Syrien

Wohin treibt Syrien?

Angesichts der erstaunlichen historischen Ereignisse, die sich seit letztem Freitag abspielen, war das erste, was mir in den Sinn kam, Erleichterung und Freude über die Bilder von Häftlingen, die aus der Hölle der Kerkergesellschaft befreit wurden, zu der Syrien unter dem Regime der Familie Assad geworden war. Unsere Gefühle waren auch überwältigt von der Freude über den Anblick syrischer Familien, die plötzlich aus dem nahe gelegenen Exil zurückkehren konnten, sei es aus einem anderen Gebiet innerhalb Syriens oder aus Jordanien, dem Libanon oder der Türkei, um die Städte und Häuser zu besuchen, aus denen sie vor Jahren fliehen mussten. Hinzu kommt, dass der Traum von Millionen syrischer Flüchtlinge in den Ländern um Syrien herum und in Europa, in ihre Heimat zurückzukehren, wenn auch nur für einen Besuch, dieser Traum, der vor ein paar Tagen noch völlig unmöglich schien, nun realisierbar zu werden scheint.

 

„Sieg der großen syrischen Revolution und Sturz des kriminellen al-Assad-Regimes“

Einblendung im syrischen Staatsfernsehen nach dem Sieg der Revolution am 8.12.2024 (Text: Hayat Tahrir al-Sham)

Nun ist, wie das arabische Sprichwort sagt, nach der Begeisterung die Zeit zum Nachdenken gekommen. Wir wollen reflektieren, was bisher passiert ist, um abzuschätzen, was die Zukunft bringen könnte. Zunächst einmal lohnt es sich, diejenigen, die das hasserfüllte Assad-Regime unterstützten und behaupteten, dass es den Willen des syrischen Volkes vertrete und dass jede/jeder, die/der dagegen war, nur ein Söldner einer ausländischen Macht sei, ob regional oder international, auf Folgendes hinzuweisen: Dieses Regime, das angeblich das schlagende Herz der „Achse des Widerstands“ sei, hat seit einem halben Jahrhundert keinen Finger gegen die zionistische Besetzung seines eigenen Landes gekrümmt und hatte 1976 im Libanon interveniert, um die Kräfte der Allianz der Palästinensischen Befreiungsorganisation und der Libanesischen Nationalbewegung zu unterdrücken und die Kräfte der libanesisch-christlichen religiösen Rechten zu retten;1990 hatte es sich dem Lager des von den Vereinigten Staaten und dem saudischen Königreich geführten Krieges gegen den Irak angeschlossen. Die Realität hat schlüssig bewiesen, dass das hasserfüllte Assad-Regime nur dank zweier ausländischer Besetzungen standhielt, von den insgesamt fünf ausländischen Besatzungen auf syrischem Territorium.

Die Wahrheit ist, dass ohne die iranische Intervention, die 2013 begann, insbesondere über die libanesische Hisbollah, und ohne die russische Intervention, die 2015 begann, und auch ohne das US-Veto, das die syrische Opposition daran hinderte, irgendeine Art von Flugabwehrwaffen zu erhalten, aus Angst, sie könnten gegen die israelische Luftwaffe eingesetzt werden – ohne diese drei Faktoren wäre das Assad-Regime vor über einem Jahrzehnt gefallen, da es 2013 und 2015 trotz der iranischen Rettungsaktion am Rande des Abgrunds stand. Doch sobald die externe Unterstützung versiegte, brach das Regime zusammen wie jedes „Marionettenregime“, das von der Macht, die seine Fäden hielt, aufgegeben wurde. Das jüngste eindrucksvolle Beispiel für einen solchen Zusammenbruch war das, was mit dem Marionettenregime in Kabul beim Vormarsch der Taliban geschah, nachdem die US-Streitkräfte es seit 2021 nicht mehr länger stützten.

Offensive in Syrien 2024

(Gestaltung: Ecrusized)

 

Nachdem Russland den größten Teil seiner Streitkräfte aus Syrien abgezogen hatte, weil es sich im Morast seiner Invasion in der Ukraine festgefahren hat (laut israelischen Quellen ließ Moskau nur 15 Militärflugzeuge in Syrien zurück), und nachdem die libanesische Hisbollah eine schwere Niederlage erlitten hatte, die ihr neuer Generalsekretär verzweifelt als „großen Sieg …, der den 2006 errungenen Sieg übertrifft“ darzustellen versuchte und die sie diesmal daran hinderte, ihren syrischen Verbündeten retten zu können, und all dies, während der Iran mit seiner vorsichtigen Herangehensweise wegen der Aussicht auf eine Eskalation der israelischen Aggression gegen ihn und der Möglichkeit, dass sich die Vereinigten Staaten ihr nach Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus direkt anschließen könnten – als also die Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) angesichts dieser zusammenwirkenden Fakten die so entstandene Gelegenheit nutzte, um, beginnend mit der Stadt Aleppo, eine Offensive auf die Gebiete unter der Kontrolle des Regimes und seiner Verbündeten zu starten, brach das syrische Marionettenregime wie sein afghanisches Gegenstück zusammen.

Der große Unterschied zwischen Afghanistan und Syrien besteht jedoch darin, dass die HTS viel schwächer ist als die Taliban, als sie ihre Kontrolle über ihr Land übernahmen. Die Kräfte des Regimes der Assad-Familie brachen nicht aus Angst vor einem mächtigen Feind zusammen, sondern weil sie keinen Anreiz mehr hatten, das Regime zu verteidigen. Die Armee, die auf konfessioneller Basis durch die Ausnutzung der alawitischen Minderheit durch die Familie Assad aufgebaut war, hatte keinen Anreiz mehr, für die Kontrolle der Familie Assad über das gesamte Land zu kämpfen, insbesondere angesichts des Zusammenbruchs der Lebensbedingungen, der zum Zusammenbruch der Kaufkraft der Einkommen der Soldaten führte. Der verzweifelte Versuch des Regimes, ihre Gehälter in letzter Minute um fünfzig Prozent zu erhöhen, konnte daran nichts mehr ändern. Infolgedessen unterscheidet sich die derzeitige Situation in Syrien sehr von der in Afghanistan nach dem Sieg der Taliban. Die HTS kontrolliert nur einige der syrischen Gebiete, und in Teilen davon ist ihre Kontrolle fragil, insbesondere in der Umgebung der Hauptstadt Damaskus, wo das Regime zusammengebrochen war, bevor die HTS sie nach den Kräften des Southern Operations Room erreichte.

Syrien ist nun in mehrere Gebiete unter der Kontrolle heterogener, sogar feindlicher Kräfte aufgeteilt. Da sind zum Ersten die von Israel besetzten Golanhöhen, wo der zionistische Staat die Gelegenheit ergriffen hat, in die Pufferzone zu expandieren, die die von ihm besetzten und 1981 formell annektierten Gebiete von den vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten trennte, während seine Luftwaffe begonnen hat, einige der wichtigsten militärischen Einrichtungen des nicht mehr existierenden Regimes zu zerstören, um zu verhindern, dass sie möglichen Nachfolgern in die Hände fallen. Dann gibt es das riesige Gebiet, das die HTS jetzt im Norden und in der Mitte kontrolliert, aber das Ausmaß dieser Kontrolle generell und insbesondere in der Küstenregion einschließlich der alawitischen Berge ist höchst fragwürdig. Dann gibt es zwei Gebiete an der nördlichen Grenze unter türkischer Besatzung in der eine „Syrische Nationalarmee“ (die eher als „Türkisch-Syrische Armee“ bezeichnet werden sollte) stationiert ist; ein beträchtliches Gebiet im Nordosten, östlich des Euphrat, ist unter der Kontrolle der Syrian Democratic Forces, die von der kurdischen Bewegung dominiert werden, die mit einigen arabischen Stämmen (die die HTS sicher gern auf ihre Seite ziehen wird) unter dem Schutz der US-Streitkräfte verbündet ist; ein großes Gebiet im Süden, westlich des Euphrat, ist unter der Kontrolle der Syrian Free Army, die ebenfalls mit den Vereinigten Staaten verbunden ist und sich um den US-Stützpunkt al-Tanf auf syrischem Territorium nahe der Grenzen zu Jordanien und dem Irak gruppiert; und schließlich die südliche Region, wo sich Kräfte in der Region Daraa, die gegen das Assad-Regime rebellierten, von denen einige unter russischer Obhut standen, und Kräfte, die aus der Volksbewegung in der Region Suwayda hervorgingen, zusammengeschlossen haben, um den Southern Operations Room zu bilden, die syrisch-arabische bewaffnete Gruppierung, die am engsten mit der demokratischen Volksbewegung verbunden ist.

      
Mehr dazu
Neue Antikapitalistische Partei-L’Anticapitaliste (Frankreich): Baschar al-Assad ist weg! Es lebe das syrische Volk!, die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025) (nur online). Auch bei intersoz.org.
Gilbert Achcar: Was passiert in Syrien?, die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025) (nur online).
Joseph Daher: Was lehrt uns die Geschichte der syrischen Revolution?, die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020).
 

Wie könnten sich die Dinge nun entwickeln? Zum ersten kann man feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle diese Gruppierungen einer einzigen Autorität unterwerfen, fast gleich Null ist, selbst wenn wir die kurdische Bewegung beiseite lassen und uns auf die arabischen Gruppierungen beschränken. Selbst die Türkei, die eine langjährige Beziehung zur HTS hat und ohne die die HTS sich in der Region Idlib im Nordwesten Syriens nicht hätte halten können, wird ihre Besatzung und ihre Marionetten nicht aufgeben, solange sie ihr Ziel, die kurdische Bewegung einzugrenzen, nicht erreicht hat. Zum zweiten haben diejenigen, die an die Transformation von HTS und Ahmad Husain asch-Schar’a alias al-Dscholani vom salafistischen Dschihadismus zur nicht-religiösen Demokratie hofften oder glaubten, begonnen zu erkennen, dass sie geträumt haben. Die Wahrheit ist, dass die HTS nicht in der Lage gewesen wäre, sich anstelle der Kräfte des zusammengebrochenen Regimes auszubreiten, wenn sie nicht vorgetäuscht hätte, sie hätte ihren Charakter verändert und sich einer demokratischen, nicht-konfessionellen Zukunft geöffnet. Andernfalls hätten sich lokale Kräfte von Homs bis Damaskus heftig dagegen gewehrt, sei es unter den Flügeln des erloschenen Regimes oder nach ihrer Befreiung von ihm. Al-Dscholanis Eile, zu erklären, er habe die „Heilsregierung“, die die Region Idlib regierte, in die neue syrische Regierung umgewandelt, hat die Hoffnungen derer enttäuscht, die von ihm erwarteten, dass er zu einer Koalitionsregierung aufruft, und unterstreicht eine Tatsache, an die sich die Menschen hätten erinnern sollen: die Tatsache, dass die Bewohner:innen der Region Idlib selbst erst vor acht Monaten gegen die Tyrannei der HTS demonstriert und den Sturz von al-Dscholani, die Auflösung seiner Repressionsapparate und die Freilassung von Häftlingen in seinen Gefängnissen gefordert haben.

Nicht zuletzt sollte die Freude über den Sturz des Tyrannen nicht dazu führen, dass wir die Eile verschiedener europäischer Regierungen übersehen, über syrische Asylanträge nicht mehr zu entscheiden, und den Schritt verschiedener Länder, insbesondere des Libanon, der Türkei und einiger europäischer Länder, unter dem Vorwand des Sturzes des Assad-Regimes über die Ausweisung der syrischen Flüchtlinge und ihre gewaltsame Rückführung nach Syrien nachzudenken. Syriens langer Leidensweg ist noch nicht beendet, der vor 54 Jahren (mit dem Staatsstreich von Hafiz al-Assad 1970) begann und sich vor 13 Jahren (nach dem Volksaufstand 2011) tragisch verschlimmerte. Alle Länder müssen das Asylrecht für Syrer:innen respektieren und es denen weiter gewähren, die es beantragen.

Übersetzt vom arabischen Original, das am 10. Dezember 2024 von Al-Quds al-Arabi veröffentlicht wurde.
Quelle und Übersetzung aus dem Arabischen: Blog Gilbert Achcar, International Viewpoint
Übersetzung aus dem Englischen: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz