Adam Shils
Zwei einander widersprechende Bilder haben die Fernsehbildschirme der Welt dominiert. Das eine Bild ist das der Barbarei: die israelische Offensive, die Gaza und seine Menschen in den Abgrund bombardiert. Das andere Bild ist eines der Hoffnung und der Zukunft. Das ist die große internationale Mobilisierung zur Unterstützung des palästinensischen Volkes. Mehr als 100 000 marschierten am 4. November in Washington und zeigten die Breite dieser neuen Bewegung. Der Zweck dieses Artikels ist es, den Kontext zu diskutieren, in dem diese Demonstrationen stattfinden.
Demo in Washington DC, 4.11.2023 Foto: Elvert Barnes |
Wir versuchen, durch den Nebel des Krieges zu blicken, und skizzieren die Situation, wie sie uns am 6. November erscheint.
Israelische Streitkräfte haben Gaza-Stadt im Norden eingekreist. Am Rande der Stadt finden bereits heftige Kämpfe statt. Die israelische Armee hat den Gazastreifen in zwei Hälften gespalten, indem sie bei dem Ort Az-Zahra’ das Meer erreicht hat.
Die Zahl der palästinensischen Todesopfer hat entsetzliche 9700 erreicht, darunter 4800 Kinder. Die Zahl der Toten hat jeden Tag um etwa tausend zugenommen. Diese Zahlen dürften jedoch dramatisch ansteigen, wenn die vollen Auswirkungen fehlender medizinischer Versorgung, des Zusammenbruchs der Hygiene, der Ausbreitung von Krankheiten und des Nahrungsmittelmangels zu spüren sind.
Die Hamas und die israelische Armee sind jetzt in einen zähen städtischen Häuserkampf verstrickt, der an Stalingrad oder Mosul erinnert.
Im Westjordanland eskaliert die Gewalt. 133 Palästinenser*innen wurden entweder von der israelischen Armee oder bei Siedlerpogromen getötet.
Entlang der nördlichen Grenze zum Libanon hat die militärische Aktivität stark zugenommen. Es gibt jedoch keinen umfassenden Krieg mit der Hisbollah.
Im Moment reitet Benjamin Netanjahu vielleicht auf der patriotischen Welle. Allerdings könnten die Tatsachen, dass der Angriff während seiner Regierungszeit stattfand, dass er alle außer sich selbst für das Versagen der Aufklärung verantwortlich machte und dass er sich so wenig um das Leben der mehr als 220 Geiseln sorgte, letztendlich sein Verderben sein.
Die Vereinigten Staaten wollen nicht, dass der Nahe Osten in Flammen aufgeht. Eine solche Welle der Instabilität hätte schwerwiegende Auswirkungen. Dies bringt die Biden-Regierung in die schwierige Situation, Israel generell zu unterstützen, aber gleichzeitig zu versuchen, die schlimmsten Exzesse Tel Avivs einzudämmen. Aber ihre diplomatischen Initiativen haben die Biden-Regierung nicht daran gehindert, weiterhin einer der größten Unterstützer Israels und eine Quelle für militärischen Nachschub zu sein. Die Palästina-Solidaritätsbewegung in den USA hat dies zu Recht verurteilt und ein Ende der US-Hilfe gefordert.
Die Palästinenser*innen genießen große Unterstützungin der gesamten arabischen Region. Es besteht die Möglichkeit, dass die Empörung über das Massaker in Gaza mit schwelender Wut über das dauernde Elend des täglichen Lebens einhergehen und einen neuen arabischen Frühling hervorrufen könnte. Die jeweiligen Regime haben daher die Welle der Solidaritätsdemonstrationen generell unterdrückt, aus Angst, wohin sie führen könnte. In der Türkei jedoch hat Erdogan versucht, die pro-palästinensische Stimmung in Demonstrationen zur Unterstützung seiner Regierung umzuwandeln.
In Europa und in Nordamerika haben riesige pro-palästinensische Demonstrationen stattgefunden. Diese Demonstrationen haben Zehntausende junger Menschen sowie die palästinensische Gemeinschaft mobilisiert. Diese Jugendmobilisierung ist ein neuer und sehr positiver Aspekt der Situation. Die Mobilisierungen stießen auf eine reaktionäre Welle von Antisemitismusvorwürfen und Repression, insbesondere in Europa.
