Ukraine
Die Unabhängigkeit der Ukraine, gestern und heute
Helmut Dahmer
I. August/September 2014
Die Ukraine war und ist, wie der Name sagt und ein Blick in den historischen Atlas oder auf die aktuelle Landkarte bestätigt, ein Grenzland. Von Moldawien im Südwesten bis Russland im Osten und Südosten hat die heutige Republik Ukraine, nach Russland der zweitgrößte europäische Flächenstaat, gemeinsame Grenzen mit sieben Staaten (außer den schon genannten sind das Rumänien, Ungarn, die Slowakei, Polen und Weißrussland). Die Bevölkerung von knapp 42 Millionen besteht bzw. bestand (entsprechend den Daten der Volkszählung von 2001) zu 78 Prozent aus (ethnischen) Ukrainern, zu 17 Prozent aus (ethnischen) Russen; zudem gibt es etwa 100 weitere ethnische Minderheiten, und auf der Krimhalbinsel machen die (aus der Deportation nach Usbekistan zurückgekehrten) Tataren etwa 12 Prozent der dortigen Bevölkerung aus. Kerstin Jobst nennt (2010, S. 50) die Ukraine eine „komplexe polyethnische Kontaktzone“. Zwei Drittel der Ukrainer beherrschen Russisch als Mutter- oder als Zweitsprache, „reines“ Ukrainisch wird vor allem in der Westukraine gesprochen; die meisten Ukrainer bedienen sich einer Ukrainisch-Russischen Mischsprache.
In den vergangenen tausend Jahren gab es auf dem heutigen ukrainischen Territorium nur selten selbständige staatliche Gebilde: Das zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert bestehende Kiewer Reich – die Rus, auf die sich der russische wie der ukrainische Nationalstaat als auf ihren Ursprung berufen – geriet zunächst unter mongolische, dann unter litauische und polnische und schließlich, vor allem infolge der Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795, unter russische beziehungsweise, zu einem kleineren Teil im Westen, unter österreichische Vorherrschaft. Der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gebildete kosakische „Hetman-Staat“ gehörte im langen 19. Jahrhundert zum Zarenreich. Verschiedene Versuche, nach 1917 eine unabhängige ukrainische Republik zu bilden, scheiterten; die 1919 proklamierte Ukrainische Sowjetrepublik wurde 1922 der UdSSR eingegliedert. 1939 und 1945 entstand durch Gebietserweiterungen das heutige ukrainische Staatsgebiet, dem 1954 noch die Halbinsel Krim zugeschlagen wurde und das 1991, nach dem Zusammenbruch der UdSSR, endlich die Unabhängigkeit erlangte.
Die heutige Ukraine hat mehr als andere Gesellschaften an der unheilvollen Erbschaft des barbarischen 20. Jahrhunderts zu tragen. Mit den baltischen Staaten, Polen und Weißrussland gehörte sie zu den – von Timothy Snyder so genannten – „bloodlands“ (oder „killing fields“), in denen die beiden großen Menschenfresser-Regime des vorigen Jahrhunderts, das deutsche und das russische, die diese Länder untereinander aufteilten und abwechselnd besetzt hielten, ihre entsetzlichen Untaten verrichteten, die etwa 14 Millionen zivile Opfer forderten. Von den damaligen Ukrainern, in ihrer Mehrheit Bauern, fielen im Gefolge der Zwangskollektivierung wahrscheinlich 4 Millionen der Hungersnot und den Repressionen zum Opfer, die in den Jahren 1932/33 von der Stalin-Führung zur Brechung des bäuerlichen und nationalen Widerstands eingesetzt wurden („Holodomor“). [1] Die politisch aktive Schicht wurde, soweit sie sich nicht in den Dienst der stalinistischen Repression und Propaganda stellte, während des Großen Terrors in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre umgebracht, den Isaac Deutscher als einen „politischen Genozid“ charakterisiert hat. [2] 1941 hielten nicht wenige Ukrainer die deutsche „Wehrmacht“ für „Befreier“; nationalistische Gruppen hofften, durch Kollaboration die staatliche Unabhängigkeit zu erkaufen. Den vielen ukrainischen Helfershelfern bei der Ausrottung der ukrainischen (und europäischen) Judenheit, bei den Pogromen und Massenerschießungen unter dem deutschen Besatzungsregime – unter anderem das entsetzliche Massaker an den Kiewer Juden in der Schlucht von „Babi Jar“ (am 29. und 30.9.1941) – und im NS-Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion (man erinnere sich der berüchtigten ukrainischen SS-Verbände) standen aber zahlenmäßig vielleicht noch mehr ukrainische Partisanen und Rotarmisten gegenüber, die gegen die zurückweichenden deutschen Truppen kämpften. (Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch, dass nationalistische ukrainische Partisanen noch bis in die fünfziger Jahre den sowjetischen Okkupanten erbitterten Widerstand entgegensetzten.)
„Das Gebiet der heutigen Ukraine war während der ganzen Epoche der Massenmorde sowohl das Zentrum der stalinistischen wie der nationalsozialistischen Mordkampagnen“, schreibt Timothy Snyder. „Etwa 3.5 Millionen Menschen fielen den stalinistischen Mordmaßnahmen zwischen 1933 und 1938 zum Opfer und weitere 3.5 Millionen deutschen Mordmaßnahmen zwischen 1941 und 1944. Noch einmal rund drei Millionen Ukrainer fielen im Kampf oder starben infolge des Krieges.“ [3]
Die Geschichte, die ja in hohem Maße eine Geschichte von Untaten, also eine Mordgeschichte ist, wird, ethnozentrischen Interessen entsprechend, stilisiert: teils beschönigt, teils verleugnet. So entstehen Legenden, die mit Zähnen und Klauen gegen Versuche, sie einer Realitätsprüfung zu unterziehen, verteidigt werden. Die noch immer nachwirkende spätstalinistische Geschichtslegende leugnete oder beschönigte den Holodomor, verschwieg den Massenterror der dreißiger Jahre, verhehlte die geheimen Abmachungen über die Aufteilung Osteuropas im Molotow-Ribbentrop-Pakt (von 1939), die Deportationen aus den besetzten Gebieten und den Massenmord an polnischen Offizieren in Katyn; sie ignorierte den Holocaust. Von dem Vierteljahrhundert Stalinscher Herrschaft blieben im (von der KPdSU geschaffenen) Mythos als Deckerinnerung die Industrialisierung und der Sieg über den Faschismus im „Großen Vaterländischen Krieg“.
In der 1991 unabhängig gewordenen Ukraine ist von nonkonformen Historikern – vor allem im Hinblick auf die große Hungersnot der Jahre 1932/33 – eine realistische Revision jener sowjetischen Geschichtslegende ins Werk gesetzt worden, die bis 1991 für alle vormaligen Satellitenstaaten verbindlich war. Doch ist diese Revision längst noch nicht im kollektiven Bewusstsein angekommen. Was geschehen ist, aber nicht bewusst wird (oder nicht bewusst werden darf), wird zum Spuk. Über den „killing fields“ der Ukraine – wie über denen Polens, Weißrusslands und Russlands – suchen die Geister der ermordeten Millionen die gegenwärtig Lebenden heim. Nachdem von Stalins Nationalbolschewismus nur der Nationalismus übriggeblieben ist (Lenin sprach von „großrussischem Chauvinismus“), von der Sowjetunion nur das Projekt einer „Eurasischen Union“, grassiert bei rechtsextremen paramilitärischen Schläger- und Söldner-Trupps in Russland wie in der Ukraine das, was in der Psychoanalyse als „Identifikation mit dem Aggressor“ bezeichnet wird. Marginalisierte Gruppen suchen ihre Ohnmacht zu kompensieren, indem sie (in Moskau oder in Kiew) als SA- und SS-Leute auftreten. Ostukrainer, die sich an der Moskauer Propaganda orientieren, wähnen 2014, es gelte abermals, die „Faschisten“ zurückzuschlagen, von denen sie (mit Putin) behaupten, sie hielten Kiew besetzt und wollten nun auf Stalino-Donezk vorrücken und die russisch-sprachige Bevölkerung massakrieren.
Nach der Auflösung der Sowjetunion vollzog sich auch in der (1991) unabhängig gewordenen Ukraine die rasche Umwandlung des Staatseigentums in Privateigentum und die Verwandlung der politisch herrschenden Nomenklatura in eine kapitalistische Klasse, deren Führung seither die sogenannten „Oligarchen“ stellen. Als „Kornkammer“, industrielles Zentrum (Donbass) und Kreuzpunkt von Handels- und Energieströmen war und ist die Ukraine für ihre Nachbarstaaten und für die Machtblöcke, denen diese angehören, ebenso von Interesse wie als Einflusszone. Wurde im 20. Jahrhundert vor allem militärisch um die Ukraine gekämpft, so ist seit der Erlangung staatlicher Unabhängigkeit zwischen West und Ost ein Tauziehen um Handelsvorteile und politisch-militärischen Einfluss im Gange – im Rahmen des „Gleichgewichts des Schreckens“, nämlich eines möglichen Krieges mit atomaren Waffen. Der Reichtum des Landes an fruchtbaren Böden und Bodenschätzen lockt – wie im vorigen Jahrhundert – die konkurrierenden Großmächte zur Intervention. Beide Seiten, die EU (und die Vereinigten Staaten) auf der einen, Russland auf der anderen Seite, versuchen mit Beratern und Agenten, mit Geld und Waffenlieferungen, Einfluss auf die ukrainische Politik zu nehmen. Da die ukrainische Wirtschaft seit der Erlangung der Unabhängigkeit – besonders im Gefolge der Wirtschaftskrise von 2008 – den Lebensstandard der Mehrheit noch nicht wesentlich gehoben hat und sich auch deren Chancen zu demokratischer Beteiligung und Elitenkontrolle nicht eben vermehrt haben, tendiert – in Ermangelung einer wirklichen (inner-)ukrainischen Alternative – ein Teil der aktiven Bevölkerung im Osten zum Wiederanschluss an Russland, ein Teil der aktiven Bevölkerung im Westen zu einem Wirtschaftsverbund mit der EU. Schon in der „orangenen Revolution“ (in den Jahren 2004/05) zeichnete sich ab, dass der West-Ost-Interessenkonflikt in Verbindung mit zentrifugalen Kräften in der Ukraine selbst zu einer Zerreißprobe werden könnte. Die Dnjepr-Linie, die die lange Zeit habsburgisch oder polnisch geprägte Westukraine kulturell von der russisch dominierten Ostukraine trennt, erwiese sich dann als mögliche Bruchstelle. Die seit eh und je bestehende sprachliche und religiöse Differenz zwischen den Ukrainern des Westens und des Ostens könnte, der disproportionalen narzißtischen Reaktion auf geringe Unterschiede der Lebensführung (Freud) entsprechend, zum Motiv für eine neuerliche Teilung der Ukraine werden.
Nach der durch ein Referendum unter russisch-militärischer Kontrolle gestützten „Heimholung“, besser: Annexion der (zuletzt im zweiten Weltkrieg heftig umkämpften) Halbinsel Krim im März 2014 (im Rahmen von Putins Projekt der „Sammlung der russischen Erde“) kam es in den letzten Monaten in der Ostukraine zu Kämpfen zwischen paramilitärisch organisierten Sezessionisten und Truppen der Kiewer Regierung, die seither (2014) etwa 400 Tote gefordert haben. Die Städte Donezk und Lugansk haben sich jüngst (einen Gebietsnamen aus dem 18. Jahrhundert übernehmend) zur Republik „Neurussland“ zusammengeschlossen. Soweit diese Ereignisse in Deutschland und Österreich Beachtung fanden, fällt auf, dass – wie in Zeiten des Kalten Krieges – jedermann sogleich für die eine oder andere Seite Partei nimmt. Die Motive der Parteinahme für die Putin-Regierung und die ostukrainischen Autonomisten-Sezessionisten oder für die Kiewer Regierung – beziehungsweise für die Adoption der in West oder Ost propagierten Deutungen des Konflikts – sind in der Regel ebenso unklar wie die Kriterien, anhand deren der Konflikt beurteilt wird. Auch deutsche (und österreichische) Beurteiler der aktuellen Vorgänge in der Ukraine legen sie zunächst im Rahmen älterer Interpretationen und (russophiler oder russophober) Optionen aus. Nicht wenige der sogenannten „Putin-Versteher“ sehen in Putins (kapitalistischem) Russland den Nachfolgestaat der („nichtkapitalistischen“ oder „staatskapitalistischen“) Sowjetunion und meinen die territorialen Interessen Russlands gegen die „imperialistische Einkreisung“ durch EU und NATO verteidigen zu müssen. Sie interpretieren die politischen Ereignisse ausschließlich als nationalstaatliche oder Block-Konflikte und ignorieren die Interessen unorganisierter Bevölkerungsmehrheiten und (ethnischer) Minderheiten, also die Interessen sozialer Klassen und Schichten innerhalb der Nationalstaaten und Blöcke. Darum verkannten sie auch den demokratischen Charakter der Majdan-Proteste gegen den (prorussischen) Präsidenten Janukowitsch im Herbst 2013 und im Frühjahr 2014 und verwechselten diese zweite (nach der „orangenen Revolution“ von 2004) Welle des Massenprotests gegen den politisch-ökonomischen Status quo mit einem „Hitlerputsch“ – nämlich mit den Aktionen militanter neofaschistischer Gruppen, die die Protestbewegung zu kidnappen suchten, aber, wie die nachfolgenden Wahlen zeigten, in der Bevölkerung kaum Rückhalt fanden.
(19.8.2014)
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Zu einer Lösung der total verfahrenen Situation kann nur ein dauerhafter Waffenstillstand führen, und deshalb gilt es, gegen die Säbelrassler auf beiden Seiten Front zu machen. Falls es ein Waffenstillstand ermöglichen sollte, Referenden und Neuwahlen in Kiew und Donezk/Lugansk unter internationaler Kontrolle abzuhalten, um die aktuellen Interessen der Bevölkerungsmehrheit und der Minderheiten in der Ost- und in der Westukraine in Erfahrung zu bringen, hinge die Zukunft des Landes nicht mehr nur von den Oligarchen, den bewaffneten Gruppen und den Großmächten (EU, USA und Russische Föderation) ab. Die Chancen für die Aufrechterhaltung eines unabhängigen ukrainischen Gesamtstaats (West, Ost, Krim) schwinden, je länger die kriegerischen Auseinandersetzungen andauern und je mehr Zivilisten und Bewaffnete in der Ostukraine sterben. So steht am Ende vielleicht die Aufteilung des Landes in ein Protektorat mit Westanbindung und eines mit Ostanbindung, während die „heimgeholte“ Halbinsel Krim der Russischen Föderation zugeschlagen wird.
(27.9.2014)
II. März/April 2022
„Dem großrussischen Chauvinismus erkläre ich den Kampf auf Leben und Tod.“ (Lenin, 1922) [4]
Vor knapp drei Wochen begann die russische Invasion der Ukraine, für viele unerwartet und unbegreiflich. Die Gegenwart ist das Produkt ihrer Geschichte, will man also die Rätsel der Gegenwart verstehen, muss man auf ihre Geschichte zurückgehen. Tröstlichen Versicherungen, die Geschichte wiederhole sich nicht (oder wenn, dann nur als „Farce“), ist nicht zu trauen; vielmehr scheint die Geschichte voll von Wiederholungen und zwar von verhängnisvollen (man denke an die beiden Weltkriege und an die lange Reihe von Massakern und versuchten Genoziden). Sigmund Freud hat den Zusammenhang zwischen dem „Vergessen“ unliebsamer Erinnerungen und der Wiederkehr des Vergessenen erkannt: Je angestrengter etwas vergessen werden soll, desto wuchtiger kommt es den Vergesslichen als ihre Zukunft entgegen. Auch der aktuelle Ukrainekrieg nimmt sich wie die Reprise eines weitgehend vergessenen anderen Krieges aus, nämlich von Stalins gescheitertem „Winterkrieg“ gegen Finnland, den er (vom Dezember 1939 bis Mitte März 1940) im Rahmen seines Pakts mit Hitlerdeutschland vom Zaun brach, um das „Glacis“ der Sowjetunion zu erweitern. In einem zeitgenössischen Kommentar zu diesem ersten von drei Kriegen auf finnischem Terrain während des zweiten Weltkriegs hieß es:
„Seinen subjektiven Neigungen nach ist Stalin heute zweifellos der konservativste Politiker Europas. Er wünscht, dass die Geschichte, nachdem sie einmal die Herrschaft der Moskauer Oligarchie gesichert hat, ihre Arbeit nicht verdirbt und zum Stehen kommt. […] Stalin unterschätzte die lange Tradition des finnischen Volkes im Kampf um Unabhängigkeit und glaubte, die Regierung in Helsingfors allein durch diplomatischen Druck zum Nachgeben zwingen zu können. Er hat sich schwer verrechnet. Anstatt seinen Plan noch einmal zu überdenken, begann er zu drohen. Auf seine Anweisung hin versprach die Moskauer Prawda, Finnland innerhalb weniger Tage zu erledigen. In der ihn umgebenden Atmosphäre byzantinischer Kriecherei wurde Stalin selbst Opfer seiner Drohungen. Sie machten auf die Finnen keinen Eindruck, zwangen ihn aber zum sofortigen Handeln. So begann ein schändlicher Krieg – ohne Notwendigkeit, ohne klare Perspektiven, ohne moralische und materielle Vorbereitung […]. Die UdSSR sicherte sich im Nordwesten strategische Vorteile, doch zu welchem Preis. Das Prestige der Roten Armee ist untergraben, das Vertrauen der arbeitenden Massen und der unterdrückten Völker der ganzen Welt ist geschwunden. Die Folge ist, dass sich die internationale Stellung der UdSSR nicht verbessert, sondern verschlechtert hat. Stalin hat eine schwere persönliche Niederlage einstecken müssen.“ [5]
Siebeneinhalb Jahre nach Beginn des Kriegs im Grenzgebiet zu Russland sieht es so aus, als könne die Ukraine, deren Souveränität 1994 im „Budapester Memorandum“ von den USA, Großbritannien und Russland – als Kompensation für die Abgabe (bzw. Vernichtung) der dort stationierten Atomwaffen und Trägerraketen – garantiert worden war, zwischen den tektonischen Platten des Westens (der USA und ihrer Verbündeten) auf der einen, Russlands und seiner Verbündeten auf der anderen Seite zerrieben werden, nachdem bereits Teile der Ostukraine und die Halbinsel Krim an Russland gefallen sind. Doch der Widerstand der (frei gewählten) Regierung Selenskyj [6], der ukrainischen Armee, der (aus Freiwilligen bestehenden) „Territorialverteidigung“ und der Bevölkerungsmehrheit gegen die russischen (oder tschetschenischen) Truppen, die als marodierende „Befreier“ des Landes auftreten, zeigt, dass es inzwischen wieder eine ukrainische Alternative gibt: die der Verteidigung der Unabhängigkeit des Landes.
Literaturhinweise
Applebaum, Anne (2017): Red Famine. Stalin’s War on Ukraine. London (Penguin Books) 2018.
Deutscher, Isaac (1963): Trotzki, Bd. III; Stuttgart (Kohlhammer).
Eltchaninoff, Michel (2022): Antworten auf Fragen der Spiegel-Redakteure Britta Sandberg und Philipp Oehmke. Der Spiegel, 9.4.2022, S. 116-118.
Fenichel, Otto (1945): Psychoanalytische Neurosenlehre, Bd. I-III; Olten und Freiburg (Walter-Verlag) 1974-1977.
Laqueur, Walter (2015): Putinismus. Wohin treibt Russland? Berlin (Ullstein Buchverlage).
Gnauck, Gerhard, und Friedrich Schmidt (2022): „Die letzten Kämpfer von Mariupol.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.4.2022, S. 2.
Jobst, Kerstin S. (2010): Geschichte der Ukraine. Stuttgart (Reclam).
Lenin, W. I. (1963): Werke, Bd. 33, Berlin (Dietz).
– (1962): Werke, Bd. 36, a. a. O.
Lewin, Moshe (1967): Lenins letzter Kampf. Hamburg (Hoffmann und Campe) 1970.
Snyder, Timothy (2010): Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München (dtv) 2014.
Struve, Kai (2011): „Altes Feindbild, neuer Krieg. Warum Wladimir Putin die Ukraine >entnazifizieren< will und damit zeigt, dass er von der Geschichte des Nachbarlandes nichts versteht.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.3.2022, S. 6.
Trotzki, Leo D. (1988): Schriften, Bd. 1. 1 und Bd. 1.2. Hamburg (Rasch und Röhring).
– (1939): „Die ukrainische Frage“ (22.4.39); Schriften, Bd. 1.2 (a. a. O.), Text 50.
– (1940): „Stalin nach der finnischen Erfahrung“ (13.4.1940); a. a. O., Text 64.
Wassiljewa, Ljudmilla (2022): „Ich fürchte mich nicht.“ Ljudmilla Wassiljewa hat die Belagerung ihrer Heimatstadt Leningrad durch Hitlers Truppen im Zweiten Weltkrieg überlebt. Nun protestiert sie gegen Putins Angriff auf die Ukraine. Der Spiegel, 16.4.2022, S. 84 f.
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Wie zu Zeiten der Sowjetunion sind die westlichen Wirtschaftssysteme mit ihren (parlamentarisch-)demokratischen oder autoritären staatlichen Überbauten den autoritären Regimen des vormaligen Ostblocks – was Arbeitsproduktivität, Rüstungsausgaben, Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung, Konsumchancen und Meinungsfreiheit angeht – überlegen. Darum versuchen Millionen von Kriegs-, Armuts- und Verfolgungsflüchtlingen (auch die Millionen, die die Ukraine jetzt verzweifelt verlassen), in irgendeine der westlichen Wohlstandsoasen zu gelangen.
Die Stalin-Führung reagierte seinerzeit auf das West-Ost-Gefälle mit Abschottung, Terror im Inneren und (atomarer) Abschreckung gegenüber den westlichen Imperialismen. Ihr Nimbus beruhte auf dem planmäßigen Einsatz der verstaatlichten Produktionsmittel, der – für einen entsetzlichen Preis, nämlich 15 (oder mehr) Millionen Menschenopfer in Friedenszeiten – eine Industrialisierung des Landes und (in der Folge) den Sieg über Hitlers Invasionsarmeen ermöglichte (der die Sowjetunion 27 Millionen Kriegstote kostete). Die UdSSR schien lange Zeit das Modell eines alternativen, nicht-kapitalistischen Entwicklungspfads zu repräsentieren. Nach letzten Versuchen, durch Reformen von oben das System der bürokratischen Planwirtschaft zu retten („friedliche Koexistenz“, Konsumsteigerung, Glasnost und Perestroika), kollabierte das Ein-Partei-Regime – unter dem Druck des Wettrüstens – Anfang der neunziger Jahre. Die Partei-Nomenklatura eignete sich (ohne auf nennenswerten Widerstand zu treffen) das Staatseigentum an und verwandelte sich in eine neue Bourgeois-Klasse (die der – inzwischen als „Terrorist“ verfemte – Korruptionsbekämpfer Nawalny, der im Straflager gerade seinem zweiten Pseudo-Prozess entgegensieht, kurzerhand eine „Diebesbande“ nennt). Die der Sowjetunion einverleibten Satellitenländer ergriffen die Flucht – wie am Ende des ersten Weltkriegs, als die unterdrückten Nationen dem zaristischen „Völkergefängnis“ zu entkommen suchten – und verselbständigten sich als unabhängige, teils westlich orientierte Nationalstaaten. Mit den ihm verbliebenen Nachbarländern ging Russland 1991 eine Föderation (die „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“) ein, in der die neureichen „Oligarchen“ den Ton angaben. Sie bedurften eines staatlichen Schlichters im Kampf um die profitabelsten Stücke des vormaligen „Volkseigentums“ und eines Machtzentrums zum Schutz ihres Privateigentums an Produktionsmitteln gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung und dem westlichen Imperialismus. Dazu bot sich die Nachfolgeorganisation der Stalinschen Geheimpolizei, der FSB an, der die aus privaten und staatlichen Großunternehmen gemischte, noch immer vorwiegend extraktive Wirtschaft kontrolliert und personell seit mehr als zwei Jahrzehnten durch den früheren KGB-Offizier Putin repräsentiert wird. Dessen Regime beruht ideologisch zum einen auf der Verleugnung der stalinistischen Schreckenszeit, zum andern auf der Feier von Russlands Ruhm und Größe. Russland ist das Musterland der (verordneten) kollektiven Amnesie, die vor allem die Zeit des Hoch-Stalinismus (die Ära der riesigen Zwangsarbeitslager und der Massenerschießungen) betrifft. Doch ruft das heutige politische Regime mit den Morden an „Dissidenten“ (Politkowskaja, Nemzow…) und „Abtrünnigen“ (wie Litwinenko…), mit den Märchenerzählungen über die Vergangenheit und den Phantasien über die „westliche“ Welt die verdrängte Vergangenheit stets wieder herauf. Die reale Rückständigkeit des Landes soll durch den Rückgewinn „verlorener“ Provinzen des Zaren- und Stalinreichs (Tschetschenien und Teile von Georgien) – beziehungsweise durch die militärische Stützung scheiternder Regime in Belarus und Kasachstan – kompensiert werden. International soll dem Verlust von Prestige und Einfluss durch die „Rettung“ der Assad-Diktatur in Syrien, durch die Entsendung von Söldnertruppen nach Mali und… durch die Entwicklung von neuartigen (Atom-)Raketen mit interkontinentaler Reichweite begegnet werden.
Damit sind wir wieder bei der Invasion der (westlich orientierten) Ukraine, die sich für das Putin-Regime vielleicht als ebenso verhängnisvoll erweisen wird, wie es für das spätstalinistische Regime (1979) der Versuch Breschnews und seiner Nachfolger war, Afghanistan unter sowjetische Kontrolle zu bringen. Die Restaurationskriege gegen Tschetschenien und Georgien, die Interventionen in Belarus und Kasachstan folgten derselben Logik wie die Niederschlagung der antistalinistischen Revolten in Ostdeutschland (1953), in Ungarn (1956) und in der Tschechoslowakei (1968) oder die Unterdrückung der polnischen Solidarność-Bewegung (1981). Es ging und geht stets um Kontrolle, nicht nur um die militärische Sicherung des territorialen Bestands und um die Erweiterung von Einflusszonen, sondern vor allem darum, ein Übergreifen der Unabhängigkeits- und Selbstverwaltungs-Bestrebungen in den Peripherie-Staaten („Satelliten“) auf das Zentrum, Russland, im Keim zu ersticken.
In diesem Zusammenhang ist eine Episode aus den ersten Jahren der bolschewistischen Herrschaft von Interesse: Beim Zusammenschluss der verschiedenen nationalen Teilrepubliken unter kommunistischer Führung in einer Föderation oder Union kam es 1922 zu einem Konflikt zwischen den auf Autonomie und Gleichberechtigung bedachten georgischen (ukrainischen, belorussischen und transkaukasischen) Parteiführern, die von Lenin und Trotzki verteidigt wurden, und den Zentralisten Stalin, Dserschinski und Ordschonikidse. Lenin, der zu den ersten bolschewistischen Führern gehörte, die das Rückläufigwerden der Revolution (die „thermidorianische“ Strömung) wahrnahmen, führte seinen „letzten Kampf“ gegen die Bürokratisierung des Partei- und Staatsapparats, den Verzicht auf das Außenhandelsmonopol und das Ignorieren der Differenz zwischen dem Nationalismus unterdrückter und unterdrückender Nationen. 100 Jahre vor Putin schrieb er:
„Unter diesen Umständen ist es ganz natürlich, daß sich die [in der Sowjet-Verfassung von 1918 garantierte] Freiheit des Austritts aus der Union, mit der wir uns rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird, der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist.“ [7]
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Lenin war Internationalist, und er ahnte, dass der Kampf unterdrückter Nationen um ihre Autonomie noch lange währen würde. 1922 ging es um Subordinations- und Autonomie-Ansprüche im Verhältnis von sozialistisch orientierten Republiken. Trotzki plädierte noch 1939, im Jahr des Hitler-Stalin-Pakts und des Kriegsausbruchs, für das Autonomie- und Verselbständigungs-Recht der (sozialistischen) Ukraine gegenüber der stalinisierten UdSSR:
„Gekreuzigt zwischen vier Staaten, ist die Ukraine heute in die gleiche Situation geraten wie [früher] Polen […]. Die ukrainische Frage wird in allernächster Zukunft eine gewaltige Rolle im Leben Europas spielen […]“, schrieb er, und setzte – im Hinblick auf den Holodomor und die Terrorjahre – hinzu: „Nirgendwo haben Unterdrückung, Säuberungen, Repressalien und überhaupt alle Formen des bürokratischen Rowdytums derart mörderische Ausmaße angenommen wie im Kampf gegen das machtvolle, tiefverwurzelte Streben der ukrainischen Massen nach mehr Freiheit und Unabhängigkeit.“ [8]
Die Welt von heute ist eine andere: Die Sowjetunion ist Geschichte, und Russland ist eine ordinäre imperialistische Macht. Doch der Stalinist im Kreml [9] ist eine Reinkarnation jenes „Dershimorda“, der Halt’s Maul- und Hau drauf-Figur Nikolai Gogols, die Lenin seinerzeit in den Hyper-Zentralisten seiner Partei wiederaufleben sah. Doch dieser „Dershimorda“ hat, wie sein Gegenstück Trump in den USA, die Hand am Abzug der Nuklearwaffen, was einmal mehr deutlich macht, dass die bestehende Gesellschaft und ihre Staaten der Kernenergie nicht gewachsen sind.
(1.3.2022)
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Im Verhältnis imperialistischer Großmächte zu den von ihnen kontrollierten und kolonisierten Nationen und Minderheiten (oder zu ökonomisch und militärisch schwächeren, formell selbständigen Nationalstaaten) geht es heute wie vor 100 oder 150 Jahren um Investitionen (und deren militärische Absicherung), um den Zugang zu Energie-Quellen (Gas und Erdöl), Rohstoffen, billigen Arbeitskräften und Absatzmärkten. Putins und seiner Generäle Kriegsziel ist es, nach der „Anerkennung“ der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk weitere Teile aus dem Territorium der Ukraine herauszubrechen und schließlich auch die „Rest-Ukraine“ zu annektieren. Der Versuch, direkt bis Kiew vorzustoßen und dort eine Marionettenregierung einzusetzen, ist einstweilen gescheitert – wegen des unerwarteten militärischen Widerstands, der Nachschub-Probleme und der mangelnden Motivation der (ahnungslos gehaltenen) russischen Kampftruppen, denen es dämmert, dass sie nicht willkommen und ihre zivilen Opfer wohl kaum alle „Nazis“ sind… Ersatzweise soll nun, von Mariupol ausgehend, zum einen das gesamte Donbass-Gebiet erobert (und annektiert) werden, zum andern aber die Ukraine nicht nur vom Asowschen, sondern auch vom Schwarzen Meer abgeschnitten werden – durch die Eroberung und Okkupation eines Küstenstreifens (oder einer „Landbrücke“), die bis Odessa reicht und dann bis Transnistrien verlängert werden kann. Die dröhnende Propaganda der gleichgeschalteten russischen Medien, die sich manipulativ der (von Freud entdeckten) „Abwehrmechanismen“ [10] bedient, spricht derweil unentwegt von „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine, von der Rettung russisch-sprachiger Minderheiten vor einem drohenden ukrainischen „Genozid“ – oder auch von der Notwendigkeit, die internationale amerikanische Dominanz zu brechen. Neutrale und Nato-Staaten, die für die Ukraine Partei ergriffen haben, sehen sich – durch die Kriegslage und das Drängen der Kiewer Regierung – genötigt, Kiew mit wirksamen Defensiv-Waffen (Kampfflugzeugen und modernen Panzern) auszustatten. Das beschwört – zum ersten Mal seit der Kuba-Krise (vor 60 Jahren) – die Gefahr einer direkten Konfrontation der USA und Russlands herauf (mit der Möglichkeit des Einsatzes atomarer Waffen).
Bei dem Einfall der Putin-Armee in die Ukraine – in der Tarnsprache der Kreml-Medien „Spezielle Militäroperation“ genannt – handelt es sich um einen Kolonialkrieg des 21. Jahrhunderts. Das heißt: Es geht um Landnahme, Vertreibung (oder Deportation) des „illoyalen“ Teils der ukrainischen Bevölkerung und um die Eingliederung der Ukraine in das Herrschaftssystem, das sich in den vergangenen zwanzig Jahren in Russland entwickelt hat (Präsidialdiktatur mit Wahlfälschungen und einem Scheinparlament, totalitäre Kontrolle des FSB, Ausschaltung jeder Opposition). Wie alle Kolonisierungskriege wird auch dieser mit modernsten, barbarischen Mitteln geführt – mit wahllosen Bombardements, Raketen, Streubomben und Marschflugkörpern, der Zerstörung von „Infrastruktur“ und dem Einsatz von skrupellosen Söldnertruppen. Die russische Kriegführung folgt dem Muster der in Tschetschenien (Grosny 1994/95 und 1999/2000) und Syrien (Aleppo, Februar 2016) erprobten „Aufstands-Bekämpfung“. Die in Kiewer Vororten (wie Butscha) und in Mariupol verübten Gräueltaten (Erschießungen und Vergewaltigungen), die – wie einst die von Katyn [11] – geleugnet, vertuscht oder der ukrainischen Armee in die Schuhe geschoben werden, zeigen, dass es sich um einen „klassischen“ Vertreibungs- und Deportations-Krieg gegen eine „illoyale“ Nation handelt, in dem es nicht um die Eroberung, sondern um die Zerstörung von Städten geht, nicht allein um die Vernichtung des militärischen Gegners, sondern um die Brechung des Widerstandsgeists der autonomistisch gesinnten Bevölkerung.
Bei der ukrainischen Reaktion auf die russische Attacke handelt es sich um einen Unabhängigkeitskrieg, in dem jede Unterstützung willkommen ist, auch die von hochgerüsteten „westlichen“ Kolonial-Mächten, die selbst „schmutzige“, d. h. verbrecherische Kriege – in Algerien und Vietnam, in Afghanistan und im Irak… – geführt (und verloren) haben und mit ihren Waffenlieferungen eigene Ziele verfolgen. Für die Verteidigung der Unabhängigkeit der Ukraine ist aktuell die Lieferung moderner Defensiv-Waffen entscheidend. Erst mittel- und langfristig wird die Solidarisierung der Kriegsgegner in West und Ost, in den neutralen und Nato-Staaten auf der einen, in Russland und seinen Satelliten (Belarus und Kasachstan) auf der anderen an Bedeutung gewinnen. Sollte der russische Vormarsch gestoppt, sollten die Invasionstruppen gar zum Rückzug gezwungen sein (was der Putin-Diktatur ein Ende machen würde), so wird das weitere Schicksal der Ukraine davon abhängen, ob sich die militärische und zivile Autonomie-Bewegung mit der Verteidigung der äußeren Unabhängigkeit des Landes begnügt oder sich auch an die Erlangung innerer Unabhängigkeit – nämlich der von Oligarchen, warlords und dubiosen „Stellvertretern“ – heranwagt, an der so viele Résistancen gescheitert sind.
(25.4.2022)
In der Druckausgabe erschien eine frühere Version dieses Beitrags (Anm. d. Red.)
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022).
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[1] Vgl. dazu Applebaum, Red Famine (2018). Jobst resümiert: „Die sowjetische Ukraine durchlitt in der Zwischenkriegszeit zwei verheerende Hungernöte mit mehreren Millionen Toten, denen im Zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besatzung eine dritte und in der unmittelbaren Nachkriegszeit (1946/47) eine vierte folgen sollte“ (2010, S. 187).
[2] Deutscher, I. (1963), Kap. 5, S. 388 f.
[3] Snyder (2010), S. 405. Vgl. dazu auch ebd., S. 419.
[4] „Notiz für das Politbüro über den Kampf gegen den Großmachtchauvinismus“ (6.10.1922). Werke, Band 33, S. 358 und S. 506 (Fn. 80).
[5] Trotzki (1939): „Die ukrainische Frage“ (22.4.1939). Schriften, Bd. 1.2, Text 50, S. 1169 f. und S. 1173. Man braucht nur „finnisch“ und „Finnland“ durch „ukrainisch“ und „Ukraine“, „Helsingfors“ durch „Kiew“ und „Stalin“ durch „Putin“ zu ersetzen, um die Parallele zu sehen… Vgl. dazu auch die Trotzki-Texte 56 und 57 (a. a. O.).
[6] Er wurde am 22.4.2019 in einer Stichwahl mit 73 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten gewählt.
[7] „Zur Frage der Nationalitäten oder der >Autonomisierung<“ (30.12.1922); Werke, Band 36, S. 590 f. – Vgl. dazu auch Lewin, Lenins letzter Kampf (1967).
[8] „Die ukrainische Frage“ (22.4.1939); in: Schriften, Band 1.2, S. 1169 f. und S. 1173 (Siehe auch: Die ukrainische Frage, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022) – Anm. d. Red.). Vgl. dazu auch die Texte 56, 57 und 60 (ebd.).
[9] Die „echten“ Stalinisten bedienten sich der „marxistisch-leninistischen“ Doktrin als Tarnkappe; Putin hält es eher mit antikommunistischen Ideologen wie Berdjajew und Iljin, die vor 100 Jahren (auf dem „Philosophen-Dampfer“) aus der Sowjetunion ausgewiesen wurden, oder mit ihrem Nachfahren Dugin. [Vgl. dazu Laqueur (2022) und Eltchaninoff (2022).] Ob er von deren Ideologien – und von den Glaubenslehren der regimetreuen orthodoxen Kirche – überzeugt ist oder nicht, ist nicht weiter von Belang, solange er „realpolitisch“ Bevölkerungen, Gebiete und Bodenschätze für die russische Föderation annektiert und auf diese Weise den kollektiven Narzißmus seiner Gefolgsleute Auftrieb befriedigt.
[10] Verleugnung, Projektion, Ungeschehen-Machen und Verkehrung ins Gegenteil … Vgl. dazu Fenichel, O. (1945), Kap. IX.
[11] Im April und Mai 1940 wurden von KGB-Einheiten in Katyn (bei Smolensk) und an anderen Orten mehr als 20 000 polnische Kriegsgefangene erschossen. Die sowjetischen Regierungen machten fünfzig Jahre lang auch für diese Massaker die Nazi-Wehrmacht verantwortlich…