Anfang Februar dieses Jahres wurden die gesamten Grundstücke des Mutterunternehmens FILKERAM JOHNSON – die alte Fabrik der VIO.ME war eine ihrer Tochterfirmen – in einer digitalen Zwangsversteigerung zu einem Preis in Höhe von 9 237 500 Euro an einen südafrikanischen Investmentfonds vergeben. Es war der einzige Interessent, der an der Zwangsversteigerung teilnahm. Sein Gebot lag um einen Euro höher als der geforderte Startpreis der Auktion, und er bekam auch den Zuschlag. Anscheinend haben die neuen Eigentümer vor, ein neues Einkaufszentrum und Gebäude mit Büroflächen zu errichten. Wie zu erwarten, ist die zurückeroberte und selbstverwaltete VIO.ME in höchster Gefahr. Doch die Kolleg*innen werden unter keinen Umständen ihr Lebenswerk aufgeben. Ein breiter Widerstand ist schon im Aufbau und ein beachtlicher Teil der griechischen Gesellschaft beteiligt sich an den Solidaritätskampagnen zur Unterstützung ihres Kampfes. Dieser kurze Artikel greift nicht mehr die Historie der Besetzung, des Kampfes gegen die Zwangsversteigerungen und der Wiederaufnahme der Produktion auf, sondern fokussiert hauptsächlich auf die gesellschaftspolitische Dimension von zeitweise erfolgreichen Betriebsbesetzungen am konkreten Beispiel der VIO.ME. Es werden einige der Grundsituationen präsentiert, die politische Entscheidungen im weitesten Sinne erforderten. Die Kolleg*innen der VIO.ME haben bis heute all diese Grundprobleme mit einer erstaunlichen Originalität und Kreativität bewältigt.
Hans Bürger
Die selbstverwaltete VIO.ME [1] mag vielleicht jetzt schon eine schöne Legende sein, sie ist aber in Wirklichkeit organisch in den sozialen Widerstand der griechischen Gesellschaft eingebettet. Das Land macht seit Jahren eine massive Prekarisierung und brutale Deregulierung der Beschäftigung in einem noch nie dagewesenen Ausmaß durch. Der soziale Widerstand hat zwar in den letzten Jahren nachgelassen, aber er ist unterschwellig ständig vorhanden und bricht immer wieder auf. Besonders in der Anfangsperiode der Krise entstanden verschiedene Formen von „Betriebsübernahmen“, um regel- bzw. gesetzeswidrige Betriebsschließungen abwehren zu können. Die damalige SYRIZA-Regierung versuchte, solche Projekte in eine institutionelle Form der Sozialkooperativen zu gießen. Diese sollte den selbstorganisierten und selbstverwalteten Strukturen einen gewissen Rechtsschutz garantieren. Die Realität hat zwar anders ausgesehen, denn diese Projekte waren mit großen Problemen (Schulden der Alteigentümer, keine Finanzierungsmöglichkeiten etc.) konfrontiert. Gleichzeitig gibt es auch zahlreiche atypische Selbsthilfeprojekte, die ebenfalls selbstorganisiert und selbstverwaltet sind und die nicht unter die erwähnte Gesetzgebung fallen. Den sozialen Rahmen um diesen Sektor bilden ebenfalls die Menschen, die tagtäglich ihren Lebensunterhalt in den diversen Formen der atypischen Beschäftigung und der fast rechtlosen Arbeitsverhältnisse verdienen wollen. Diese Entwicklung ist auch ein Indiz für eine potentielle Politisierung der involvierten Menschen, die als Reaktion den Verteidigungsgedanken in den Vordergrund stellen. Eine sehr interessante Darstellung konkreter Fälle bietet Dario Azzellini in seiner Forschungsarbeit. [2] Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist die Rückeroberung der alten VIO.ME-Fabrik keine „Donquichotterie“, sondern beinahe „vorprogrammiert“ gewesen. Das Projekt der VIO.ME hat aus den Gründen, die weiter unten erläutert werden, politisch einen ausgeprägt radikalen und klassenkämpferischen Charakter angenommen.