Eine Reihe von Faktoren wird die zukünftige Entwicklung der Situation im Nahen Osten belasten. Wie wird sich die militärische Situation im Kontext städtischer Häuserkämpfe entwickeln, bei denen es für Israel schwieriger ist, seine enorme technologische und militärische Überlegenheit zum Tragen zu bringen? Wird Netanjahu immer noch Unterstützung im eigenen Land behalten, wenn die Geiseln nicht gerettet werden, das Gemetzel in Gaza zunimmt und seine nach dem 7. Oktober auf Eis gelegten innenpolitischen Probleme wieder zurückkehren werden? Werden sich die Ereignisse so entwickeln, dass sich die Hisbollah im Libanon oder der Iran gezwungen sehen einzugreifen? In den letzten Jahren hat die interimperialistische Rivalität deutlich zugenommen. Diese Rivalität wird nun im Kontext des Gaza-Krieges stattfinden. Wie werden Russland und China versuchen, die Situation auszunutzen, dass die Vereinigten Staaten von einem Großteil des globalen Südens als Unterstützer Israels gesehen werden. Wie werden die Saudis und die Golfstaaten in dieser Situation manövrieren? Es ist klar, dass wir in eine sehr instabile Situation kommen werden.
Die unmittelbare Ursache des Krieges war der Angriff der Hamas am 7. Oktober unter dem Namen „Operation al-Aqsa-Flut“. Bei diesem Angriff wurden 1700 Israelis getötet und mehr als 220 Geiseln genommen. Das hat die Situation in der Region völlig verändert.
Demo in New York, 14.10.2023 Foto: Felton Davis |
Marxist*innen sind gegen individuellen Terror, die Tötung von Zivilist*innen und die Gefangennahme unschuldiger Geiseln. Solche Methoden stärken die Aktivität und das Bewusstsein der Arbeiterklasse nicht. Wir verurteilen daher den Anschlag vom 7. Oktober aufs Schärfste.
Die Ergebnisse der Hamas-Operation sind klar. Die Folgen des Angriffs ermöglichten es Netanjahu, sich teilweise politisch zu rehabilitieren. Er hat die öffentliche Meinung in Israel entscheidend gegen die Palästinenser*innen gedreht. Die neue Situation gab Israel internationale Unterstützung und Rückendeckung. Er hat genau die Dynamik geschaffen, die die israelische Regierung brauchte, um ihren langjährigen Kampf mit den Palästinenser*innen auf eine neue und höhere Stufe zu heben. Die jetzt stattfindende Zerstörung des Gazastreifens durch Israel wäre vor dem 7. Oktober politisch unmöglich gewesen.
All dies war völlig vorhersehbar. Es bedeutet, dass die Hamas-Operation zu einem kolossalen Rückschlag für das palästinensische Volk geführt hat.
Was hofft Israel in diesem Krieg zu erreichen? Offensichtlich geht es um viel mehr als nur um Rache für den 7. Oktober. Die israelische Regierung möchte die durch das Hamas-Massaker geschaffene nationale und internationale Unterstützung nutzen, um ihre langfristigen zionistischen Ziele voranzutreiben.
Dieser Punkt bedarf einer Erklärung. Auf den großen Solidaritätsdemonstrationen heute werden häufig Transparente getragen, die Israels Behandlung der Palästinenser*innen mit der südafrikanischen Apartheid vergleichen. Das Gefühl hinter diesen Transparenten ist richtig. Israel hat die Palästinenser*innen auf die gleiche rassistische und repressive Weise behandelt wie Pretoria die südafrikanischen Schwarzen.
Es gibt jedoch einen signifikanten Unterschied in der Art und Weise, wie diese beiden Regime ihr Volk unterdrücken. Die südafrikanische Apartheid basierte darauf, dass der südafrikanische Kapitalismus schwarze Arbeitskräfte ausbeuten musste. Dies bedeutete, die Schwarzen unterjocht und unterdrückt zu halten, aber physisch in der Nähe zu belassen, damit sie in der südafrikanischen Wirtschaft arbeiten konnten. Israels zentrales Ziel ist nicht die wirtschaftliche Ausbeutung palästinensischer Arbeitskräfte, sondern die Vertreibung aller Palästinenser*innen aus dem Gebiet. Das Ziel ist nicht, die Palästinenser*innen in der Nähe zu behalten und auszubeuten, sondern sie vollständig aus dem ganzen Land zu entfernen.
Ein solches Vertreibungsprojekt lässt sich nicht auf einen Schlag realisieren. Die Nakba von 1948 war ein großer Schritt in diese Richtung. Die Übernahme von mehr Gebieten nach dem Krieg von 1967 war ein weiterer. Die israelische Regierung kann nicht einfach tun, was sie will. Manchmal werden ihr durch das Schranken gesetzt, was die nationale und internationale Politik zulässt. Die neue Situation hat Tel Aviv die Möglichkeit gegeben, seine langfristigen Pläne voranzutreiben.
Israel wird in der aktuellen Situation nicht in der Lage sein, alle Palästinenser*innen „zwischen Fluss und Meer“ zu vertreiben. Es könnte jedoch bedeutende Schritte in diese Richtung unternehmen.
Die internationale Presse hat eine Reihe von Möglichkeiten diskutiert, wie Israel die Dynamik nach dem 7. Oktober nutzen könnte, um seine langfristigen Ziele voranzutreiben. Der extremste Schritt wäre die Vertreibung aller Menschen aus Gaza. Diese Option wurde von einer Reihe israelischer Strategen in Betracht gezogen. Eine andere Möglichkeit wäre die vollständige Abriegelung des Gazastreifens von Israel und die Schließung aller Strom-, Wasser-, Kommunikationsverbindungen und Grenzübergänge. Dies könnte mit der Schaffung eines großen „Sicherheitszone“ ähnlich der Berliner Mauer oder der Demilitarisierten Zone in Korea verbunden werden.
Wenn die Hamas zerstört wird und der Gazastreifen weiterhin als eigenständige Einheit existiert, muss es eine Form von Verwaltung geben. Es wurde eine Reihe von Optionen vorgeschlagen, was Israel durchsetzen wollen könnte. Eine Möglichkeit wäre, Gaza unter die Gerichtsbarkeit der Fatah-nahen Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland zu stellen. Eine andere Vorgehensweise wäre, in Gaza etwas Ähnliches wie die PA zu finden. Dies wäre eine Alternative zur Hamas, mit der Israel zusammenarbeiten könnte, um Gaza zu verwalten. Es wurde auch von einer Friedenstruppe der Vereinten Nationen gesprochen, die Gaza verwaltet.
Eine andere schreckliche Option scheint möglich. Israel könnte darauf abzielen, Gaza zu zerkrümeln. Bombardements würden die Wasser-, Strom-, Abwasser-, Kommunikations- und zivilen Infrastrukturen zerstören. Der Wohnungsbestand würde in Schutt und Asche gelegt. Es würde eine hohe Zahl von Opfern geben. Das tägliche Leben würde für die überlebenden Palästinenser*innen unmöglich werden.
Diese Ereignisse würden wiederum eine große neue Welle der palästinensischen Migration auslösen. Somit würde Israel einen weiteren Schritt in Richtung seines langfristigen Ziels der Entfernung aller Palästinenser*innen aus dem Gebiet machen.
Die Solidarität mit den Palästinenser*innen ist offensichtlich der unverzichtbare erste Schritt, die Vorbedingung für revolutionäre Sozialist*innen. In diesem Rahmen muss eine Frage diskutiert werden. Wie können die Palästinenser*innen gewinnen?
Der aktuelle Krieg macht deutlich, dass die internationale Gemeinschaft nicht der Retter der Palästinenser*innen sein wird. Die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, die Vereinten Nationen und die arabischen Regime haben sich während der aktuellen schweren Krise der Lage nicht gewachsen gezeigt. Wenn sie in der aktuellen Notsituation nicht eingegriffen haben, gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass sie dies in Zukunft tun werden.
Ein langfristiger militärischer Sieg der Palästinenser*innen ist nicht in Sicht. Israel könnte in bestimmten spezifischen Situationen für eine gewisse Zeit besiegt werden. Aber das militärische Ungleichgewicht ist so extrem, dass ein dauerhafter palästinensischer Sieg über das gesamte israelische Militär unmöglich ist.
Wenn die diplomatischen und militärischen Optionen ausgeschlossen sind, wie könnte das palästinensische Volk letzten Endes doch siegen? Der israelische Kapitalismus und sein Staatsapparat sind extrem mächtige Institutionen. Es würde die Mobilisierung breiter sozialer Kräfte erfordern, sie zu besiegen. Das bedeutet, den Kampf in einen antikapitalistischen Kampf zu verwandeln. Dies würde die Klassenkräfte in Aktion setzen, die ein objektives, langfristiges Interesse an der Niederlage des israelischen Kapitalismus haben. Es würde die potenziellen Verbündeten des palästinensischen Volkes ins Spiel bringen. Es würde bedeuten, den Kampf nicht nur als einen gegen die israelische Bourgeoisie zu sehen, sondern als einen gegen alle herrschenden Klassen in der Region.
Der palästinensische Kampf sollte im regionalen Kontext gesehen werden. Palästina ist Teil der historischen arabischen Nation. Die arabische Nation bietet den Rahmen, in dem sich die palästinensische Revolution entwickeln kann. Der palästinensische Kampf muss aus der Perspektive der Theorie der permanenten Revolution verstanden werden. Das bedeutet, ihn aus einer sozialistischen und regionalen Perspektive zu sehen.
Von diesem Standpunkt aus können wir vier Kräfte identifizieren, die gegen die herrschenden Klassen des Nahen Ostens mobilisiert werden können.
Zum einen die Selbstaktivität der palästinensischen Massen selbst. Dies bedeutet, umfassende Massenaktion und die Stärke der Palästinenser*innen in der Form zur Geltung zu bringen, die sie während der Intifada angenommen hatte: Kämpfe, an denen Tausende beteiligt waren. Dies würde den Aufbau von Organisationen erfordern, die den notwendigen Prozess der Massenaktion und Selbstorganisation führen könnten.
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Zum zweiten das ägyptische Proletariat. Der Prozess der permanenten Revolution erfordert offensichtlich eine konzentrierte Arbeiterklasse, die ihn führt. Ägypten hat eine große Fabrikarbeiterklasse mit einer stolzen Kampfgeschichte. Diese Arbeiterklasse kann ein Zentrum der Stärke und des Kampfes im gesamten arabischen Osten bieten, nicht nur innerhalb der Grenzen Ägyptens.
Zum dritten ein neuer arabischer Frühling. Im arabischen Osten sind Massenaktionen und -aktivitäten nicht unbekannt. Während des arabischen Frühlings der 2010er Jahre gab es eine Welle des Kampfes gegen die örtlichen arabischen herrschenden Klassen. Es ist klar, dass die Regime die Reaktion der „arabischen Straße“ auf das Massaker in Gaza fürchten. Es ist durchaus vorstellbar, dass Proteste gegen das Elend des täglichen Lebens mit der Solidarität mit den Palästinenser*innen zu einer neuen Welle des Kampfes verschmelzen.
Zum vierten die israelische Arbeiterklasse. Es mag seltsam erscheinen, die israelische Arbeiterklasse als potenziellen zukünftigen Verbündeten der Palästinenser*innen zu sehen. Aber eine soziale Polarisierung innerhalb Israels ist der einzige Weg, wie die Palästinenser*innen gewinnen können. Israel ist eine Klassengesellschaft, die gespalten werden kann. Die palästinensische Revolution kann nicht gegen die Opposition der Masse der israelischen Arbeiter*innen gewinnen. Die israelische Unterstützung für den palästinensischen Kampf zu gewinnen, ist sicherlich ein außerordentlich schwieriger und langfristiger Kampf. Aber es ist nicht unmöglich; die Erfahrungen der Menschenrechts- und Antikriegsbewegungen in Israel zeigen das.
Damit dieses Projekt funktionieren kann, müssen Revolutionär*innen betonen, dass ein zukünftiger vereinigter sozialistischer Naher Osten dem jüdischen Volk volle demokratische und Menschenrechte garantieren und es seine eigene Zukunft bestimmen lassenwird.
Die Perspektive einer regionalen, arabischen sozialistischen Revolution mag heute weit hergeholt erscheinen. Sie ist jedoch der einzige Weg, wie die Palästinenser*innen langfristig gewinnen können.
Es hat keinen Sinn, zu versuchen, das Bild schönzufärben. Die Lage in Gaza ist katastrophal. Es gibt jedoch etwas, was wir tun können. Wir können den Palästinenser*innen zeigen, dass sie nicht allein sind, dass es Hunderttausende auf der ganzen Welt gibt, die sich mit ihnen solidarisieren. Auf die Straße zu gehen, um die Menschen in Gaza zu verteidigen, ist die Aufgabe der Stunde.
Adam Shils ist Mitglied des International Socialism Project (ISP) in Chicago, das aus der 2019 aufgelösten International Socialist Organization hervorgegangen ist. |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz