Das nachfolgende Interview führte die US-Zeitschrift Tempest mit Joseph Daher am 8. Dezember kurz nach dem Sieg der Rebellion in Syrien.
Interview mit Joseph Daher
Tempest: Wie fühlen sich die Syrer:innen heute nach dem Fall des Regimes? |
Joseph Daher: Das Glücksgefühl ist unbeschreiblich. Wir konnten Videos von Demonstrationen der Bevölkerung im ganzen Land sehen, aus Damaskus, Tartus, Homs, Hama, Aleppo, Qamischli, Suwaida usw., und zwar von Menschen aller Ethnien und Glaubensrichtungen, die Statuen und Symbole der Assad-Familie zerstörten.
„Sieg der großen syrischen Revolution und Sturz des kriminellen al-Assad-Regimes“ Einblendung im syrischen Staatsfernsehen nach dem Sieg der Revolution am 8.12.2024 (Text: Hayat Tahrir al-Sham) |
Und natürlich gibt es ein riesiges Glücksgefühl aufgrund der Befreiung der politischen Gefangenen vor allem aus dem Sednaya-Gefängnis, das als „Menschenschlachthaus“ bekannt ist und in dem je nach Phase zwischen 10 000 bis 20 000 Gefangene eingekerkert waren. Einige von ihnen waren dort seit den 1980er Jahren inhaftiert. Und es haben Menschen, die 2016 oder schon vorher aus Aleppo und anderen Städten geflohen sind, nach Hause zurückkehren und das erste Mal seit Jahren ihre Familien wiedersehen können.
Gleichzeitig war zu sehen, dass in den ersten Tagen nach Beginn der Offensive die Reaktionen der Bevölkerung zunächst sehr gemischt und Ausdruck deren Verunsicherung waren, Ausdruck auch der politischen Unterschiedlichkeit der politischen Strömungen in der syrischen Gesellschaft, und zwar im Land wie auch außerhalb. Einige Teile waren über diese territorialen Eroberungen und jetzt den möglichen Sturz des Regimes sehr glücklich.
Aber andere Teile der Bevölkerung waren und sind immer noch voller Angst, was HTS und SNA angeht. Sie sind aufgrund des autoritären und reaktionären Wesens dieser Kräfte und ihres politischen Projekts besorgt. Und einige machen sich Sorgen über das, was angesichts der neuen Lage geschehen wird. Vor allem sind weite Teile der kurdischen Bevölkerung, aber auch andere zwar glücklich über den Sturz der Assad-Diktatur, haben aber die Vertreibungen und Ermordungen durch die SNA verurteilt.
Kannst du den Ablauf der Ereignisse nachzeichnen, vor allem den Vormarsch der Rebellen, die Assads Armee besiegten, was zu seinem Sturz führte? |
Die HTS und die von der Türkei unterstützte SNA begannen ihren Feldzug gegen die syrische Armee am 27. November und verzeichneten verblüffende Erfolge. In weniger als einer Woche eroberten sie die größten Teile der Regionen um Aleppo und Idlib. Nach schweren Kämpfen mit der Armee und der sie unterstützenden russischen Luftwaffe fiel Hama, 200 km nördlich von Damaskus, in die Hände der Rebellen. Nach Hama übernahm die HTS die Kontrolle über Homs.
Anfang schickte das Regime Verstärkungen nach Hama und Homs und bombardierte dann mit Unterstützung der russischen Luftwaffe die Städte Idlib und Aleppo und deren Umgebung. Am 1. und 2. Dezember wurde Idlib mit fünfzig Luftschlägen angegriffen, vier Krankenhäuser, vier Schulen, zwei Flüchtlingslager und ein Wasserwerk wurden getroffen. Mit den Luftschlägen wurden 48 000 Menschen vertrieben und Versorgungseinrichtungen beschädigt und Hilfslieferungen unterbrochen. Diktator Baschar al-Assad hatte eine Niederlage seiner Feinde angekündigt und erklärt: „Terrorismus versteht nur die Sprache der Gewalt.“ Aber von allen Seiten her zerbröselte das Regime bereits.
Als das Regime [im Norden] Stadt um Stadt verlor, haben sich die Gouvernements Suweida und Daraa selbst befreit. Die dort ansässigen bewaffneten Kräfte der Opposition, die von HTS und SNA unabhängig sind und sich auch deutlich von ihnen unterscheiden, ergriffen die Kontrolle. Daraufhin zogen sich die Kräfte des Regimes zehn Kilometer nördlich von Daraa zurück und gaben auch ihre Stellungen in der Provinz Quneitra auf, die an die von Israel besetzten Golanhöhen grenzt.
Als sich verschiedene bewaffnete Kräfte der Opposition, und das waren weder die HTS noch die SNA, der Hauptstadt Damaskus näherten, zerbrachen die Kräfte des Regimes und zogen sich zurück, während die Demonstrationen und das Verbrennen aller Symbole von Baschar al-Assad in den verschiedenen Vororten von Damaskus ständig mehr wurden. In der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember wurde bekannt gegeben, dass Damaskus befreit war. Das genaue Schicksal und der Aufenthaltsort von Baschar al-Assad waren zunächst unbekannt, aber einige Informationen deuteten darauf hin, dass er sich unter Moskaus Schutz in Russland aufhielt.
Der Sturz des Regimes bewies seine strukturelle Schwäche, militärisch, wirtschaftlich und politisch. Es brach zusammen wie ein Kartenhaus. Dies ist kaum verwunderlich, denn es war klar, dass die Soldaten angesichts ihrer schlechten Bezahlung und Bedingungen nicht für das Assad-Regime kämpfen würden. Sie zogen es vor, zu fliehen oder einfach nicht zu kämpfen, statt ein Regime zu verteidigen, für das sie nur wenig Sympathie hegten, zumal viele von ihnen zwangsrekrutiert worden waren.
Neben dieser Dynamik im Süden gab es in verschiedenen Teilen des Landes seit Beginn der Offensive der Rebellen andere Entwicklungen. Zunächst startete die SNA Angriffe auf Gebiete, die von den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) im Norden Aleppos kontrolliert werden, und kündigte dann den Beginn einer neuen Offensive gegen die nördliche Stadt Manbidsch an, die von den SDF kontrolliert wird. Am Sonntag, den 8. Dezember, rückte die SNA mit Unterstützung der türkischen Armee, Luftwaffe und Artillerie in die Stadt ein.
Zweitens haben die SDF den größten Teil des Gouvernements Deir-ez-Zor erobert, das zuvor von syrischen Regimetruppen und pro-iranischen Milizen kontrolliert wurde, nachdem diese sich zurückgezogen hatten, um in anderen Gebieten gegen HTS und SNA zu kämpfen. Die SDF dehnten daraufhin ihre Kontrolle über weite Teile des Nordostens aus, die zuvor unter der Herrschaft des Regimes standen.
Wer sind die Rebellengruppen, im Besonderen die wichtigsten Formationen HTS und SNA? Worin besteht ihre Politik, was ist ihr Programm und was ist ihr Projekt? |
Die erfolgreiche Eroberung von Aleppo, Hama, Homs und anderen Gebieten in einer von der HTS geführten militärischen Offensive spiegelt in vielerlei Hinsicht die Entwicklung dieser Bewegung über mehrere Jahre hinweg zu einer disziplinierteren und besser strukturierten Organisation wider, sowohl politisch als auch militärisch. Sie kann jetzt Drohnen herstellen und unterhält eine Militärakademie. In den letzten Jahren konnte die HTS ihre Hegemonie über einige militärische Gruppen sowohl durch Unterdrückung als auch durch Einbeziehung durchsetzen. Auf dieser Grundlage hat sie sich in die Lage versetzt, diesen Angriff durchzuführen.
Sie ist in den von ihr kontrollierten Regionen zu einem quasi-staatlichen Akteur geworden. Sie hat eine Regierung eingesetzt, die Syrische Heilsregierung (SSG), die so etwas wie die zivile Verwaltung der HTS ist und Dienstleistungen zur Verfügung stellt. Die HTS und die SSG zielten in den letzten Jahren darauf ab, sich gegenüber regionalen und internationalen Mächten als rationale Kraft zu präsentieren, um auf diese Weise ihre Herrschaft zu normalisieren. Dies hat insbesondere dazu geführt, dass einige NGO in Schlüsselbereichen wie dem Bildungs- und Gesundheitswesen, in denen die SSG über keine ausreichenden finanziellen Mittel und Wissen verfügt, mehr Freiraum für ihre Tätigkeit erhalten haben.
Das bedeutet nicht, dass es in den von ihr beherrschten Gebieten keine Korruption gibt. Sie hat ihre Herrschaft mit autoritären und polizeilichen Maßnahmen durchgesetzt. Die HTS hat insbesondere Aktivitäten unterdrückt oder eingeschränkt, die ihrer Ansicht nach konträr zu ihrer Ideologie stehen. So hat die HTS beispielsweise mehrere Projekte zur Unterstützung von Frauen, vor allem von Bewohnerinnen der Flüchtlingslager, unter dem Vorwand gestoppt, diese Projekte kultivierten die Gleichstellung der Geschlechter, was gegen ihre Herrschaft gerichtet sei. Die HTS hat auch politische Gegner:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen und Personen, die sie als Kritiker:innen oder Gegner:innen ansieht, festgenommen.
Offensive in Syrien 2024 (Gestaltung: Ecrusized) |
Die HTS, die von vielen Regierungen, einschließlich der US-amerikanischen, nach wie vor als terroristische Organisation eingestuft wird, hat versucht, ein gemäßigteres Bild von sich abzugeben, um als vernünftiger und verantwortungsbewusster Akteur anerkannt zu werden. Begonnen hat dies 2016 mit dem Abbruch ihrer Beziehungen zu Al-Qaida und der Neuausrichtung ihrer politischen Ziele in Syrien. Außerdem hat sie Personen und Gruppen, die mit Al-Qaida und der Organisation Islamischer Staat in Verbindung stehen, unterdrückt.
Im Februar 2021 erklärte ihr Anführer Abu Mohammed al-Dschoulani oder Ahmad asch-Schar‘a (sein richtiger Name) in seinem ersten Interview mit einem US-Journalisten, dass die von ihm kontrollierte Region „keine Bedrohung für die Sicherheit Europas und Amerikas“ darstelle und dass die von ihm beherrschten Gebiete nicht zu einer Basis für Operationen im Ausland würden. [1]
Bei diesem Versuch, sich als legitimer Gesprächspartner auf der internationalen Bühne zu definieren, betonte er die Rolle der Gruppe im Kampf gegen den Terrorismus. Im Rahmen dieser Neuausrichtung hat sie in einigen Gebieten die Rückkehr von Christen und Drusen zugelassen und Kontakte zu einigen Führern dieser Gemeinschaften aufgenommen.
Auch nach der Einnahme von Aleppo präsentierte sich die HTS als verantwortungsvoller Akteur. So posteten HTS-Kämpfer sofort Videos vor Banken, womit sie deutlich machten, dass sie Privateigentum und Vermögenswerte schützen. Sie versprachen auch, Zivilisten und religiöse Minderheiten, insbesondere Christen, zu schützen, denn sie wissen, dass das Schicksal dieser Gemeinschaften im Ausland genau beobachtet wird.
Auch hat die HTS zahlreiche Erklärungen abgegeben, in denen sie einen ähnlichen Schutz für Kurden und islamische Minderheiten wie Ismaeliten und Drusen verspricht. Sie gab auch eine Erklärung zu den Alawiten ab, in der sie diese zum Bruch mit dem Regime aufrief, ohne jedoch zu erklären, dass die HTS sie schützen würde. Sie äußerte sich nicht klar über die Zukunft der Alawiten. In dieser Erklärung bezeichnet die HTS die alawitische Gemeinschaft vielmehr als ein Instrument des Regimes gegen das syrische Volk.
Schließlich hat der Führer der HTS, Abu Mohammad al-Dschoulani, erklärt, dass die Stadt Aleppo von einer lokalen Behörde verwaltet werden wird und dass sich alle militärischen Kräfte, einschließlich derjenigen der HTS, in den kommenden Wochen vollständig aus der Stadt zurückziehen werden. Daraus wird ersichtlich, dass al-Dschoulani aktiv mit lokalen, regionalen und internationalen Kräften zusammenarbeiten will.
Es ist jedoch noch offen, ob die HTS diesen Erklärungen Taten folgen lässt. Die Organisation ist eine autoritäre und reaktionäre Organisation mit einer islamisch-fundamentalistischen Ideologie, die immer noch ausländische Kämpfer in ihren Reihen zählt. In den letzten Jahren kam es in Idlib zu zahlreichen Demonstrationen gegen die Herrschaft der HTS und gegen die Unterdrückung von politischen Freiheiten und Menschenrechten einschließlich Ermordungen und Folterungen von Gegnern.
Es reicht nicht, religiöse oder ethnische Minderheiten zu tolerieren oder ihnen zu erlauben, zu beten. Es geht vor allem darum, ihre Rechte als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen, die über die Zukunft des Landes mitbestimmen können. |
Generell sind Äußerungen des HTS-Chefs al-Dschoulani wie „Menschen, die sich vor der islamischen Regierung fürchten, haben entweder nur eine falsche Umsetzung wahrgenommen oder sie verstehen sie nicht richtig“ definitiv nicht beruhigend, ganz im Gegenteil. [2]
Die von der Türkei unterstützte SNA ist eine Koalition bewaffneter Gruppen mit überwiegend islamisch-konservativer Politik. Sie hat einen sehr schlechten Ruf und ist verantwortlich für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, insbesondere gegenüber der kurdischen Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten. Sie waren insbesondere an der türkisch geführten Offensive zur Besetzung von Afrin im Jahr 2018 beteiligt, die zur Zwangsvertreibung von rund 150 000 Zivilist:innen führte, von denen die große Mehrheit Kurd:innen sind.
Auch in der aktuellen Offensive dient die SNA in erster Linie türkischen Zielen, indem sie Gebiete angreift, die von den kurdisch geführten Syrischen Verteidigungskräften (SDF) kontrolliert werden und in denen große kurdische Bevölkerungsgruppen leben. So hat die SNA beispielsweise die Stadt Tal Rifaat und das Gebiet Schahba nördlich von Aleppo erobert, die zuvor unter der Kontrolle der SDF standen. Dies führte zur Zwangsvertreibung von mehr als 150 000 Zivilist:innen und zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen an Kurd:innen, darunter Ermordungen und Entführungen. [3] Anschließend kündigte die SNA eine von der türkischen Armee unterstützte Militäroffensive auf die von den SDF kontrollierte Stadt Manbidsch an, in der 100 000 Zivilist:innen leben.
Es gibt also Unterschiede zwischen der HTS und der SNA. Die HTS ist nicht abhängig von der Türkei, im Gegensatz zur SNA, die von der Türkei kontrolliert wird und deren Interessen dient. Die beiden Kräfte sind unterschiedlich, verfolgen verschiedene Ziele und haben Konflikte, auch wenn diese im Moment noch unter der Decke gehalten werden. Die HTS will derzeit keine Konfrontation mit den SDF. Die SNA veröffentlichte eine kritische Erklärung gegen die HTS wegen ihres „aggressiven Verhaltens“ gegenüber SNA-Mitgliedern, während die HTS die SNA-Kämpfer für Plünderungen verantwortlich macht.
Für viele, die die Ereignisse in Syrien nicht verfolgt haben, kam dies aus heiterem Himmel. Was sind die Ursachen für die jetzige Entwicklung von Revolution, Konterrevolution und Bürgerkrieg in Syrien? Was ist in der letzten Zeit innerhalb des Landes geschehen, das die Militäroffensive ausgelöst hat? Welche regionalen und internationalen Dynamiken haben dem Vormarsch der Rebellen ermöglicht? |
Ursprünglich startete die HTS ihre Offensive als Reaktion auf die Eskalation der Angriffe und Bombardierungen ihres nordwestlichen Gebiets durch das Assad-Regime und Russland. Ihr Ziel war es auch, Gebiete zurückzuerobern, die das Regime erobert hatte, als es in die Deeskalationszonen vorgestoßen war, die in einem von Moskau und Teheran ausgehandelten Abkommen vom März 2020 vereinbart worden waren. Nach ihrem überraschenden Erfolg weiteten sie jedoch ihre Ziele aus und riefen offen zum Sturz des Regimes auf, was sie und andere nun erreicht haben.
Die HTS und die SNA waren so erfolgreich, weil die wichtigsten Verbündeten des Regimes geschwächt waren. Russland, Assads wichtigster internationaler Unterstützer, hat seine Kräfte und Ressourcen in seinen imperialistischen Krieg gegen die Ukraine umgeleitet. Infolgedessen war sein Engagement in Syrien wesentlich geringer als bei ähnlichen Militäroperationen in den vergangenen Jahren.
Aufgrund all seiner strukturellen Schwächen, der mangelnden Unterstützung durch die von ihm beherrschte Bevölkerung, der Unzuverlässigkeit seiner eigenen Truppen und ohne internationale und regionale Unterstützung hat sich das Assad-Regime als unfähig erwiesen, dem Vormarsch der Rebellen standzuhalten. Seine Herrschaft ist wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Da ihre wichtigsten Unterstützer beschäftigt und geschwächt waren, befand sich die Diktatur von Assad in einer verwundbaren Position.
Seine beiden anderen wichtigen Verbündeten, die libanesische Hisbollah und der Iran, wurden von Israel seit dem 7. Oktober 2023 dramatisch geschwächt. Tel Aviv hat die Führung der Hisbollah, darunter Hassan Nasrallah, ermordet, ihre Kader mit Pager-Angriffen dezimiert und ihre Streitkräfte im Libanon bombardiert. Die Hisbollah steht definitiv vor ihrer größten Herausforderung seit ihrer Gründung. Israel hat auch eine Reihe von Angriffen auf den Iran durchgeführt und dessen Schwachstellen offengelegt. In den letzten Monaten hat es auch die Bombardierung von iranischen und Hisbollah-Stellungen in Syrien verstärkt.
Wie hatten die Verbündeten des Regimes anfangs reagiert? Was sind ihre Interessen in Syrien? |
Sowohl Russland als auch der Iran haben zunächst zugesagt, das Regime zu unterstützen, und auch gedrängt, die HTS und die SNA zu bekämpfen. In den ersten Tagen der Offensive rief Russland das syrische Regime auf, sich zusammenzureißen und „Ordnung in Aleppo zu schaffen“, was darauf hinzudeuten scheint, dass es auf eine Gegenoffensive von Damaskus hoffte.
Der Iran strebte angesichts dieser Offensive nach einer „Koordination“ mit Moskau. Er erklärte, die USA und Israel stünden hinter der Offensive der Rebellen, mit der das syrische Regimes destabilisiert werden solle, um damit die Aufmerksamkeit von Israels Krieg in Palästina und im Libanon abzulenken. Iranische Politiker erklärten ihre volle Unterstützung für das syrische Regime und bekräftigten ihre Absicht, die Präsenz ihrer „Militärberater“ in Syrien beizubehalten und sogar zu verstärken, um die syrische Armee zu unterstützen. Außerdem versprach Teheran, dem syrischen Regime Raketen und Drohnen zu liefern und sogar eigene Truppen zu entsenden.
Dies hat jedoch ganz klar nicht funktioniert. Trotz der russischen Bombardierung von Gebieten außerhalb der Kontrolle des Regimes war der Vormarsch der Rebellen nicht zu bremsen.
Beide Mächte haben in Syrien viel zu verlieren. Für den Iran ist Syrien entscheidend für den Waffentransport an die Hisbollah und die logistische Koordination mit ihr. Vor dem Sturz des Regimes wurde sogar gemunkelt, dass die libanesische Partei eine kleine Anzahl von „Aufsichtskräften“ nach Homs entsandt hat, um die Armee des Regimes zu unterstützen, und 2000 Soldaten in die Stadt Qusayr, einer ihrer Hochburgen in Syrien nahe der Grenze zum Libanon, um sie im Falle eines Angriffs seitens der Rebellen zu verteidigen. Als das Regime fiel, zog Hisbollah seine Truppen zurück.
Der russische Luftwaffenstützpunkt Hmeimim in der syrischen Provinz Latakia und die Marinebasis in Tartus an der Küste sind für Russland wichtige Standorte, um sein geopolitisches Gewicht im Nahen Osten, im Mittelmeerraum und in Afrika zu behaupten. Der Verlust dieser Stützpunkte würde Russlands Status untergraben, da seine Intervention in Syrien demonstrierte, wie Russland militärische Gewalt einsetzen kann, um Ereignisse außerhalb seiner Grenzen zu beeinflussen und mit westlichen Staaten zu konkurrieren.
Welche Rolle spielen hier die anderen imperialistischen Mächte, vor allem die Türkei, Israel und die USA? Was wollen sie? |
Trotz der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien wurde Ankara zunehmend frustriert. Deshalb hat es die Militäroffensive gefördert oder zumindest grünes Licht dafür gegeben und sie auf die eine oder andere Weise unterstützt. Ankaras Ziel war es zunächst, seine Position bei künftigen Verhandlungen mit dem syrischen Regime, aber auch mit Iran und Russland zu verbessern.
Jetzt, nach dem Sturz des Regimes, ist der Einfluss der Türkei in Syrien noch größer geworden, was sie wohl zum wichtigsten regionalen Akteur in diesem Land macht. Dabei versucht Ankara auch, die SNA zu nutzen, um die SDF zu schwächen, die vom bewaffneten Flügel der kurdischen Partei PYD dominiert wird, einer Schwesterorganisation der türkischen Kurdenpartei PKK, die von Ankara, den USA und der EU als terroristisch eingestuft wird.
Die Türkei verfolgt zwei weitere Hauptziele. Erstens will sie die zwangsweise Rückführung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei nach Syrien durchsetzen. Zweitens will sie die kurdischen Autonomiebestrebungen untergaben und insbesondere die kurdisch geführte Verwaltung im Nordosten Syriens, die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES, auch Rojava genannt), bekämpfen, die einen Präzedenzfall für die kurdische Selbstbestimmung in der Türkei schaffen würde, was eine Bedrohung für das Regime in seiner derzeitigen Form darstellen würde.
Weder die USA noch Israel hatten bei diesen Ereignissen ihre Hand im Spiel. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Die USA waren besorgt, dass der Sturz des Regimes zu mehr Instabilität in der Region führen könnte. US-Beamte erklärten zunächst, dass „die anhaltende Weigerung des Assad-Regimes, sich auf den in der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats dargelegten politischen Prozess einzulassen, und seine Abhängigkeit von Russland und dem Iran die Bedingungen geschaffen haben, die sich jetzt entfalten, einschließlich des Zusammenbruchs der militärischen Positionen des Assad-Regimes im Nordwesten Syriens.“ [4]
Sie erklärten außerdem, dass sie [die USA] „nichts mit dieser Offensive zu tun hat, die von Haiʼat Tahrir asch-Scham (HTS), einer als terroristisch eingestuften Organisation, geführt wird“. Nach einem Besuch in der Türkei rief Außenminister Antony Blinken zur Deeskalation in Syrien auf. Nach dem Sturz des Regimes erklärten US-Beamte, dass sie ihre Präsenz in Ostsyrien mit etwa 900 Soldaten beibehalten und die notwendigen Maßnahmen ergreifen werden, um ein Wiederaufleben des Islamischen Staates zu verhindern.
Israelische Beamte erklärten ihrerseits, dass der „Zusammenbruch des Assad-Regimes wahrscheinlich zu einem Chaos führen würde, in dem sich militärische Bedrohungen gegen Israel entwickeln würden“. [5] Außerdem ist Israel seit der Massenerhebung im Jahr 2011 nie für den Sturz des syrischen Regimes eingetreten. Im Juli 2018 hatte Netanjahu nichts dagegen, dass Assad die Kontrolle über das Land zurückerlangt und seine Macht stabilisiert.
Netanjahu hatte erklärt, Israel werde nur gegen wahrnehmbare Bedrohungen (bestimmte Kräfte sowie den Einfluss des Irans und der Hisbollah) vorgehen und erklärte: „Wir haben kein Problem mit dem Assad-Regime, 40 Jahre lang wurde keine einzige Kugel auf den Golanhöhen abgefeuert.“ [6] Wenige Stunden nach der Verkündung des Sturzes des Regimes übernahm die israelische Besatzungsarmee die Kontrolle über die syrische Seite des Bergs Hermon auf den Golanhöhen, um zu verhindern, dass die Rebellen das Gebiet am Sonntag einnehmen. Zuvor hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu der israelischen Besatzungsarmee befohlen, die Kontrolle über die Pufferzone auf dem Golan und „angrenzende strategische Positionen“ zu übernehmen.
Viele Campisten haben sich wieder mal auf die Seite von Assad gestellt, dieses Mal mit der Begründung, eine Niederlage von Assad sei ein Rückschlag für den palästinensischen Befreiungskampf. Was hältst du von diesem Argument? Was wird das für Palästina bedeuten? |
Ja, die Campisten haben argumentiert, dass diese Militäroffensive von „Al-Qaida und anderen Terroristen“ angeführt wird und dass es sich um ein westlich-imperialistisches Komplott gegen das syrische Regime handelt, das darauf abzielt, die sogenannte „Achse des Widerstands“ unter Führung des Irans und der Hisbollah zu schwächen. Da diese Achse behauptet, die Palästinenser zu unterstützen, behaupten die Aktivisten, dass der Sturz von Assad sie schwächt und somit den Kampf für die Befreiung Palästinas untergräbt.
Das Hauptproblem bei der Argumentation der Befürworter der so genannten „Achse des Widerstands“ ist – neben dem Ignorieren jeglicher Handlungsfähigkeit lokaler syrischer Akteure – die Annahme, dass die Befreiung Palästinas von oben kommen wird, von diesen Staaten oder anderen Kräften, ungeachtet ihres reaktionären und autoritären Charakters und ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Diese Strategie ist in der Vergangenheit gescheitert und wird auch heute scheitern. Anstatt den Kampf für die Befreiung Palästinas voranzutreiben, haben die autoritären und despotischen Staaten des Nahen Ostens, ob sie nun mit dem Westen verbündet sind oder gegen ihn opponieren, die Palästinenser wiederholt verraten und sogar unterdrückt.
Die Campisten ignorieren die Tatsache, dass für Syrien und den Iran das Hauptinteresse nicht in der Befreiung Palästinas liegt, sondern in der Wahrung ihrer eigenen politischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen. Diese sind ihnen jederzeit wichtiger als die Interessen Palästinas. Und gerade Syrien – Netanyahu hat dies zur Genüge deutlich gemacht – hat seit Jahrzehnten keinen Finger gegen Israel gerührt.
Der Iran seinerseits hat die palästinensische Sache rhetorisch unterstützt und die Hamas finanziert. Seit dem 7. Oktober 2023 besteht sein Hauptziel jedoch darin, sein Ansehen in der Region zu verbessern, um sich für künftige politische und wirtschaftliche Verhandlungen mit den USA in die beste Position zu bringen. Der Iran möchte seine politischen und sicherheitspolitischen Interessen gewährleisten und ist daher bestrebt, einen direkten Krieg mit Israel zu vermeiden.
Sein wichtigstes geopolitisches Ziel in Bezug auf die Palästinenser besteht nicht in deren Befreiung, sondern darin, sie als Druckmittel einzusetzen, insbesondere in seinen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Auch die passive Reaktion des Irans auf die Ermordung Nasrallahs durch Israel, die Dezimierung der Hisbollah-Kader und den brutalen Krieg gegen den Libanon zeigen, dass das Land in erster Linie sich selbst und seine Interessen schützen will. Der Iran war nicht bereit, diese zu opfern und seine wichtigsten nichtstaatlichen Verbündeten zu verteidigen.
In ähnlicher Weise hat sich der Iran als ein im besten Fall wankelmütiger Verbündeter der Hamas erwiesen. Er hat seine Finanzierung der Hamas reduziert, als sich ihre Interessen nicht mehr voll deckten. Nach der syrischen Revolution 2011, als sich die palästinensische Bewegung weigerte, die mörderische Unterdrückung der syrischen Demonstrant:innen durch das syrische Regime zu unterstützen, beendete der Iran seine finanzielle Unterstützung der Hamas.
Im Falle des syrischen Regimes ist das Argument gegen seine angebliche Unterstützung für Palästina unwiderlegbar. Es hat Palästina während des letzten Jahres des völkermörderischen Krieges Israels nicht verteidigt. Trotz des israelischen Bombardements auf Syrien vor und nach dem 7. Oktober hat das Regime nicht darauf reagiert. Dies entspricht der seit 1974 verfolgten Politik des Regimes, jede größere und direkte Konfrontation mit Israel zu vermeiden.
Darüber hinaus hat das Regime wiederholt Palästinenser:innen in Syrien unterdrückt, einschließlich der Ermordung von mehreren Tausend von ihnen seit 2011, als es das Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus verwüstete. Sie haben auch die palästinensische Nationalbewegung angegriffen. So intervenierte Hafez al-Assad, Vater des Erben und gerade abgesetzten Diktators Baschar al-Assad, 1976 im Libanon und unterstützte rechtsextreme libanesische Parteien gegen linke palästinensische und libanesische Organisationen.
In den Jahren 1985 und 1986 führte sie auch Militäroperationen gegen palästinensische Flüchtlingslager in Beirut durch. 1990 befanden sich etwa 2500 palästinensische politische Gefangene in syrischen Gefängnissen.
Angesichts dieser Geschichte ist es ein Fehler, wenn die Palästina-Solidaritätsbewegung imperialistische oder subimperialistische Staaten verteidigt und sich mit ihnen verbündet, Staaten also, die ihre Interessen über die Solidarität mit Palästina stellen, um geopolitische Vorteile konkurrieren und die Arbeiter und Ressourcen ihrer Länder ausbeuten. Natürlich bleibt der US-Imperialismus mit seiner außergewöhnlichen Geschichte von Krieg, Plünderung und politischer Vorherrschaft der Hauptfeind der Region.
Aber es macht keinen Sinn, regionale reaktionäre Regimes und andere imperialistische Staaten wie Russland und China als Verbündete Palästinas oder der Solidaritätsbewegung anzusehen. Es gibt überhaupt keine Berechtigung für eine solche Sichtweise. Die Wahl des einen Imperialismus oder des anderen bedeutet nichts anderes, als die Stabilität des kapitalistischen Systems und die Ausbeutung der einfachen Bevölkerung abzusichern. Außerdem: Autoritäre und despotische Regimes mit der Zielsetzung der Befreiung Palästinas zu unterstützen, ist nicht nur moralisch falsch, es hat sich auch als gescheiterte Strategie erwiesen.
Die Palästinasolidaritätsbewegung darf die Befreiung Palästinas nicht mit der Politik der Staaten in der Region verknüpfen, sondern muss sie mit der Befreiung der breiten Massen in diesen Ländern verbinden. Diese identifizieren sich mit Palästina und sehen ihren eigenen Kampf für Demokratie und Gleichberechtigung unmittelbar mit dem Befreiungskampf der Palästinenser:innen verbunden. Wenn die Palästinenser:innen kämpfen, dann regt dies in aller Regel den Befreiungskampf in der Region an. Und umgekehrt ist der Kampf in der Region eine Ermutigung für den Kampf im besetzten Palästina.
Diese Kämpfe sind dialektisch miteinander verbunden; es sind Kämpfe für kollektive Befreiung. Der rechtsextreme israelische Minister Avigdor Lieberman hat die Gefahr erkannt, die sich mit den Volksaufständen von 2011 für Israel entwickelte, als er nämlich erklärte, dass die ägyptische Revolution, die Hosni Mubarak zu Fall brachte und die Tür für eine demokratische Entwicklung in dem Land öffnete, für Israel eine größere Gefahr darstellt als der Iran.
Die palästinensische Solidaritätsbewegung muss sehen, dass die Befreiung Palästinas nicht mit den Staaten der Region, sondern mit der Befreiung der breiten Bevölkerung verknüpft ist.
Dies bedeutet nicht, das Recht auf Widerstand der Palästinenser:innen und Libanes:innen gegen die brutalen Kriege Israels abzustreiten, sondern zu verstehen, dass nur der vereinte Aufstand der palästinensischen und regionalen einfachen Bevölkerung in der Lage ist, den Nahen Osten und Nordafrika zu verändern, autoritäre Regime zu stürzen und die USA und andere imperialistische Mächte zu vertreiben. Die internationale antiimperialistische Solidarität mit Palästina und den Volksmassen der Region ist unerlässlich, denn sie sind nicht nur mit Israel und den reaktionären Regimen der MENA-Länder [Nahost und Nordafrika] konfrontiert, sondern auch mit den dahinterstehenden imperialistischen Mächten.
Die Hauptaufgabe der Palästina-Solidaritätsbewegung, insbesondere im Westen, besteht darin, die Komplizenschaft unserer herrschenden Klassen anzuprangern, die nicht nur den rassistischen, siedler-kolonialen Apartheidstaat Israel und seinen völkermörderischen Krieg gegen die Palästinenser unterstützen, sondern auch Israels Angriffe auf andere Länder in der Region wie den Libanon. Die Bewegung muss Druck auf diese herrschenden Klassen ausüben, um alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu Tel Aviv abzubrechen.
Auf diese Weise kann die Solidaritätsbewegung die internationale und regionale Unterstützung für Israel anprangern und schwächen und den Palästinenser:innen helfen, sich zusammen mit den Volksmassen in der Region zu befreien.
Wird der Vormarsch der Rebellen in Syrien fortschrittlichen Kräften Raum geben, um den revolutionären Kampf wieder aufzunehmen und eine Alternative sowohl zum Regime als auch zum islamischen Fundamentalismus herauszubilden? |
Dazu gibt es keine eindeutigen Antworten, nur mehr Fragen. Werden der Kampf von unten und die Selbstorganisation in den Gebieten möglich sein, in denen das Regime vertrieben wurde? Werden zivilgesellschaftliche Organisationen (nicht im engeren Sinne als NGOs definiert, sondern im gramscianischen Sinne von Formationen aus der Bevölkerung, außerhalb des Staates) und alternative politische Strukturen mit demokratischer und progressiver Politik in der Lage sein, sich zu etablieren, zu organisieren und eine politische und soziale Alternative zu HTS und SNA zu bilden? Wird die Ausdehnung der HTS- und SNA-Kräfte ausreichend Raum für die Organisierung auf lokaler Ebene lassen?
Dies sind meiner Meinung nach die Schlüsselfragen, auf die es keine klaren Antworten gibt. Die Politik von HTS und SNA in der Vergangenheit haben keineswegs die Entwicklung eines demokratischen Raums gefördert, ganz im Gegenteil. Sie haben autoritär gehandelt. Solchen Kräften sollte kein Vertrauen geschenkt werden. Nur die Selbstorganisation der breiten Massen, die für demokratische und fortschrittliche Forderungen kämpfen, wird diesen Raum schaffen und einen Weg zur tatsächlichen Befreiung eröffnen. Dazu müssen viele Hindernisse überwunden werden, von der Kriegsmüdigkeit bis zur Repression, von der Armut bis zur sozialen Verwerfung.
Das Haupthindernis waren, sind und werden die autoritären Akteure sein, früher das Regime und heute viele der oppositionellen Kräfte, insbesondere die HTS und die SNA; ihre Herrschaft und die militärischen Auseinandersetzungen zwischen ihnen haben den Raum für demokratische und fortschrittliche Kräfte erstickt, soweit sie ihre Zukunft demokratisch bestimmen wollen. Selbst in den befreiten Gebieten haben wir noch keine Kampagnen des demokratischen und progressiven Widerstands gesehen. Und dort, wo die SNA kurdische Gebiete erobert hat, hat sie die Rechte der Kurd:innen verletzt, sie mit Gewalt unterdrückt und eine große Zahl von ihnen gewaltsam vertrieben.
Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass ein unabhängiger demokratischer und fortschrittlicher Block, der in der Lage ist, sich zu organisieren und dem syrischen Regime und den islamisch-fundamentalistischen Kräften klar entgegenzutreten, schmerzlich fehlt. Der Aufbau eines solchen Blocks wird Zeit erfordern. Er wird die Kämpfe gegen Autokratie, Ausbeutung und alle Formen der Unterdrückung verbinden müssen. Er wird Forderungen nach Demokratie, Gleichheit, kurdischer Selbstbestimmung und Frauenbefreiung aufstellen müssen, um die gegenseitige Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten des Landes zu stärken.
Um solche Forderungen durchzusetzen, muss dieser fortschrittliche Block Volksorganisationen – von Gewerkschaften bis zu feministischen Organisationen – neu aufbauen und sie in nationalen Strukturen vernetzen. Dies erfordert die Zusammenarbeit zwischen demokratischen und fortschrittlichen Akteuren in der gesamten Gesellschaft.
Es gibt aber auch Hoffnung: Am Anfang lag die Hauptdynamik auf der militärischen Ebene, angeführt von HTS und SNA. In den letzten Tagen sehen wir vermehrt im ganzen Land große und kleine Demonstrationen. Hier folgen die Menschen keinem Befehl von HTS, SNA oder anderen bewaffneten Oppositionsgruppen. Es gibt jetzt einen Raum, in dem die Syrer versuchen können, den zivilen Volkswiderstand von unten und alternative Machtstrukturen aufzubauen, auch wenn dies, wie oben erwähnt, mit Widersprüchen und Hindernissen verbunden ist.
Darüber hinaus wird eine der wichtigsten Aufgaben darin bestehen, die zentrale ethnische Spaltung des Landes, nämlich die zwischen Arabern und Kurden, zu überwinden. Die fortschrittlichen Kräfte müssen einen klaren Kampf gegen den arabischen Chauvinismus führen, um diese Spaltung zu überwinden und Solidarität zwischen diesen Bevölkerungsgruppen aufzubauen. Dies ist seit Beginn der syrischen Revolution im Jahr 2011 eine Herausforderung und muss auf fortschrittliche Weise angegangen und gelöst werden, damit die Menschen im Land wirklich befreit werden können.
Es ist unbedingt erforderlich, zu den ursprünglichen Bestrebungen der syrischen Revolution nach Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit zurückzukehren – und zwar auf eine Weise, die die kurdische Selbstbestimmung bewahrt. Die kurdische PYD kann zwar für ihre Fehler und ihre Herrschaftsform kritisiert werden, sie ist jedoch nicht das Haupthindernis für eine solche Solidarität zwischen Kurden und Arabern. Das sind vielmehr die kriegerischen und chauvinistischen Positionen und die Politik der arabischen Oppositionskräfte in Syrien, angefangen bei der arabisch dominierten Syrischen Nationalen Koalition, gefolgt von der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte (den wichtigsten Oppositionsgremien im Exil, die vom Westen und den Ländern der Region unterstützt wurden und die versuchten, die syrische Revolution in ihren Anfangsjahren anzuführen) bis zu den beiden wichtigsten militärischen Kräfte heute, der HTS und der SNA.
In diesem Zusammenhang müssen fortschrittliche Kräfte die Zusammenarbeit zwischen syrischen Arabern und Kurden, einschließlich der AANES [Autonomous Administration of North and East Syria], fortsetzen. Das AANES-Projekt und seine politischen Institutionen repräsentieren große Teile der kurdischen Bevölkerung und haben sie gegen verschiedene lokale und externe Bedrohungen geschützt.
Doch auch sie hat Unzulänglichkeiten und darf nicht unkritisch unterstützt werden. Die PYD und AANES sind mit Repression gegen politische Aktivist:innen und Gruppen vorgegangen, die ihre Macht infrage stellen. Und sie hat auch die Menschenrechte der Zivilbevölkerung verletzt. Dennoch hat sie einige wichtige Errungenschaften vorzuweisen, insbesondere die stärkere Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen der Gesellschaft, die Kodifizierung säkularer Gesetze und die stärkere Einbeziehung religiöser und ethnischer Minderheiten. In sozioökonomischen Fragen hat sie jedoch nicht mit dem Kapitalismus gebrochen und ist nicht angemessen auf die Sorgen und Nöte der einfachen Bevölkerung eingegangen.
Was auch immer fortschrittliche Menschen an der PYD und der AANES zu kritisieren haben, wir müssen den arabisch-chauvinistische Beschreibungen der PYD als „der Teufel“ und als ein „separatistisches“ ethno-nationalistisches Projekt entgegentreten. Aber wenn wir solche Heuchelei zurückweisen, dürfen wir die AANES nicht verklären, wie es einige Anarchisten und Linke im Westen getan haben, die sie fälschlicherweise als eine neue Form demokratischer Macht von unten dargestellt haben.
Es hat bereits eine gewisse Zusammenarbeit zwischen syrisch-arabischen Demokrat:innen und fortschrittlichen Kräften und der AANES und den mit ihr verbundenen Institutionen gegeben. Darauf muss aufgebaut werden. Doch wie bei jeder Art von Zusammenarbeit sollte dies nicht unkritisch geschehen.
Auch wenn es unerlässlich ist, alle daran zu erinnern, dass das Regime von Baschar al-Assad und seine Verbündeten die Hauptverantwortung für den Massenmord an Hunderttausenden von Zivilisten, für die massenhaften Zerstörungen und für die zunehmende Verarmung und die derzeitige Lage in Syrien tragen, so geht das Ziel der syrischen Revolution über das hinaus, was HTS-Führer al-Dschoulani in seinem Interview mit CNN sagte. Es geht nicht nur darum, dieses Regime zu stürzen, sondern eine Gesellschaft aufzubauen, die sich durch Demokratie, Gleichheit und uneingeschränkte Rechte für die unterdrückten Gruppen auszeichnet. Andernfalls werden wir nur ein Übel durch ein anderes ersetzen.
Welche Auswirkungen wird der Sturz des Regimes auf die Region und die imperialistischen Mächte haben? Welche Position sollte die internationale Linke in dieser Situation vertreten? |
Nach dem Sturz des Regimes erklärte HTS-Führer al-Dschoulani, dass die staatlichen Institutionen Syriens vom ehemaligen Ministerpräsidenten Mohammed al-Dschalali geführt werden, bis sie nach den Wahlen an eine neue Regierung mit vollen Exekutivbefugnissen übergeben werden, was auf Bemühungen um einen geordneten Übergang hindeutet. Der syrische Telekommunikationsminister Eyad al-Khatib erklärte sich bereit, mit den Vertretern der HTS zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass die Telekommunikation und das Internet weiterhin funktionieren.
Dies sind klare Anzeichen dafür, dass die HTS einen kontrollierten Machtwechsel anstrebt, um ausländische Ängste zu beschwichtigen, Kontakte zu regionalen und internationalen Mächten zu knüpfen und die Anerkennung als legitime Kraft zu erlangen, mit der man verhandeln kann. Ein Hindernis für eine solche Normalisierung ist die Tatsache, dass die HTS immer noch als terroristische Organisation gilt und Syrien mit Sanktionen belegt ist.
Trotzdem ist mit einer Phase der Instabilität in dem Land zu rechnen. In Damaskus war am Tag nach dem Sturz des Regimes ein gewisses Chaos auf den Straßen zu beobachten, so wurde beispielsweise die Zentralbank geplündert.
Welche Auswirkungen der Sturz des Regimes auf die regionalen und imperialistischen Mächte haben wird, ist noch nicht abzuschätzen. Die USA und der Westen wollen jetzt vor allem eine Schadensbegrenzung, um auf diese Weise eine Ausbreitung des Chaos in der Region zu verhindern. Den Staaten der Region passt die derzeitige Situation überhaupt nicht, denn sie hatten in den letzten Jahren einen Normalisierungsprozess mit dem Regime eingeleitet. Für die Türkei besteht das Hauptziel darin, ihre Macht und ihren Einfluss in Syrien zu festigen und die kurdisch geführte AANES im Nordosten loszuwerden. Der türkische Außenminister sagte am Sonntag, der türkische Staat stehe in Kontakt mit den Rebellen in Syrien, um sicherzustellen, dass der Islamische Staat und insbesondere die PKK den Sturz des Regimes in Damaskus nicht ausnutzen, um ihren Einfluss auszudehnen.
Die verschiedenen Mächte haben jedoch ein gemeinsames Ziel: die Durchsetzung einer Form von autoritärer Stabilität in Syrien und der Region. Das bedeutet natürlich nicht, dass sich die regionalen und imperialistischen Mächte einig sind. Sie haben alle ihre eigenen, auf vielen Feldern gegensätzlichen Interessen, aber sie wollen keine Destabilisierung des Nahen Ostens und Nordafrikas, insbesondere keine Instabilität, die die Ölzufuhr für den globalen Kapitalismus unterbrechen würde.
Die internationale Linke darf sich nicht auf die Seite der Überreste des Regimes oder der lokalen, regionalen und internationalen Kräfte der Konterrevolution schlagen. Als politischer Kompass der Revolutionäre sollte vielmehr das Prinzip der Solidarität mit den Volks- und Fortschrittskämpfen von unten dienen. Es sollten also Gruppen und Einzelpersonen unterstützt werden, die sich für ein fortschrittliches und auf Gleichberechtigung ausgerichtetes Syrien organisieren und kämpfen und Solidarität zwischen ihnen und den Volksmassen der Region aufbauen.
Die Linke muss sich vor den Fallen der Romantisierung und des Defätismus hüten. Wir müssen vielmehr eine Strategie der kritischen, fortschrittlichen, internationalen Solidarität unter den breiten Massen der Region und in der ganzen Welt verfolgen. Für die Linken sind dies die entscheidenden Aufgaben und hier liegt ihre Verantwortung.
Joseph Daher ist ein syrischer Politikwissenschaftler, der heute in der Schweiz lebt. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz