Selbstbestimmungsrecht

Ein rechtmäßiger Platz für Taiwan

Lange waren die VR China und die Kuomintang-Regierungen auf ihrem Rückzugsgebiet Taiwan darin einig, dass es nur ein China gebe und sie selbst jeweils die legitimen Alleinvertreter Gesamtchinas seien. Erst in jüngster Zeit rückt die Frage des Selbstbestimmungsrechts für Taiwan immer stärker in den Vordergrund.

Au Loong-Yu

Peking begnügt sich neuerdings nicht mehr mit militärischen Manövern, sondern hat im August 2022 ein Weißbuch zur Taiwan-Frage veröffentlicht – in der Absicht, seine Politik des „einzigen China“ auf den letzten Stand zu bringen. Ein einziges China? Aber welches?

Peking setzt alles daran, um die Welt davon zu überzeugen, dass seine Politik auf folgenden Prämissen beruht:

  1. Es gibt nur ein einziges China auf der Welt.

  2. Taiwan gehört zu China.

  3. Die einzige repräsentative Regierung Chinas ist die Volksrepublik (VR) China.

  4. Taiwan ist Teil der VR China.

Taiwan hat den dritten und vierten Punkt angefochten, und wir können diese Meinung nicht ignorieren. Obwohl das Kuomintang-Regime (KMT) 1949 das chinesische Festland an die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) verloren hatte und nach Taiwan geflüchtet war, behielt es auf der Insel seine Republik China (RC) sowie seine Verfassung bei und beanspruchte damit das chinesische Festland für sich. Die KMT betrachtete die eigene Regierung als einzig rechtmäßige und repräsentative chinesische Regierung.

Die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) wiederum, die in Taiwan von 2000 bis 2008 an der Macht war und erneut für zwei Amtszeiten von 2016 bis 2024 gewählt wurde, hatte sich bereits 1992 für ein unabhängiges Taiwan ausgesprochen, jedoch nie Schritte zu einer Umsetzung unter­nommen.


Die Haltung der Vereinigten Staaten


Was die USA betrifft, so „erkennen sie an“ (Hervorhebung durch den Autor), dass alle Chinesen auf beiden Seiten der Meerenge von Taiwan den Standpunkt vertreten, dass es nur ein China gibt und dass Taiwan ein Teil von China ist. Die US-Regierung stellt diese Position nicht in Frage. Sie bekräftigt ihr Interesse an einer friedlichen Lösung der Taiwan-Frage durch die Chinesen selbst.“ (Shanghai-Kommuniqué von 1972).

Die USA haben bewusst den Begriff „anerkennen“ und nicht „zur Kenntnis nehmen“ verwendet und gleichzeitig vermieden, ein Land beim Namen zu nennen, wodurch die Feststellung, dass „Taiwan [ist] ein Teil von China“ ist, vage genug blieb, um die eigenen – damals noch nicht allgemein bekannten, aber sich bereits abzeichnenden – Absichten weiter zu verfolgen. Damals erkannten die USA das Regime der Republik China noch an, begannen aber bereits, engere Beziehungen zu Peking in Betracht zu ziehen. Im Jahr 1979 wurde dieses Vorhaben durch die Aufnahme formeller diplomatischer Beziehungen mit der VR China auf Kosten der Republik China (die bereits Ende 1971 aus den Vereinten Nationen ausgeschlossen worden war) in die Tat umgesetzt. Peking und seine Anhänger waren stets bemüht, den Eindruck zu erwecken, dass die USA durch die Aufnahme formeller diplomatischer Beziehungen mit der VR China auch die Zugehörigkeit Taiwans zur Volks­republik anerkennen würden, wovon im Shanghai-Kommuniqué von 1972 allerdings nie die Rede war. Die USA haben sich zwar gegen eine Unab­hängig­keit Taiwans ausgesprochen (was zur Folge gehabt hätte, die Bezeichnung „Republik China“ offiziell etwa durch „Republik Taiwan“ zu ersetzen), aber nie geklärt, zu welchem „China“ Taiwan gehört: zur VR China oder zur Republik China. Daran hat auch die Anerkennung der Volksrepublik durch die USA im Jahr 1979 nichts geändert. [1]

Jedenfalls hat Washington die VR China als einzig rechtmäßige Regierung Chinas anerkannt. Damit stellen die USA das Recht der taiwanesischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung in Abrede. Washington hat zwar seine Position hinsichtlich der Beziehungen zwischen den beiden Seiten der Meerenge teilweise adaptiert, jedoch seine Taiwan-Politik in Grundzügen beibehalten.


Der „Konsens von 1992“


Das Weißbuch greift die taiwanesische DPP-Regierung frontal an: „Sie weigert sich, das Ein-China-Prinzip zu akzeptieren, verfälscht und leugnet den ,Konsens von 1992‘, behauptet, dass ,die Republik China und die Volksrepublik China einander nicht untergeordnet sind‘ und rückt die ,neue Zwei-Staaten-Theorie‘ auffällig in den Vordergrund.“

 

Chinesische Zerstörer

Foto: Took-ranch

Der „Konsens von 1992“ bezieht sich auf den Abschluss der Gespräche zwischen Peking und der Kuomintang-Regierung in Taipeh im Jahr 1992, wo in einer mündlichen Vereinbarung festgehalten wurde, dass „beide Seiten der Meerenge“ zu „China“ gehören, aber beide Parteien „überein­kommen, sich nicht zu einigen“, wie der Begriff „China“ (VR China oder Republik China) zu inter­pretieren ist. Das kann nur heißen, dass die beiden Seiten der Meerenge „einander [eben] nicht untergeordnet sind“). [2] Daher verwundert es, dass das Weißbuch Taiwan in diesem Punkt attackiert, zumal die taiwanesische Regierung (unabhängig davon, wie sich der eine oder andere taiwanesische Staatschef zum Ärger Pekings zu den Beziehungen zwischen den beiden Seiten der Meerenge geäußert hat) an der Verfassung der Republik China festhält und somit ihr Bekenntnis zur „Ein-China-Politik“ keineswegs widerrufen hat. Offensichtlich bedauert Peking, worauf man sich im Jahr 1992 geeinigt hat, und versucht, die Tatsachen zu verschleiern.

Die Auslegung des „Konsenses von 1992“ durch das Weißbuch widerspricht auch einer mündlichen Äußerung des ranghöchsten Politikers Pekings gegenüber George W. Bush. Anlässlich eines im Jahr 2008 geführten Telefongesprächs zwischen dem chinesischen und dem US-amerikanischen Präsidenten über Taiwan erklärte der damalige chinesische Präsident Hu Jintao: „China hat immer die Auffassung vertreten, dass das chinesische Festland und Taiwan die Konsultationen und Gespräche auf der Grundlage des ,Konsenses von 1992‘ wieder aufnehmen sollten, demzufolge beide Parteien anerkennen, dass es nur ein China gibt, aber sich darauf geeinigt haben, hinsichtlich der Definition des Konsenses unterschiedlicher Meinung zu sein.“ [3]

Peking ist bestrebt, die Welt zu verunsichern, da es nicht nur die Unab­hängig­keit Taiwans ablehnt, sondern auch daran interessiert ist, die Republik China vollständig zu beseitigen, um die Herrschaft über das taiwanesische Volk zu erlangen. Vor dreißig Jahren war Peking noch lange nicht so selbst­bewusst wie heute und ging daher weniger aggressiv gegen Taiwan vor. Heute hat Xi Jinping nicht mehr die Geduld, friedliche Verhandlungen abzuwarten. Er könnte Taiwan schon bald an den Ver­handlungstisch zwingen, während er gleichzeitig mit einer bewaffneten Annexion droht. Aus diesem Grund verschärft Xi seine Gangart Taiwan gegenüber. Und deshalb setzt das Weißbuch gegenüber Taiwan seine Propaganda für die Regelung „ein Land, zwei Systeme“ unverhohlen fort, obwohl diese nach der Unterdrückung der Hongkonger Autonomiebewegung durch Peking seit 2020 poli­tisch bankrott ist. Heute geht es nicht mehr darum, „die Herzen des taiwanesischen Volkes zu gewinnen“, sondern nur mehr darum, in den Herzen der Taiwanesen Angst zu verbreiten. Dieses Maß an Arroganz und Aggressivität verärgert nicht nur die 23 Millionen Taiwanesen, indem es ihnen ihr demokratisches Recht abspricht, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, sondern hat auch zur Folge, dass die Kuomintang – die einzige große Partei in Taiwan, die Peking gegenüber gefügig ist – zunehmend unpopulär wird, womit Peking auch seinen eigenen Handlungsspielraum ein­schränkt. Das ist Peking anscheinend egal, denn es hat sich dazu entschlossen, Taiwan in die Enge zu treiben. In den letzten zehn Jahren war es immer Xis aggressive Haltung, die zu einer Zunahme der Spannungen auf beiden Seiten der Meerenge geführt hatte.


Die Entwicklung der Demokratischen Fortschrittspartei von Taiwan


Das Programm der DPP von 1991 enthielt die Forderung nach einer unabhängigen Republik Taiwan durch eine Volksabstimmung. Gleichzeitig wurde die Verfassung der Republik China, welche die Gerichtsbarkeit über den Festlandteil des Landes beansprucht, als veraltet bezeichnet.

Obwohl die DPP vier Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, hat keiner ihrer Präsidenten die im Programm vorgesehene Abhaltung eines Unab­hängig­keitsreferendums in die Tat umgesetzt. Viel­mehr hat die Partei ihr Programm zur Unab­hängig­keit Taiwans mehrfach neu interpretiert und schließlich die Position einer rechtlichen Unab­hängig­keit zugunsten einer faktischen Unab­hängig­keit aufgegeben. Sie akzeptiert somit die Verfassung des Landes und betrachtet die Republik China als eine von der VR China getrennte politische Einheit. Damit geht die DPP nicht nur als Reaktion auf den Druck aus Peking, sondern vor allem auf den Druck aus Washington einen Kompromiss ein. Es handelt sich in der Praxis um die Aufrechterhaltung des Status quo, der nach wie vor von mehr als der Hälfte der Bevölkerung unterstützt wird.


Pekings imperiale Ambitionen


Das Weißbuch rechtfertigt seinen Anspruch gegenüber Taiwan unter Berufung auf die Kairoer Erklärung von 1943, die von Kuomintang-China, den USA und Groß­britannien verlautbart wurde: „Alle von Japan eroberten chinesischen Gebiete, wie die Mandschurei, Formosa und die Pescadores, werden an die Republik China zurückgegeben.“ Aus Gründen der politischen Korrekt­heit wurden die Namen der oben genannten Gebiete später in „Nordostchina, Taiwan und die Penghu-Inseln“ ungewandelt. Es war jedoch ein schwerer politischer Fehler, sich auf dieses Doku­ment zu beziehen, um Pekings Anspruch auf Taiwan zu begründen. Behauptet Peking etwa nicht, ein „sozialistisches“ Regime zu sein? Warum beruft es sich dann auf die Autorität eines Abkommens, das von den Imperialisten Roosevelt und Churchill auf der einen und Tschiang Kai-schek, dem Henker der KPCh, auf der anderen Seite unterzeichnet wurde? Wie kann ein sozialistisches Regime die imperialistischen Mächte, die die Welt unter sich aufteilen, anerkennen, zumal diese sogar zugestimmt haben, Tschiang die von Japan besetzten Gebiete zurückzugeben, bloß um Japan zu bewegen, seine Kriegsanstrengungen zu verdoppeln? Das Weißbuch enthält jedochnoch weitere Verfälschungen. Es beinhaltet nämlich implizit ein Gründungsprinzip der VR China, das gegen sozialistische Grundsätze verstößt, indem es die VR China als natürliche Nachfolgerin des Kuomintang-Regimes betrachtet, das sich seinerseits in der Nachfolge der Qing-Dynastie sah. Damit folgt es einer imperialistischen und expansionistischen Doktrin, und zwar unge­achtet der Tatsache, dass das China der Kuomintang vom westlichen Imperialismus beherrscht wurde.

Insofern überrascht es nicht, dass die KPCh bereits Anfang der 1940er Jahre ihre ursprüngliche (mit der Praxis der Bolschewiki übereinstimmende) Position, für die Selbstbestimmung von Minderheiten in China (wie den Tibetern und Uiguren) einzutreten, aufgegeben hat. Pekings jüngste Forderung in Bezug auf die Neun-Punkte-Linie im Südchinesischen Meer folgt derselben Logik: „Wir müssen alle territorialen Forderungen des Kuomintang-Regimes durchsetzen“, egal wie fragwürdig die An­sprüche der KMT waren. Dieser reaktionäre Standpunkt reicht aus, um die KPCh als rechtmäßige Vertreterin des chinesischen Volkes zu diskreditieren. Wer von der „heiligen Aufgabe der Ver­einigung aller Chinesen“ spricht, sollte sich zuallererst über eine vollumfängliche Demokratisierung Chinas Gedanken machen, inkl. des Selbstbestimmungsrechts seiner eigenen Minderheiten. Nur so kann China vor einem sinnlosen Krieg bewahrt werden.

Ein Blick in die Geschichte der „Ein-China-Politik“ erklärt auch, warum sich zahlreiche Regierungen der Interpretation Pekings angeschlossen haben. Die Anerkennung der VR China als einzig recht­mäßiger Vertreterin Chinas erfolgte ausschließlich aufgrund geänderter politischer Einschätzungen. Aber auch das ist nicht in Stein gemeißelt. Schließlich war auch die Aufnahme der VR China in die Vereinten Nationen im Jahr 1971 auf Kosten der Republik China das Ergebnis einer Neubewertung der beiden Republiken durch die UN-Mitgliedsstaaten. Während Washing­tons Haltung die eigenen imperialen Ambitionen untermauern sollte, konnten andere Regierungen, die damals eine ähnliche Position einnahmen, davon überzeugt werden, dass die VR China fort­schrittlich (oder sogar „soziali­stisch“) war und die von der KMT geführte Republik China reaktionär.

Inzwischen sind fünfzig Jahre vergangen. Zwar haben sich die beiden Republiken seit 1979 (nach den kapitalistischen Reformen von Deng Xiaoping) in Bezug auf das Wirtschaftssystem angenähert, doch in politischer Hinsicht, etwa was den Spielraum für Protestbewegungen betrifft, haben sie sich auseinanderentwickelt. Das autokratische System in Peking hat sich seither sukzessive verhärtet. Taiwan hingegen konnte dank des entschlossenen Widerstands seiner Bevölkerung seit den 1970er Jahren die Einparteiendiktatur der Kuomintang zugunsten eines liberalen Kapitalismus überwinden, wo auch die unteren Schichten das Recht haben, sich zu organisieren, zu protestieren und an Wahlen teilzunehmen. Obwohl die taiwanesische Elite immer noch gehörige Macht über die gewöhnliche Bevölkerung ausübt, hat diese nach wie vor das Recht, Widerstand zu leisten, wenn sie sich zum Kampf entschließen sollte. Unter dem Regime in Peking hingegen gibt es diese Frei­räume nicht. Es ist höchste Zeit für die Demokraten auf der ganzen Welt, den Charakter der beiden Republiken im 21. Jahrhundert neu zu bewerten und ihre Positionen entsprechend anzupassen.


Was will die taiwanesische Bevölkerung?


Tabelle 1: Unab­hängig­keit Taiwans oder
Vereinigung mit dem Festland (in %)

 

1994

2022

- Vereinigung so bald wie möglich

4,4

1,3

- Status quo beibehalten, auf Vereinigung hinarbeiten

15,6

5,1

für Vereinigung

20,0

6,4

- Status quo beibehalten, spätere Entscheidung

38,5

28,3

- Status quo auf unbestimmte Zeit beibehalten

9,8

28,6

für Beibehaltung des Status quo

48,3

56,9

- Status quo beibehalten, in Richtung Unab­hängig­keit gehen

8,0

25,2

- Unab­hängig­keit so bald wie möglich

3,1

5,1

für Unab­hängig­keit

11,1

30,3

- keine Antwort

20,5

5,2

 

Die KPCh ist bis 1949 für das Recht der Taiwanesen auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf Unab­hängig­keit, eingetreten, wie auch dem Gründungsprinzip der Kommunistischen Partei Taiwans zu entnehmen ist. Im Jahr 1927 beauftragte die Dritte Internationale die Kommu­nistische Partei Japans, bei der Gründung der Kommunistischen Partei Taiwans im Jahr 1928 behilflich zu sein. Bei diesem Unterfangen spielte auch die KPCh eine wichtige Rolle. Am 3. Mai 2022 veröffentlichte die Zeitschrift Diplomat einen Artikel, um Peking an die historischen Tatsachen zu erinnern. Sie zitierte ein Interview, das Edgar Snow mit Mao Zedong im Jahr 1937 geführt hatte und das in seinem bekannten Buch „Roter Stern über China“ wiedergegeben wurde: „Wir werden ihnen [den Koreanern] unsere bedingungslose Unterstützung in ihrem Kampf um die Unabhängig­keit zukommen lassen. Dasselbe gilt für Taiwan.“ Damit zog sich das Blatt den Unmut des Büros für Taiwan-Angelegenheiten des Staatsrats in Peking zu, wobei das Büro sorgfältig vermied, Snows Interview zu erwähnen – mit gutem Grund, denn es handelt sich dabei um eine unbestrittene Tatsache. [4] Die Regierungspartei hat ihr Gründungsprinzip so radikal verraten, dass sie sich ihrer eigenen Vergangenheit schlichtweg nicht stellen kann.

Gegenwärtig streben die meisten Taiwanesen jedoch nicht danach, sich das Recht auf eine de-jure-Unab­hängig­keit durch ein Referendum zu erkämpfen. Sie sind für die Beibehaltung des Status quo (von einigen als de-facto-Unab­hängig­keit interpretiert), wie eine Meinungsumfrage aus dem Jahr 2022 zur Zukunft Taiwans zeigt (Tabelle 1) [5]


Wer waren die ersten Einwohner*innen von Taiwan?


Der Hauptgrund für die Zunahme der Umfragewerte für eine Unab­hängig­keit auf Kosten der Werte für die Vereinigung und der Grund für die fehlenden Antworten ist Pekings zunehmend reaktionäre Politik. Das Weißbuch zu Taiwan ist dafür bloß das jüngste Beispiel. Darin wird behauptet, dass „Taiwan seit der Antike zu China gehört“. Als Beweis wird das Jahr 230 n. Chr. angeführt, in dem Taiwan von den Chinesen erstmals erwähnt wurde. Damit wird mit einem Taschenspielertrick die Existenz der autochthonen Bevölkerung, die seit mehr als 6 000 Jahren auf Taiwan lebt, geleugnet. Außerdem beweist ein altes chinesisches Dokument über Taiwan gar nichts! Die Sprache der indigenen Völker Taiwans gehört zur austronesischen Sprachfamilie, deren Sprecher*innen auf den Inseln des Pazifischen Ozeans und auf der Inselwelt Südostasiens sowie in Taiwan zu Hause sind. Sie sind die ältesten Bewohner*innen der Insel, aber keine Chinesen. Das Weißbuch weicht jeglicher Debatte über diese Frage aus, indem es die indigenen Völker einfach ignoriert: Die Begriffe „indigene Taiwanesen“ oder „Aborigines“ kommen in dem 14 000 Zeichen umfassenden Dokument kein einziges Mal vor!

Die Urbevölkerung stellt heute nur mehr einen verschwindend geringen Teil der Gesamtbevölkerung dar, nämlich 2,3 %. Aber Peking hat auch kein Verständnis für die größte ethnische Gruppe, näm­lich die Benshengren (wörtlich „Menschen aus dieser Provinz“). Diese stammen von Chinesen ab, die vor Hunderten von Jahren eingewandert sind, und gehören hauptsächlich den Hoklo und den Hakka an, die zusammen 86 % der Bevölkerung ausmachen. Sie sprechen Han-Chinesisch, haben aber vor langer Zeit jegliche Verbindung zum Festland verloren; viele verstehen sich in erster Linie als Taiwanesen – im Gegensatz zur Bevölkerung Hongkongs, wo viele Menschen noch enge familiäre Bindungen zum Festland haben. Was die Waishengren (wörtlich „außerhalb der Provinz lebende Menschen“) betrifft – also die Festlandbewohner, die sich erst nach dem Ende der japanischen Herrschaft 1945 in Taiwan niederließen – so identifiziert sich die jüngere Generation zunehmend als taiwanesisch und nicht als chinesisch, obwohl dieses Phänomen relativ neu ist. Im Übrigen führt eine Entscheidung für die „taiwanesische“ Identität nicht zwangsläufig zu einer Ablehnung der „chinesischen“ Identität. Die Tatsache, dass die Taiwanesen beginnen, massenhaft eine „ausschließlich taiwanische“ Identität für sich zu reklamieren, ist neueren Datums. Sie ist eine Folge der militärischen Manöver, die Peking 1996 gegen Taiwan führte, um das Land zu warnen, keinen Millimeter von der politisch korrekten „Ein-China-Politik“ abzuweichen. Einer Umfrage aus dem Jahr 1992 zufolge wählten 46,4 % der Befragten die Identität „chinesisch und taiwanesisch“, während diejenigen, die sich für eine „taiwanesische“ Identität entschieden, nur 17,6 % ausmachten. Im Jahr 2021 hingegen unterstützten 62,3 % der Befragten letztere Option, während erstere auf 31,7 % zurückgegangen war. [6]


Peking entfesselt seine eigenen zentrifugalen Kräfte


Es besteht jedoch keine zwangsläufige Verbindung zwischen der Entwicklung der Identitätswahl und einer Bewegung für die Unab­hängig­keit. Derzeit wollen die meisten Taiwanesen den Status quo beibehalten, und selbst von den 30,3 % der Unab­hängig­keitsbefürworter sind nur 5,1 % für eine „Unab­hängig­keit zum frühestmöglichen Zeitpunkt“, während die restlichen 25,2 % sich für „Status quo beibehalten, in Richtung Unab­hängig­keit gehen“ entschieden haben. Welche Schlüsse ziehen wir daraus? Die Unab­hängig­keit Taiwans steht keineswegs unmittelbar bevor, und somit ist die „Bedrohung“ für Peking (und Washington) alles andere als real. Die Spannungen auf den beiden Seiten der Meerenge werden weniger durch diplomatische Gesten (etwa den Besuch der US-Kongress-Vorsitzenden Nancy Pelosi in Taiwan) geschürt als vielmehr durch die generelle Politik Pekings gegenüber Taiwan. Peking begnügt sich nicht mehr damit, die Unab­hängig­keit Taiwans zu hintertreiben, sondern zieht eine völlig willkürliche „rote Linie“. Xi Jinping hat sich von Deng Xiaopings relativ gemäßigtem Ansatz in Bezug auf die Diplomatie im Allgemeinen und Taiwan im Besonderen verabschiedet und will Taiwan so schnell wie möglich in die VR China integrieren, notfalls mit Gewalt, wie seine Kriegsrhetorik zeigt. Es überrascht also nicht, dass Peking seine früheren Versprechen bezüglich Taiwans gebrochen hat: Im Weißbuch zu Taiwan fehlt die ursprüng­liche Klausel, die Taiwan gemäß seiner Auffassung von einem Land und zwei Systemen eine eigene Armee zugesteht. Auch die Zusicherung, die Armee [der VR China, Anm. d. Übers.] nicht nach Taiwan zu schicken, wurde fallen gelassen. Es gilt, einen Krieg zwischen den beiden Seiten der Meerenge zu verhindern, doch dazu bedarf es vor allem eines korrekten Verständnisses der Situation vor Ort: Es ist Peking, das durch seine Verweigerung der Grundrechte der taiwanesischen Bevölkerung immer mehr Taiwanesen in die Unab­hängig­keit treibt – und nicht die USA, zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Daher ist es zwecklos, lediglich auf Washington Druck auszuüben, um die Spannungen auf beiden Seiten der Meerenge zu entschärfen.

Unter der Kuomintang gab es in der taiwanesischen Gesellschaft vier Kategorien von „Staats­bürgern“, wobei die Urbevölkerung am untersten Ende der Skala stand. Obwohl die taiwanesischen Benshengren einen höheren Status als die Ureinwohner hatten, wurden auch sie brutal unterdrückt und sprachlich diskriminiert. So konnten etwa Benshengren-Kinder, die in der Schule ihre Mutter­sprache verwendeten, bestraft werden. Auch die Mehrheit der Waishengren, welche die ursprüng­liche Basis der Kuomintang bildeten, als diese das chinesische Festland an die KPCh verlor, hatte kaum Rechte, während die Kader der Regierungspartei die privilegierte „politische Klasse“ auf der Insel bildeten. Die einfachen Taiwanesen standen zuerst unter der Herrschaft der Qing-Dynastie, dann der Japaner und später der Kuomintang. Ihr jahrzehntelanger entschlossener Widerstand bescherte ihnen schließlich in den frühen 1990er Jahren eine liberale Demokratie. Ihr Weg in die Freiheit ist noch nicht abgeschlossen, aber er folgt einem historischen Modernisierungspfad, der sich stark von dem der Festlandchinesen unterscheidet, woraus sich ein natürliches Recht auf Selbstbestimmung ableiten lässt. Die Berücksichtung des Willens der taiwanesischen Bevölkerung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Lösung der Krise an der Meerenge. Es ist daher die Pflicht aller Demokraten, Peking daran zu erinnern, dass das Recht auf Selbstbestimmung ein Grundprinzip jedes demokratischen Nationalstaats mit heterogener Bevölkerung ist. Dieses Recht muss nicht zwangsläufig zu einer Abspaltung und zur Gründung einer Vielzahl von Kleinstaaten führen. Es könnte sogar den Weg für eine demokratische und freie (Wieder-)Vereinigung zwischen benachbarten Nationen und Ethnien ebnen, wie uns die bolschewistische Revolution gezeigt hat.

In den Augen Pekings sind alle chinesischsprachigen Menschen Untertanen, die sich ihm fügen müssen. Der Ton legt nahe, dass von den Taiwanesen erwartet wird, alles gut zu heißen, was Peking ihnen diktiert, und sogar eine „Umerziehung“ seitens Pekings zu akzeptieren, wie ein chine­sischer Diplomat gegenüber einem französischen Fernsehsender erklärt hat: „Nach der Wieder­vereinigung [mit Taiwan] werden wir eine Umerziehung in Angriff nehmen“. [7] Das ist die Sprache des Totalitarismus und des Kolonialismus. Indem Peking die Rechte der Taiwanesen kategorisch verneint, wiederholt es die Handlungsmuster früherer Despoten auf Taiwan. Diese Politik ist der sicherste Weg, die immer einflussreicher werdenden zentrifugalen Kräfte an der Peripherie des chinesischen Fest­lands und jenseits der Meerenge weiter zu stärken. Chinesische Nationalisten sollten sich daher folgende Fragen stellen: Wenn Xi auf seiner kontraproduktiven Politik beharrt, um die Herzen der Taiwanesen zu erobern, sollten sie ihn dann nicht als Anführer zum Teufel schicken? Oder verfolgt er mit seiner nationalistischen Propaganda seine eigenen Interessen, um die abso­lute Macht zu erlangen?

      
Mehr dazu
Pierre Rousset: Eine politische Konterrevolution, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Pierre Rousset: Die Vereinigten Staaten und Eurasien: Einige geopolitische Überlegungen in Zeiten globaler Krise, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022) (nur online)
Pierre Rousset: Neuer Imperialismus in China, die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022)
Interview mit Au Loong-Yu: Stärke und Widersprüche der chinesischen Wirtschaft, die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018)
IV. Internationale: Kapitalistische Globalisierung, Imperialismen, geopolitisches Chaos und die Folgen, Inprekorr Nr. 6/2016 (November/Dezember 2016)
Pierre Rousset: Der chinesische Imperialismus, Inprekorr Nr. 3/2016 (Mai/Juni 2016)
Au Loong-Yu: Bürokratischer Kapitalismus?, Inprekorr Nr. 1/2013 (Januar/Februar 2013)
Gilbert Achcar: China – eine kapitalistische Supermacht?, Inprekorr Nr. 406/407 (September/Oktober 2005)
 

Ist Washington der wahre Freund Taiwans?


Abschließend noch ein Wort zu Washington. Im Moment ist Peking in der Offensive. Daraus könnte man schließen, Washington wäre Taiwans Verbündeter, was das gemeinsame Anliegen der Auf­rechterhaltung des Status quo betrifft. Man darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass Washington ebenso wie Peking das Selbstbestimmungsrecht Taiwans nie akzeptiert hat. Sollte die Unabhängig­keitsbewegung Fahrt aufnehmen, ist nicht auszuschließen, dass es zu einer Konfrontation mit Washington kommt. Gerade wegen der Möglichkeit eines solchen Szenarios hat sich Washington hinter den Kulissen immer wieder in die taiwanesischen Wahlen und die öffentliche Meinungs­bildung eingemischt, um die Unab­hängig­keitsbewegung unter Kontrolle zu halten. Unabhängig vom Grad des Erfolgs dieser Bemühungen steht fest, dass die derzeitige gemeinsame Basis zwischen der taiwane­sischen Bevölkerung und Washington allmählich zu bröckeln beginnt. Noch inszeniert sich Washington als Freund Taiwans, aber nur, weil das seinem eigenen taktischen Kalkül ent­spricht. Aber die strategischen Vorstellungen der USA zur Verteidigung ihres Imperiums decken sich nicht immer mit den Wünschen der taiwanesischen Bevölkerung. Erinnert sei an das Jahr 1979, als die Taiwanesen von einer apokalyptischen Nachricht überrascht wurden: Washington würde Taiwan aufgeben und stattdessen die VR China anerkennen. Die Behauptung, Washington sei der wahre Freund Taiwans, ist daher mit Vorsicht zu genießen.

Allerdings ist auch ein völlig anderes Szenario möglich, nämlich, dass Washington von seiner Ein-China-Politik abgeht und stattdessen aus machtpolitischen Überlegungen für eine Unab­hängig­keit Taiwans eintritt, selbst wenn Taiwan dafür noch nicht bereit sein sollte.

Wie auch immer, die Taiwanesen sind in großer Gefahr, denn sie sind der unbedeutendste Akteur in diesem großen Wettstreit und können jederzeit von der einen oder anderen Supermacht bedroht oder fallen gelassen werden. Genau aus diesem Grund muss sich die internationale Linke die folgende Frage stellen: Um wen müssen wir uns in dieser Dreiecksbeziehung zwischen Peking, Taipeh und Washington die größten Sorgen machen? Ich behaupte, dass es weder Peking noch Washington sind, sondern die Menschen von Taiwan. Wer sich als links bezeichnet, aber sich weigert, den Unterdrückten die Hand zu reichen oder ihren rechtmäßigen Platz auf der Welt anzuerkennen, um den „Frieden“ zwischen den beiden Supermächten nicht zu gefährden, verdient es nicht, als links bezeichnet zu werden.

27. Oktober 2022
Übersetzung aus dem Französischen: E. F.
Au Loong-Yu, Aktivist in Borderless Movement (Bewegung ohne Grenzen) in Hongkong und Mitglied des Redaktionsrats des China Labor Net und des Globalization Monitor. Er ist der Haupt­autor des Buches No Choice but to Fight: A Documentation of Chinese Battery Women’s Struggle for Health and Dignity, das in Hongkong veröffentlicht wurde, sowie von China’s Rise: Strength and Fragility, Merlin Press & Resistance Books & IIRE, 2012.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2023 (Juli/August 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Siehe zum Beispiel: CSIS (2017): What Is the U.S. “One China” Policy, and Why Does it Matter.

[2] Es sei darauf hingewiesen, dass die englische Übersetzung zwar behauptet, die DDP würde eine normative Aussage machen, die Formulierung im chinesischen Original jedoch zeigt, dass die DDP lediglich den Sachverhalt darstellt, der den Konsens widerspiegelt („Both parties have a different interpretation of the term ,China‘.“) Die englische Übersetzung erwähnt nicht die Namen der beiden Staaten und geht mit der DPP etwas härter ins Gericht.

[3] Der chinesische und der US-amerikanische Präsident führen Telefongespräche über Taiwan und Tibet (26.03.08), Botschaft der Volksrepublik China in den Vereinigten Staaten von Amerika (mfa.gov.cn)

[4] Edgar Snow: Red Star over China: The Classic Account of the Birth of Chinese Communism, Bantam edition, Grove Press, New York 1978, p. 90.

[5] Election Study Center, NCCU: “Taiwan Independence vs. Unification with the Mainland (1994~2022/06)”, zitiert in Newsweek vom 14. Juli 2022. Eine neuere Umfrage vom Dezember 2022 kann auf der Website des ESC-NCCU eingesehen werden.

[6] siehe europe-solidaire.org

[7] Interview mit Lu Shaye, dem chinesischen Botschafter in Frankreich, auf BFMTV.