in diesem Text stellte er fest, dass eine Situation der Doppelmacht nicht lange anhalten kann, ohne dass die Massen auch die Macht erobern. Er war mit der Geschichte bestens vertraut und wusste, dass die Konterrevolution in einem solchen Fall ohne Mäßigung zuschlägt. Einen Vorgeschmack darauf bekamen wir übrigens schon im Juni 1968. Zwar war der Mai keine soziale Revolution und die darauffolgende Repression keine Konterrevolution. Aber was folgte war überaus bedeutsam: Auflösung von Organisationen, Verhaftungen und Verurteilungen, Gewalt der Unternehmermilizen, ständiges Durchkämmen ganzer Stadtviertel durch die Polizei, anhaltendes Demonstrationsverbot, Anti-Randalierer-Gesetz, das die Kollektivhaftung einführte …
Eine andere Frage betrifft die Schnelligkeit der Prozesse, die (unter bestimmten Vorbedingungen) zur Erhöhung des Klassenbewusstseins führen, die Ernest hier betrachtet, und seine Einschätzung, dass eine kleine revolutionäre Organisation (vergleichbar mit der JCR – wir waren winzig, vielleicht 500), die über eine angemessene Analyse und ein Programm verfügte, in Krisenzeiten eine führende Rolle innerhalb der Arbeiterklasse spielen könnte. Dazu hätte man so stark verwurzelt sein müssen, dass man die Repression durch die Bosse und die Polizei überstanden hätte, wenn es hart auf hart gekommen wäre. Ernest wusste, dass wir in Frankreich von einem niedrigen Bewusstseinsniveau aus starteten, aber ich fürchte, er überschätzte damals den vielfältigen Austausch zwischen Studierenden, Bauern und Arbeitern außerhalb bestimmter Regionen. Selbst überbetriebliche Verbindungen zwischen Streikenden wurden von der CGT erschwert, ohne dass dies an der Basis offenbar viel Protest hervorgerufen hätte. [9]
Ernest scheint hier der französischen Situation ein „belgisches Modell“ überzustülpen, das auf einer anderen Struktur der Arbeiterbewegung (Entrismus-PS-kämpferischer Syndikalismus) basiert als die, die wir in Frankreich hatten, und zum Beispiel Verbindungen zu der Strömung hatte, die sich an [dem belgischen Gewerkschafsführer] Renard orientierte. Eine kleine Gruppe konnte damals einen Einfluss gewinnen, der in keinem Verhältnis zu ihrer quantitativen Größe stand. Daher die spezifische Auffassung von der breiten Avantgarde, die zu einer Überschätzung ihrer Fähigkeit führte, eine größere Bewegung auszulösen. [10]
Ernest Mandel (1982) Foto: Hans van Dijk / Anefo |
Es war völlig logisch, 1968 zu versuchen, die Mauern so weit wie möglich aufzureißen. Die Potenziale waren wahrscheinlich größer, als es im Nachhinein den Anschein hat. Was wäre passiert, wenn die portugiesische Revolution ihren Kurs vertieft hätte und Francos Tod in eine Regimekrise gemündet wäre? Natürlich war es kein gutes Zeichen, dass es Thatcher gelang, den Bergarbeiterstreik niederzuschlagen, aber das bedeutete nicht, dass man vor der Niederlage defätistisch werden musste. Da die Situation in Europa so war, wie sie war, kann man wahrscheinlich sagen, dass sich das Anfang der 1960er Jahre geöffnete Fenster der Möglichkeiten um 1977 wieder schloss. Die Streikwelle nach 1968 lief aus, die europäische Situation und die internationale Lage veränderten sich.
In seinem Artikel über die Bedeutung des Neunten Weltkongresses der IV. unterstrich Ernest die „Ausweitung des weltrevolutionären Prozesses“ auf die imperialistischen Länder. Diese „Ausweitung“ ermöglicht es, die Dialektik zwischen dem, was wir die „drei Sektoren der Weltrevolution“ nannten, zu begreifen, die die „Kolonialrevolution“, die (antibürokratische) „politische Revolution“ in mehreren bürokratisch degenerierten „Arbeiterstaaten“ (wie wir sie damals nannten) und die sozialistische Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern miteinander verband. Dieses Verständnis war für uns sehr nützlich, um den Internationalismus auf die interdependenten Beziehungen und die enge Verwobenheit im Kampf zu gründen. Ein frühes Gegengift zum Lagerdenken.
In dem mit Germain gezeichneten Artikel steht, was Ernest aus der 1969 verabschiedeten Resolution lernen will. Resolutionen sind ein kollektives Werk und enthalten oft Kompromissformeln oder sogar „Ungereimtheiten“, die diese widerspiegeln oder die Komplexität der Situation und ihre Wahrnehmung in den einzelnen Ländern widerspiegeln.
Ernest stellt fest, dass das Gravitationszentrum der Weltrevolution zwei Jahrzehnte lang im „Sektor der Kolonialrevolution” (er spricht in der Vergangenheitsform) lag. In der „neuen Phase der Weltrevolution“ sieht er ihn eindeutig in den entwickelten kapitalistischen Ländern, die gekennzeichnet sind „durch ein viel größeres Gewicht des Industrieproletariats, durch ein höheres Bewusstseinsniveau als in der vorangegangenen Phase und durch viel größere Möglichkeiten für die Avantgarde, die an der Spitze der Revolution kämpft, den revolutionären Marxismus in sich aufzunehmen“. Aber war dies der Fall?
1968–1969 fand die Tet-Offensive in Vietnam statt, eine „68er Bewegung“ in Pakistan, die noch größer war als in Frankreich, die Krise des maoistischen Regimes (die Kulturrevolution) und der Protest gegen die stalinistische Ordnung in Osteuropa (der Prager Frühling). Die geopolitische Bedeutung der Ereignisse in den Sektoren der Kolonialrevolution und der sogenannten „politischen Revolution“ im Sowjetblock war in Wirklichkeit immer noch weit vorherrschend.
Was in den imperialistischen Ländern „aktuell“ war, war die Entstehung einer neuen revolutionären, extremen Linken in Nordamerika, Europa und Japan (das in dieser Hinsicht schon vor dem Mai ’68 eine Vorreiterrolle spielte). Dies veranlasste Ernest, in seinem Artikel nachdrücklich das Ende der „Entrismus“-Politik zu formalisieren, die in den 1950er Jahren in verschiedenen Formen umgesetzt wurde (Eintritt in die PCF in Frankreich) und von der sich die JCR bereits 1965–1966 gelöst hatte. Dieses „entristische“ Kapitel wurde ad acta gelegt, leider ohne die gebotene kollektive Bilanz zu ziehen.
Die besondere Bedeutung des französischen Mai ist vor diesem Hintergrund verständlich. Er strahlte international aus durch das, was er verkörperte. Wie Daniel Bensaïd in „Ein ungeduldiges Leben“ [11]feststellt, war er sowohl der größte Arbeiterstreik unserer Geschichte, als die Lohnabhängigen 80 % der Bevölkerung repräsentierten, als auch eine verallgemeinerte soziale Erhebung. Ein überlebensgroßes Experiment, das strategische Überlegungen (zu denen Ernest mit seinen Analysen zum Generalstreik beiträgt) und die Dialektik der zahlreichen Kampfebenen, die in den 1970er Jahren aufblühten, fördert, darunter das dynamische Zusammentreffen von Stadt und Land, das zur Entstehung der Confédération paysanne führte, die Rolle der klassenkämpferischen Strömungen in der (späten) Entstehung der zweiten Welle des Feminismus, die Bewegungen der Gastarbeiter*innen etc.
In dem Panorama, das Ludivine [12] vom Mai ’68 zeichnet, hebt sie die frühe Rolle der Bauernbewegungen Anfang der 60er Jahre oder der territorialen Kooperativen, die sich in bestimmten Regionen entwickelten, hervor. Für mich bleibt jedoch die Frage nach dem Verhältnis der Gewerkschaften (und der Linken) zum territorialen Raum weiter offen. Warum haben sich die Verbindungen „außerhalb der Fabriken“ nicht dauerhaft etabliert? Warum ist der territoriale Streik nicht in unsere Traditionen eingegangen?
Mandels Schriften rund um den Mai ’68 verlagern die Frage der Partei weitgehend auf die des Klassenbewusstseins. In dieser Hinsicht schließt der Artikel über den Neunten Weltkongress (1969) ausdrücklich an den Vierten Kongress (1954) an. „Die erste Phase der Weltrevolution ist die Phase des Zentrismus. Der Begriff ist ungenau und vage; er umfasst tatsächlich alle Phänomene der Arbeiterpolitik jenseits des Reformismus und des traditionellen Stalinismus und diesseits des revolutionären Marxismus [uns]. In diesem Fall finden Tito und Mao Tse-tung, Bevan und die Führer der linken japanischen SP, die Führer des 17. Juni 1953 (in Ostdeutschland) und die Führer des Streiks in Workuta, die frühen Führer der linksoppositionellen Strömungen in den kommunistischen Massenparteien (Marty, Crispin etc.) alle ihren Platz in dieser bunten Ansammlung des Zentrismus“. Er fügte hinzu: „Die Erfahrung hat bestätigt, dass diese Analyse richtig ist. Bis Mitte der 1960er Jahre – mit zwei Ausnahmen in Kuba und Japan (…) wurden alle Fortschritte der Weltrevolution von zentristischen Tendenzen geleitet oder nahmen zentristische Formen an.“ [13]
Der Begriff „Zentrismus“ gehört zu seinen „Schlagwörtern“, die jeder nach seinem Gusto interpretieren kann. In Ernests Fall wird er häufig mit „Empirismus“ und „Teilbewusstsein“ in Verbindung gebracht. Wie ich bereits in der Einleitung gesagt habe, ist diese Herangehensweise ein Gegenmittel gegen Sektierertum und eine Methode, jede dieser Bewegungen in ihren Eigenheiten zu verstehen.
Ernests Verwendung dieses Begriffs erscheint mir jedoch recht problematisch, wenn er die zentristischen Strömungen als zwischen drei Polen schwankend beschreibt: die „reine“ Sozialdemokratie, der „reine“ Stalinismus und … revolutionärer Marxismus (wir, im Wesentlichen). Zwei dieser Pole hatten eine starke physische Anziehungskraft, was für den dritten Pol nicht wirklich galt.
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Zentrismus und Pragmatismus erscheinen in Mandels Schema auch als Inkonsistenz, was nicht mit seiner eigenen Analyse des ganz spezifischen Weges der KP Chinas und Mao Zedongs hin zum Sieg von 1949 übereinstimmt. Ich finde diese Begriffe unangemessen, wenn es um Bewegungen wie die KPCh und die KP Vietnam geht, die großes Durchhaltevermögen und Krisenfestigkeit bewiesen haben, aber es hat mich gefreut, diesen Artikel in Der lange Marsch der Revolution wiederzufinden. Lautete unser Motto in den 1960er Jahren nicht „Die chinesische Revolution ist eine zu ernste Sache, um sie allein den Maoisten zu überlassen“?
Mandel stellt in diesen Texten auch Empirismus und Bewusstsein einander gegenüber. Auch hier kommt es immer auf den Kontext an, aber aus unserer eigenen Geschichte heraus neige ich dazu, sie hier miteinander zu verbinden. Eine Politik auf Prognosen zu gründen, hat uns viel Lehrgeld gekostet. [14] Es kommt darauf an, die sich abzeichnenden Entwicklungen so früh wie möglich zu erkennen, um das Neue zu denken. Dazu braucht man natürlich eine (marxistisches) Lesart der Gesellschaft. Diese haben wir als „bewussten Empirismus“ bezeichnet.
Mandel ist für seinen revolutionären Optimismus bekannt. Er hat diesen Optimismus viel zu lange gegen alle Widerstände aufrechterhalten. Ernests grundlegender Beitrag wurde von meiner gesamten Generation von Aktivist*innen in der Vierten Internationale anerkannt. Doch irgendwann kam es zu einer Entkopplung. Sie wurde in einer Episode sanktioniert, die Jan Willem Stutje in seiner sehr gut dokumentierten Biografie [15] beschreibt: Im Sommer 1983 fand in Toulouse ein Treffen von Führungskräften der europäischen Sektionen der Vierten statt, das offiziell sanktionierte, was wir bereits seit einigen Jahren wussten: Der politische Zyklus, der durch den Mai ’68 eröffnet worden war, war abgeschlossen. Ernest kam mit Verspätung an und widersprach diesem Realismus, indem er versicherte, dass die Aktualität der revolutionären Perspektive in Westeuropa weiterhin gültig wäre. Glaubte er auch dieses Mal wirklich daran?
Lässt sich eine Verbindung zwischen seinen Thesen aus dem Jahr 1968, seiner Haltung im Jahr 1983 … und darüber hinaus ziehen?
Übersetzung: Jakob S. und MiWe |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2023 (Juli/August 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz