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Trotzkis Literaturschriften

„Politik und Literatur bilden ja den eigentlichen Inhalt meines persönlichen Lebens“ (Trotzki, 1935).*

Helmut Dahmer

Jahrzehnte der Verfemung des großen Revolutionärs zeigen Wirkung, auch heute noch. Und so ist der Rosa Luxemburg ebenbürtige politische Analytiker, Gesellschaftstheoretiker und Verfechter der Rätedemokratie noch immer erst zu entdecken. Er war der einzige Soziologe, der in den dreißiger Jahren des barbarischen zwanzigsten Jahrhunderts sowohl die Faschisierung Deutschlands als auch die Stalinisierung der Sowjetunion nicht nur kontinuierlich analysierte und kommentierte, sondern aus seinen Diagnosen stets auch praktikable Vorschläge für eine alternative Politik ent­wickelte.

 

Unter den marxistischen Revolutionären seiner Zeit nimmt Trotzki in verschiedener Hinsicht eine Sonderstellung ein, nicht nur wegen seiner (1917 bestätigten) Prognose von 1906, dass das zaristische Regime im rückständigen Russland nur durch eine – mit der bäuerlichen Mehrheit verbündete – Arbeiterpartei gestürzt werden könne, sondern auch als Inspirator des Petersburger Arbeiter-Rats in den Jahren 1905 und 1917, als Aufstands-Organisator und Armeeführer sowie als Literat, Biograph und Historiker. In diesem Zusammenhang ist auch sein dauerhaftes Interesse für Freuds Kritik der psychischen Ökonomie hervorzuheben, die er in seinen Wiener Emigrations-Jahren (1907–14) – durch seinen Freund Adolf Joffe, der bei Alfred Adler in Therapie war – kennenlernte und deren Verwandtschaft mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ihn faszinierte. Trotzkis Marx-Verständnis war – wie das seines Zeitgenossen Max Horkheimer (des Begründers der „Frankfurter Schule“) – durch seine Freud-Rezeption geprägt (wie auch umgekehrt beider Freud-Verständnis durch den historischen Materialismus).

Im Rahmen unserer, in 12 Teilbänden erscheinenden Auswahl seiner Schriften, von denen inzwischen der 8. Band vorliegt [1], sollen die „Literatur und Revolution“ betitelten Bände 4.1 und 4.2 den Literatur- und Kulturkritiker Trotzki vergegenwärtigen. Er lebte fürs Schreiben und vom Schreiben [2], und wann immer seine politisch-organisatorische Aktivität ihm dafür Zeit ließ, vertiefte er sich in klassische und moderne Literatur [3] und kommentierte sie im Hinblick auf die Möglichkeit, die kapitalistische Krisen- und Kriegswirtschaft – rechtzeitig vor dem drohenden gemeinsamen „Untergang der gegeneinander kämpfenden Klassen“ – durch eine demokratisch kontrollierte Welt-Planwirtschaft abzulösen. In den Jahren 1900 und 1901 in den Gefängnissen von Odessa und Moskau – damals „Universitäten“ für Revolutionäre – in Haft, lernte er aus den Schriften des italienischen Hegelianer-Marxisten Antonio Labriola [4], dass die Kenntnis der literarischen Tradition und der zeitgenössischen Literatur für das Verständnis von Gesellschaft und Geschichte ebenso unentbehrlich ist wie die Kenntnis der Psychologie der Massen und der Individuen, aus denen sie sich rekrutieren.

Die Bände 8 und 9 (die Teilbände 4.1 und 4.2) unserer Schriften-Ausgabe stellen den Literatur- und Kultur-Kritiker Trotzki vor. Wie bei den (vor Jahren erschienenen) Bänden 2.1 und 2.2 „Über die chinesische Revolution“ haben wir uns auch in diesem Fall bemüht, seine Schriften zu Literatur und Kultur möglichst vollständig – in kommentierten Erst- oder Neu-Übersetzungen (aus dem Russischen) – zu dokumentieren. Diese Edition wird es allererst ermöglichen, Methode [5] und Niveau seiner literatursoziologischen Studien kennenzulernen.

Der erste Teilband enthält 69 Texte aus den Jahren 1900–1916. Deren erste Serie entstand in den Jahren 1901–02 während Trotzkis Verbannung nach Süd-Sibirien. Mit seiner (ersten) Frau, Alexandra L. Sokolowskaja, und ihren beiden Töchtern lebte er, 6000 Meilen entfernt von Odessa, im Gouvernement Irkutsk (kurze Zeit in Ust-Kut, dann in Wercholensk). Die Handelsstadt Irkutsk galt um 1900 als „das Paris Sibiriens“ – ein Zentrum der Wissenschaft und Kultur mit Theater und Bibliothek. Dort begann der 22-jährige Trotzki seine Karriere als Schriftsteller. Er schrieb (unter Pseudonym) für die (legale) „Östliche Rundschau“ (Wostotschnoje Obosrenije) und war bald ein gefragter Autor. In den beiden Jahren vor seiner Flucht aus Wercholensk erschienen 27 seiner Texte in dieser Zeitung. Sein Debut war (im Dezember 1900) eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Werk des kurz zuvor verstorbenen Nietzsche; darauf folgten Essays über Gerhart Hauptmann, Ibsen, Arthur Schnitzler und Sudermann, Gogol und Gorki sowie Studien über Uspenski und Leonid Andrejew.

Nach der Revolution von 1905 im November 1906 ein zweites Mal (und diesmal „lebenslänglich“) nach Obdorsk (Salechard) am Polarkreis verbannt, gelang ihm Ende Februar 1907 abermals die Flucht (aus Beresow) nach Westen (mit Rentier-Schlitten über die Tundra), dann weiter mit der Bahn [6] via Petersburg nach Finnland. Über London und nach einem Deutschland Aufenthalt im Sommer 1907 kam er im Oktober nach Wien, wo sich Victor Adler und der russische Revolutionär Salomon Kljatschko, der Emigranten und Flüchtlinge aus dem Zarenreich in seinem Salon versammelte, seiner annahmen. Die sieben Jahre, die Trotzki in Wien verbrachte [7], waren in Russland – nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 – Jahre der Konterrevolution, der sich auch ein großer Teil der Intelligenzija anpasste. Im „Westen“ ging derweil die „Belle Époque“ ihrem Ende entgegen, und die Gefahr eines großen Krieges zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen, Großbritannien, Frankreich und Russland auf der anderen Seite wuchs von Jahr zu Jahr. In diesen Jahren schrieb Trotzki (unter anderem) eine zweite Serie literarischer Studien und Kritiken, die zumeist im „Kiewer Gedanken“ (der Kiewskaja Mysl) erschienen. [8]

      
Mehr dazu
Helmut Dahmer: 100 Jahre „Faschismus“: 1922–2022, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Helmut Dahmer: Die Unabhängigkeit der Ukraine, gestern und heute, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022)
Helmut Dahmer: Trotzki-Kongress in Havanna, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
Helmut Dahmer: Benjamin und Trotzki: 1940, Inprekorr Nr. 6/2015 (November/Dezember 2015)
 

Diese „Wiener“ Serie wird durch eine (damals gekürzt in Kautskys Die Neue Zeit erschienenen) Studie über Wedekind eröffnet. Es folgen eine kritische Präsentation der Münchner Satire-Zeitschrift Simplicissimus und zwei Würdigungen Tolstois, große Polemiken gegen Mereschkowski, Tschukowski und Masaryk, ein Rückblick auf Alexander Herzen, drei ausführliche Besprechungen von Wiener Kunstausstellungen, Caféhaus-Gespräche in Paris und Wien, ein Überblick über die russischen „Journale“, ein Referat über die Entwicklung der russischen Intelligenzija (ergänzt durch eine kritische Besprechung von Max Adlers Buch über das Verhältnis der Intellektuellen zum Sozialismus), schließlich die großartigen „unsystematischen Notizen eines russischen Lesers und Zuhörers im europäischen Westen“ (vom Frühjahr 1909). Ein ständig präsentes Hintergrund-Thema auch dieser literarischen Exkurse ist die spezifische Entwicklung der „halb-asiatischen“ russischen Gesellschaft (im Vergleich mit derjenigen der westeuropäisch- bürgerlichen) [9] und – in diesem Rahmen – die Auseinandersetzung mit den Slawophilen, deren Ideologie im „Putinismus“ unserer Tage wiederauferstanden ist, und mit den Narodniki-Revolutionären, die auf die bäuerliche Mehrheit des Landes als Träger der antifeudalen Revolution setzten. [10] Die letzte Text-Gruppe in diesem Band bilden fünf Artikel aus dem Paris der Kriegsjahre 1915/16 und ein Bericht über Trotzkis Erfahrungen in Spanien (nach seiner Ausweisung aus Frankreich). Der Kritik der literarisch-philosophischen Wendehälse nach der gescheiterten russischen Revolution von 1905 korrespondiert in der „Pariser“ Textgruppe das „Sittenbild“ der hypernationalistisch-präfaschistischen Action française (um Maurras und Daudet).

Insgesamt zeigt das Buch den geistigen Fundus, aus dem der Theoretiker der russischen Revolution und Kritiker ihrer späteren Entartung schöpfen konnte.

Der Folgeband (4.2) enthält weitere 100 Texte und Briefe zu kunsttheoretischen Fragen aus den Jahren 1919–40. Es geht um die russische Literatur der Revolutionszeit (und eine zukünftige „sozialistische“ Kunst), um die Politik der Kommunistischen Partei gegenüber Kunst und Künstlern, um den Futurismus und die „Formalisten“. Trotzki schreibt über Block, Pilnjak, Majakowski und Jessenin, über Malraux, Jack London und Céline, Silone, Romain Rolland und Gide. Schließlich wird Trotzkis Bündnis mit dem Surrealisten Breton und dem Muralisten Diego Rivera dokumentiert, die (1938) die „Autonomie“ der Kunst verteidigten, während sie in den totalitären Staaten Stalins und Hitlers auf Propaganda reduziert wurde.

* Tagebuch im Exil ([1935] 1958); Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2018, S. 69. (Eintrag vom 25. 3. 1935.)


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2024 (Januar/Februar 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Trotzki, Leo D. ([1900–1916] 2023): Literatur und Revolution; Schriften, Band 4.1 (hg. von H. Dahmer, W. Feikert und J. Ranc). Köln/Karlsruhe (Neuer ISP Verlag).

[2] Trotzkis Gesamtwerk würde, komplett gedruckt, etwa 80 starke Bände füllen.

[3] Nach der Verhaftung des Petersburger Arbeiterrats (1905) in verschiedenen Moskauer Gefängnissen inhaftiert, verwandelte sich Trotzkis Gefängniszelle [wie sein Mithäftling Swertschkow berichtet] „bald in eine Bibliothek. Man brachte ihm buchstäblich alle einigermaßen beachtenswerten neuen Bücher; er las sie und war den ganzen Tag […] mit literarischen Arbeiten beschäftigt.“ Trotzki selbst schreibt: „Zur Erholung las ich die Klassiker der europäischen Literatur. Ich lag auf der Pritsche und verschlang die Werke mit einem solchen physischen Lustgefühl, wie Gourmets einen feinen Wein schlürfen oder an einer duftenden Zigarre ziehen.“ Mein Leben; Berlin (Fischer) 1930, S. 179 f.

[4] Labriola, Antonio (1895-99): Über den historischen Materialismus. [Hg. von A. Ascheri-Osterlow und C. Pozzoli.] Frankfurt (Suhrkamp) 1974.

[5] Trotzki kombinierte drei Formen von Kritik – zum einen die „äußere“, die Texte im Hinblick auf ihre politische Tendenz (und Wirkung) politisch einordnet und beurteilt, zum andern die „immanente“, die Problemen der Form, des Erfahrungsgehalts und der immanenten Widersprüche literarischer Kunstwerke gilt, und schließlich die „soziologische“, die nach den sozialhistorischen Voraussetzungen (den Bedingungen der Möglichkeit und der Grenzen) ästhetischer Gebilde und philosophischer Systeme fragt. Vgl. dazu Korsch, Karl (1938): Karl Marx. Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1967, Anhang III.

[6] „Ich fuhr mit der sibirischen Eisenbahn gen Westen“, „in den Händen hielt ich Homer in russischen Hexametern von Gnjeditsch“, erinnert sich Trotzki. Mein Leben, a. a. O., S. 129.

[7] Im Herbst 1912 entsandte ihn die Kijewskaja Mysl für drei Monate als Kriegsberichterstatter in den (ersten) Balkankrieg (Serbiens, Bulgariens und Griechenlands gegen das Osmanische Reich). Vgl. dazu Trotzki (1926): Die Balkankriege 1912–13; Essen (Arbeiterpresse-Verlag) 1996.

[8] „Die Kijewskaja Mysl war die im Süden verbreitetste radikale Zeitung marxistischer Färbung.“ Mein Leben, a. a. O., S. 220.

[9] Vgl. dazu Trotzkis Einleitungs-Kapitel zu seiner Geschichte der russischen Revolution, Berlin (Fischer) 1931, S. 15-27: „Die Eigenarten der Entwicklung Russlands.“

[10] Trotzki rühmt in diesem Zusammenhang Gleb Uspenski, dessen realistische Skizzen des bäuerlichen Lebens in Russland zur Überwindung der „Volkstümler“-Ideologie beitrugen, der der Dichter selbst anhing.