Als vorläufiges Fazit lässt sich festhalten, dass die VIO.ME nicht losgelöst vom sozialen Widerstand umfassend beurteilt werden kann. Diese selbstorganisierten und genossenschaftlich geführten Kollektive, die während der Krise entstanden waren, legten den Schwerpunkt auf biologische und ökologische Produktion und orientierten sich eher an dem Modell der Sozialen und Solidarischen Ökonomie. Aber auch dieser Raum nahm Verbindung mit der VIO.ME auf und lud sie zu ihren Veranstaltungen und Tagungen ein. Die Kolleg*innen haben dort zwei wichtige Positionen verteidigt: keinen Einsatz von Leiharbeit und keine Annahme von Aufträgen in Lohnarbeit. Die Marktlogik hatte nämlich diesen Bereich bereits erreicht. Verständlicherweise war aber das gesellschaftliche Umfeld der akuten sozialen Tageskämpfe für die VIO.ME der hauptsächliche Aktionsradius ihrer politischen Solidaritätsarbeit. Schritt für Schritt wurde aus der Fabrikbesetzung ein hochpolitisches Projekt.
Zu Beginn der Produktionsaufnahme in Selbstverwaltung hatten die Kolleg*innen mit drei Grundproblemen zu kämpfen. Das Damoklesschwert der Zwangsliquidation der Fabrik schwebte ständig über ihren Köpfen. Dazu kam die staatliche Repression in allen möglichen Abstufungen. Die Justiz weigerte sich, die Rechtsnormen der bürgerlichen Gesellschaft anzuwenden. Sie erkannte faktisch nicht die Rechtmäßigkeit der Forderungen der Kolleg*innen an: ihren Anspruch auf Begleichung der Sozialbeiträge, Zahlung der ausstehenden Löhne, Anerkennung einer formalen Kündigung, um Arbeitslosengeld beziehen zu können. Die öffentliche Versorgung hatte ihnen Wasser und Strom abgeschaltet. Die dritte große Herausforderung war ihre extrem problematische Finanzsituation. Eine Übergangsfinanzierung über die Banken war nicht möglich. Daher gestaltete sich auch der Bezug von Rohstoffen sehr schwierig. Die Auswahl der Produktpalette wiederum war nicht nur eine wirtschaftliche, sondern – wie weiter unten knapp umrissen wird – eine politische Entscheidung.
Das Projekt der VIO.ME hat den Begriff „kämpferischer Kooperativismus“ geprägt. Diese Bezeichnung wurde gewählt, um eine deutliche Abgrenzung zwischen dem traditionellen Genossenschaftswesen und den klassenkämpferischen Kollektiven in Selbstverwaltung klarzumachen. Auf den besonderen Charakter des kämpferischen Kooperativismus, wie ihn die VIO.ME praktiziert, soll zumindest stichwortartig eingegangen werden. Am Anfang steht natürlich die basisdemokratische Organisation. Alle Beschlüsse werden nur von der Vollversammlung der Kolleg*innen gefasst, grundsätzlich werden keine Entscheidungen an einzelne Personen delegiert. Das zweite Element des basisdemokratischen Funktionierens ist die Ablehnung jeder Form einer Lohndifferenzierung. Dann folgte die Auswahl der Produktpalette, die dem potentiellen Milieu eine gesellschaftspolitische Programmatik vermitteln sollte. Die Kolleg*innen der VIO.ME wollten nicht nur irgendein Produkt herstellen, sondern „gesellschaftlich sinnvolle und bedarfsorientierte Güter“, die ökologisch produziert werden. Damit positionierten sie sich eindeutig gegen die Logik der Marktwirtschaft, die für die schlimmen Folgen der kapitalistischen Krise verantwortlich ist. Durch die systematische Vernetzung mit vielen anderen Kämpfen des sozialen Widerstandes (Kampf gegen die Wasserprivatisierung, Schaffung einer Zweigstelle der Sozialen Solidaritätspraxis von Thessaloniki, materielle Unterstützung von Flüchtlingen, Widerstand gegen den Goldabbau in Chalkidiki u.v.a.) wurde die zurückeroberte Fabrik der VIO.ME zum Zentrum eines soziokulturellen Raums. Ohne dieses gesellschaftliche Umfeld hätte das Projekt nicht überleben können.
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Interessant wäre auch zu erfahren, welche Teile der griechischen Gesellschaft die VIO.ME „bewusst“ unterstützten. Während der Krise bildeten sich zahlreiche Widerstandsinitiativen, die die griechische Gesellschaft regelrecht elektrisierten. Sie bereiteten das Terrain auch für die Formierung der Solidaritätsbewegung mit der VIO.ME. Eine greifbare Rolle haben natürlich die Netzwerke der Arbeiter*innen, der sogenannten Basisgewerkschaften gespielt, die sich von den systemischen und bürokratisierten Gewerkschaften nicht vertreten fühlen. Die Kolleg*innen der VIO.ME kämpften für die gleichen Arbeitsrechte. Einen großen Beitrag hat das anarchistische Milieu geleistet, das stark und initiativ in den sozialen Kämpfen engagiert ist. Das anarchistische Umfeld hat sich und linken Kunstschaffenden erwähnt werden, die immer wieder mit kreativen Mitteln das Projekt verteidigt hat. [3]
Wie bereits ausgeführt, hat das Umfeld der Solidarität ein Ausmaß angenommen, welches beinahe an eine soziale Bewegung im Miniaturformat erinnert. Die prononciert klassenkämpferische Ausrichtung des Projektes verstärkt ebenfalls dieses Profil. Bei den großen Solidaritätsveranstaltungen und Kundgebungen direkt nach der Zwangsveräußerung der Unternehmensimmobilien, die streckenweise mit den anstehenden Parlamentswahlen zusammenfielen, stellte sich die Frage einer Wahlempfehlung. VIO.ME hat sich ausdrücklich geweigert, eine Wahlempfehlung abzugeben. Dahinter stand bestimmt nicht die Angst davor, die Unterstützer*innen mit unterschiedlicher Parteizugehörigkeit zu vergraulen. Der Leitgedanke dieser Positionierung war die Erkenntnis, dass zum jetzigen Zeitpunkt es nicht die Pflicht und Schuldigkeit einer sozialen Bewegung ist, sich parteipolitisch zu positionieren. Im Gegenteil, es ist die politische Verpflichtung linker Parteien, soziale Bewegungen entschlossen und konsequent bedingungslos zu verteidigen und es nicht bei heuchlerischen Lippenbekenntnissen zu belassen.
Es sollte noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die zurückeroberten Betriebe ausschließlich einen defensiven Charakter haben. Das zeigt auch der unterschiedliche Grad der Politisierung der zahlreichen Projekte sowohl im lateinamerikanischen Raum als auch in den Ländern des Globalen Südens. Doch letzten Endes bedeuten diese Experimente, gleichgültig wie politisch radikal die Selbstverwaltung und Fortführung der Produktion dieser Betriebe ausfällt, einen Bruch mit dem Eigentums- und Direktionsrecht der Kapitaleigentümer. Betriebsbesetzungen und Selbstverwaltung von maroden Fabriken unter gesellschaftlichen Krisenbedingungen werden wahrscheinlich auch die antikapitalistische Grundhaltung der politisierten Menschen eher verschärfen, denn sie demonstrieren praktisch die Ursachen der kapitalistischen Krise. Nicht zuletzt sind sie auch eine Herausforderung für die institutionelle Linke, die in solchen Fällen nicht in der Lage ist, sozial gerechte und umfassende Maßnahmen zu treffen. [4] Es gibt also gute Gründe, warum eine konsequente antikapitalistische Linke die Kämpfe dieser Betriebe tatkräftig unterstützen muss. Ein beeindruckender Teil des griechischen sozialen Widerstandes hat sofort auf den Solidaritätsaufruf der VIO.ME positiv reagiert. Es ist eher davon auszugehen, dass die Solidaritätsfront nicht zusammenbrechen wird. Und unter dem Motto „VIO.ME ist unser Leben“ werden die Kolleg*innen weiterkämpfen.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2023 (Juli/August 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz