Anmerkungen zur Strategie und Organisierung antikapitalistischer Kräfte anlässlich des Buchs Kapitalismus am Limit von Ulrich Brand und Markus Wissen [1]
Jakob Schäfer
Sicher, zur Frage der drohenden und teilweise schon eingesetzten Katastrophe, in die der Kapitalismus die Menschheit treibt, gibt es eine kaum noch zu überschauende Palette von Büchern, die sich in weiten Teilen überschneiden. Aus dieser Reihe sticht das neue Buch von Brand / Wissen hervor, auch weil es im Vergleich zum Vorgängerbuch („Imperiale Lebensweise“) die Machtinteressen der Herrschenden gut herausarbeitet und deutlicher macht, dass die imperiale Lebensweise nicht mit individuellen Verhaltensänderungen überwunden werden kann.
Die Autoren geben einen guten Überblick über eine Reihe zentraler Krisenmomente des kapitalistischen Systems, über die Unmöglichkeit eines grünen Kapitalismus und die zunehmenden öko-imperialen Spannungen. Der „grüne Kapitalismus“ ist zur Lösung der Menschheitsprobleme (nicht nur des Klimawandels) nicht in der Lage, weil er ausschließlich auf einer Externalisierung der Probleme in den Globalen Süden basiert und dort die prekäre Lag nur noch verschlimmert.
„Die dritte Art imperialer Spannungen liegt darin begründet, dass aufgrund der Ausbreitung der imperialen Lebensweise in immer mehr gesellschaftliche Bereiche und Weltregionen die etablierten Möglichkeiten der Externalisierung abnehmen. […] Die Herausbildung der Mittelklassen in den Schwellenländern führt zu einer Expansion der imperialen Lebensweise und zu einer Verschärfung der ökologischen Krise, aber eben auch zu einer Abnahme der »klassischen« Möglichkeiten der Externalisierung durch den globalen Norden.“ (S. 161)
Auch stellt das Buch klar, dass wir zur Abwehr der drohenden Gefahren ein übergreifendes Narrativ brauchen und monothematische Bewegungen nicht ausreichen. Doch bei der Skizzierung der Strategie zur Abwehr der drohenden und teilweise schon eingesetzten Katastrophe ist das Buch nicht radikal genug.
Auf Seite 237 wird Wesentliches zum „strukturellen Konservatismus“ (Häußermann 1977) der Staatsbürokratie ausgeführt und es wird betont, dass es um die „Struktur des Staates“ selbst geht. Und dann heißt es im Text:
„Seine Handlungslogiken und seine enge Verbindung mit kapitalistischen Interessen müssen verändert werden. Das gelingt aber nur, wenn Wirtschaft und Gesellschaft selbst umgestaltet werden.“
So weit, so gut. Spannend wird diese Frage allerdings, wenn es darum geht, wie denn diese grundlegende Veränderung realisiert werden kann. Die Autoren gehen von einer Verbindung von Arbeit in den Institutionen und außerhalb (also in den Bewegungen) aus. Das entwickeln die Autoren an der Frage der Vergesellschaftungsdiskussion. Sie machen deutlich, dass die „… Grenzen der kapitalistischen Krisenbearbeitung erreicht sind, dass eine andere Gesellschaft für die Vielen zu einer Frage des Überlebens geworden ist. Und schließlich zeigt sie (die Vergesellschaftungsdiskussion) auf, was denkbar und möglich wäre, wie also konkrete Reformen, deren Notwendigkeit und Machbarkeit für die Vielen unmittelbar einsichtig sind, für die sich also prinzipielle Mehrheiten organisieren ließen, zu gestalten wären, damit sie den Weg in eine grundlegende Veränderung der Produktions- und Lebensweise ebnen.“ (216 f.)
Aus den Ausführungen spricht die Vorstellung, dass man schubweise (um nicht zu sagen stückchenweise) die eine oder andere Handlungslogik und enge Verbindung zwischen Staat und Wirtschaft auflösen bzw. grundlegend verändern kann.
Zur Vorgehensweise, wie man den „Weg in eine grundlegende Veränderung der Produktions- und Lebensweise ebnen“ kann, schreiben Brand / Wissen Folgendes:
„Emanzipatorische Akteure, denen es um weitreichende Transformationen geht, sollten sich des Spannungsverhältnisses bewusst werden, in dem sie sich notwendigerweise bewegen, nämlich Politik in den und gleichzeitig gegen die Institutionen des kapitalistischen Staates zu machen. In diesem Widerspruch kann sich emanzipatorische Politik erfolgreich bewegen, wenn sie sich auch als institutioneller Resonanzboden sozialer Bewegungen begreift. Statt nur Wähler*innen oder Mitglieder repräsentieren zu wollen, müssen Regierungen und Parteien, Gewerkschaften und Verbände, denen es um grundlegende Veränderungen geht, zur Ermächtigung von Bewegungen beitragen, aus der sie umgekehrt ihrerseits Kraft ziehen. Nur so lassen sich Dynamiken in Gang setzen, die über die strukturellen Grenzen des kapitalistischen Staates hinausweisen und schließlich in der Absicherung von weitreichenden sozial-ökologischen Errungenschaften münden.“ (S. 208)
So ist es leider nicht verwunderlich, dass die Autoren bei der Benennung der Akteure die Klassenfrage nicht ins Zentrum stellen. Zwar benennen sie den „Klassenwiderspruch als strukturierendes Moment kapitalistischer sozialer Verhältnisse“ (S. 179), aber bei der Benennung der erforderlichen Strategie verschwimmt dieser Klassenwiderspruch. Es kommt dann nur noch zur unterschiedslosen Aufzählung verschiedener (möglicher) Akteure, deren unterschiedliche (teilweise auch gegensätzlichen) Interessen gar nicht mehr benannt werden.
![]() FridaysForFuture-Demonstration in Berlin, 20.09.2019, Foto: Leonhard Lenz |
Die implizit transportierte Vorstellung einer stückweisen Veränderung der „grundlegenden Strukturen“ ignoriert sowohl den Systemcharakter des Herrschaftsapparats (materieller und ideologischer Art, beides basierend auf ganz bestimmten Produktionsverhältnissen), als auch die Lehren der Geschichte. Die herrschende Klasse hat genug Erfahrung, um rechtzeitig möglichen qualitativen Strukturveränderungen einen Riegel vorzuschieben. Wenn es für die herrschende Klasse nämlich um die Sicherung der für sie entscheidenden Stellschrauben geht, wird sie ihre eigenen Spielregeln ändern und auf eine autoritärere Gangart umschalten.
Eine Systemänderung wird ohne die Lösung der Machtfrage – welche Klasse setzt sich durch – nicht zu bewerkstelligen sein. Zur Notwendigkeit des Systembruchs finden wir bei Brand / Wissen keine Angabe. Nach unserer Auffassung kann er nur durchgesetzt und vollendet werden, wenn die Produktionsverhältnisse umgestoßen werden, wenn also nicht weiterhin die Warenwirtschaft (und damit das Profitprinzip), sondern die Gebrauchsgüterproduktion das Maß aller Dinge ist. Angesichts der Tatsache, dass die Probleme der Menschheit heute noch umfangreicher und drängender gewordenen sind, als sie vor einhundertachtzig Jahren waren, gilt mehr denn je, was Marx und Engels in „Die deutsche Ideologie“ schrieben:
„Schließlich erhalten wir noch folgende Resultate aus der entwickelten Geschichtsauffassung: […] daß sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Hals zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“ [2]
So gut das Buch über weite Strecken die heutige Problemlage umreißt, so hat es doch zwei wesentliche Schwächen. Die umrissene Strategie lehnt nicht klar und eindeutig den „Gang durch die Institutionen“ ab, der regelmäßig zur ideologischen Anpassung und Integration der Akteure in das System führt. Nicht nur übergeht das Konzept der radikalen Reformen faktisch den Systemcharakter der warenproduzierenden Gesellschaft. Es ignoriert auch die systemische Verbindung des Staates mit den Interessen der herrschenden Klasse und den Machtverhältnissen, die die kapitalistische Produktionsweise absichern. [3]
Angesichts der Tatsache, dass die große Mehrheit der Bevölkerung gerade nicht auf einen Systemwechsel hinaus will, braucht es eine Strategie, die an den real stattfindenden Kämpfen und am vorherrschenden Bewusstsein anknüpft und ein Programm von Übergangsforderungen entwickelt, das in seiner Konsequenz die Systemfrage stellt, also im Laufe sich zuspitzender Kämpfe den Menschen (genauer: der Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung) vor Augen führt, dass die Produktionsverhältnisse geändert werden müssen, wenn man sich des ganzen „alten Drecks“ entledigen will. [4]
Ein solches Programm kann nicht am Schreibtisch entstehen, sondern nur durch die Beteiligung möglichst vieler fortschrittlicher Kräfte am realen Klassenkampf (und sei dieser noch so gering entwickelt) und an der organisierten Aufarbeitung seiner Lehren. Das bringt uns zur Frage, wer denn diese Aufarbeitung vornehmen muss und kann, letztlich also zur Frage des revolutionären Subjekts und seiner Organisierung.
Hier liegt der zweite Mangel des Buches: Es fehlt eine genauere Bestimmung des subjektiven Faktors und seiner Organisierung. Eine Systemänderung wird nur möglich sein, wenn eine Gegenmacht aufgebaut wird. Anders ausgedrückt: Eine antikapitalistische Strategie ist nur dann realistisch und zielführend, wenn sie sich auf eine klassenbasierte Kraft stützt, die bestrebt ist, gegen die Interessen der Herrschenden die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen.
Dass es sich bei der Organisierung und politischen Bewaffnung der Gegenmacht um keine technische Aufgabe handelt, hat keiner besser herausgearbeitet als Antonio Gramsci, der in zahlreichen Ausführungen die politischen Faktoren benennt, die für eine Umwälzung der Verhältnisse unabdingbar sind. Die unterdrückte Klasse muss die politisch-ethische Hegemonie erobern, bevor sie die politische Macht erobert.
„Zum kritischen Selbstverständnis kommt es daher über einen Kampf politischer »Hegemonien«, kontrastierender Richtungen, zuerst im Feld der Ethik, dann der Politik, um zu einer höheren Ausarbeitung der eigenen Auffassungen des Wirklichen zu gelangen. Das Bewußtsein, Teil einer bestimmten hegemonischen Kraft zu sein (das heißt das politische Bewußtsein), ist die erste Phase eines darüber hinausgehenden progressiven Selbstbewußtseins, in dem Theorie und Praxis schließlich eine Einheit bilden. Auch die Einheit von Theorie und Praxis ist mithin keine mechanische Gegebenheit, sondern ein geschichtliches Werden, dessen elementare und primitive Phase im Gespür für »Unterscheidung«, »Loslösung«, gerade erst instinktive Unabhängigkeit besteht, und das bis zum wirklichen und vollständigen Besitz einer kohärenten und einheitlichen Weltauffassung fortschreitet.“ [5]
So klar Gramsci die Bedeutung von politischer und – was oft übersehen wird – der ethischen Hegemonie herausarbeitet, so interpretationsfähig (mindestens ergänzungsbedürftig) ist seine Beschreibung des Werdens der Klasse für sich, also der Entwicklung eines (revolutionären) Klassenbewusstseins und der Entwicklung eines revolutionären Programms. So schreibt er:
„Kritisches Selbstbewußtsein bedeutet geschichtlich und politisch Schaffung einer Elite von Intellektuellen: eine menschliche Masse »unterscheidet« sich nicht und wird nicht »per se« unabhängig, ohne sich (im weiten Sinn) zu organisieren, und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, das heißt ohne Organisation und Führer, das heißt ohne daß die theoretische Seite des Theorie-Praxis-Nexus sich konkret ausdifferenziert in einer Schicht von Personen, die auf die begriffliche und philosophische Ausarbeitung »spezialisiert« sind. Aber dieser Prozeß der Schaffung der Intellektuellen ist lang, schwierig, voll von Widersprüchen, von Vorstößen und Rückzügen, von Zersplitterungen und Neugruppierungen, in denen die »Treue« der Masse (und die Treue und Disziplin sind anfänglich die Form, welche die Unterstützung der Masse und ihre Mitarbeit bei der Entwicklung des gesamten kulturellen Phänomens annehmen) mitunter auf eine harte Probe gestellt wird. Der Entwicklungsprozeß ist an eine Dialektik Intellektuelle-Masse gebunden; die Intellektuellenschicht entwickelt sich quantitativ und qualitativ, aber jeder Sprung zu einer neuen »Ausdehnung« und Komplexität der Intellektuellenschicht ist an eine entsprechende Bewegung der Masse von Einfachen gebunden, die zu höheren Kulturniveaus aufsteigt und zugleich ihren Einflußbereich ausweitet, mit individuellen Vorstößen oder auch von solchen von mehr oder weniger wichtigen Gruppen in Richtung auf die Schicht der spezialisierten Intellektuellen.“ [6]
Gramsci betont zwar immer wieder das notwendige „praktische Element des Theorie-Praxis-Nexus“, aber es bleiben wichtige Leerstellen. Für ihn besteht der subjektive Faktor aus zwei wesentlichen Komponenten, nämlich der „Masse“ und den Intellektuellen (wiederholt auch als Elite bezeichnet). Die „Masse“ als solche ist aber keine ausreichend differenzierte Betrachtung des subjektiven Faktors Arbeiterklasse. Die Geschichte des Klassenkampfs der letzten einhundertfünfzig Jahre lehrt, dass die Klasse kein gleichmäßiges Gebilde ist. Sie besteht bewusstseinsmäßig mindestens aus zwei begrifflich zu unterscheidenden Bestandteilen: die breite „Masse“ (anders ausgedrückt: die Mehrheit der Kolleg:innen im Betrieb) und die faktische Vorhut. Letztere besteht aus Individuen und Gruppen von Kolleg:innen, die in den realen betrieblichen (gegebenenfalls auch überbetrieblichen) Auseinandersetzungen vorangehen, die entsprechenden Forderungen formulieren oder aufgreifen, sie in ihrem Umfeld popularisieren und die Kolleg:innen (mindestens einen Großteil derselben) mitziehen und aktivieren. Ohne Einbeziehung dieser Erfahrung realer Abläufe im Klassenkampf kann kein schlüssiges Konzept einer organischen Verbindung von Intellektuellen und Arbeitervorhut entwickelt werden. Deshalb ist Gramscis Konzept zu abstrakt und zu statisch.
![]() Geschlossene Brotfabrik Buffalo (NY / USA), Foto: Andre Carrotflower |
Der Aufbau einer Gegenmacht zur herrschenden Klasse und ihrer menschenfeindlichen und zerstörerischen Politik kann sich nicht auf Ratgeberfunktionen seitens einer „Elite“ beschränken und dann hoffen, dass die „Masse“ sich ausreichend entwickelt. Der Vollständigkeit halber wollen wir festhalten, dass Gramsci von einer sich ändernden Intellektuellenschicht ausgeht, wenn sie in Verbindung mit den Massen steht. Er bezieht dies auf die „Intellektuellen, die sich organisch mit einer popular-nationalen Masse verbunden fühlen.“ [7]
Doch insgesamt bleibt dies noch nebulös und nimmt nicht ausreichend und systematisch genug die Erfahrungen antikapitalistischer Klassenkämpfe auf. Eine wirklich organische Verbindung eines Teils des „general intellect“ [8] kann es nur in gemeinsamer Praxis geben, die sich nur in Form einer (beziehungsweise mehrerer) politischer antikapitalistischer Organisationen realisieren lässt, seien sie sozialistisch, seien sie anarchistisch orientiert.
Es versteht sich, dass es sich beim Aufbau einer organisierten Gegenmacht nicht um einen linearen Prozess ohne Aufs und Abs oder ohne größere Rückschläge handeln kann. Er ist abhängig von der Entwicklung des Klassenkampfs und dieser bewegt sich erfahrungsgemäß in Wellen. Ohne antikapitalistische politische Organisationen – und damit ohne ihre konzentrierte (geschulte) Fähigkeit der Verarbeitung von Teilsiegen und Niederlagen – verfügt die Klasse über kein Instrument, das Erfahrungen zu verarbeiten und ausreichende Schlüsse aus Niederlagen zu ziehen vermag. Wie komplex die Aufgabenstellung der Selbstermächtigung des subjektiven Faktors ist und welche Lehren aus der Geschichte zu ziehen sind, hat niemand besser herausgearbeitet als Ernest Mandel in seiner bedeutenden Schrift „Lenin und das Problem des proletarischen Klassenbewußtseins“. [9]
Hier soll bewusst darauf verzichtet werden, die Schrift Mandels in wenigen – zwangsläufig unzureichenden – Worten zusammenzufassen. Wir wollen uns auf Anmerkungen zur aktuellen Lage konzentrieren, um die oben definierte Aufgabenstellung auf eine aktuelle Konfliktsituation herunterzubrechen.
Anfang 2025 kommt den Auseinandersetzungen bei VW eine besondere Bedeutung zu. Zum einen, weil hier in besonderer Schärfe die Notwendigkeit einer Verkehrswende vor Augen geführt wird, zum anderen, weil es hier gleichzeitig um die sozialen Interessen derjenigen geht, die im Kampf gegen Kapitalinteressen und für die Verkehrswende letztlich die entscheidende Rolle spielen.
In beiderlei Hinsicht haben die Führung der IG Metall (Vorstand und Bezirksleitung) und die Mehrheit des Betriebsrats eklatant versagt. Mit dem „Weihnachtswunder“, dem Tarifabschluss bei VW am 20.12., werden Urlaubsgeld und Bonuszahlungen reduziert oder fallen ganz weg. Bis 2030 werden 35 000 Stellen gestrichen, während für einen Teil der Beschäftigten die Arbeitszeit erhöht wird. Gleichzeitig hat die IG Metall einem Maßnahmenpaket zugestimmt, das auf die Verschärfung des Konkurrenzkampfs der Belegschaften verschiedener Standorte hinausläuft. Maßstab ist das vom VW-Vorstand vorgegebene Ziel der „Produktivitätssteigerung“, sprich die Einsparung von Personal, und zwar ohne Beschäftigungssicherung für die noch Beschäftigten.
In der Frage der dringend notwendigen Verkehrswende hat die IG Metall gerade nicht den Kampf für die Umstellung der Produktion auf Busse, Bahnen, Fahrräder und sonstige gesellschaftlich nützliche Produkte aufgenommen. Ein solcher Kampf muss mit der Perspektive einer Vergesellschaftung verbunden werden (frei nach dem Motto: Unsere Gesellschaft braucht keine Milliardäre. Wolfgang Porsche und andere Reiche und Superreiche enteignen!). Nur über diesen Weg – Konversion unter Kontrolle der Beschäftigten und der Öffentlichkeit – kann ein tatsächlicher Beitrag zum Kampf gegen die Klimakatastrophe und für die gleichzeitige Sicherung der sozialen Interessen der Beschäftigten geleistet werden. Dafür reicht natürlich keine Verstaatlichung, es braucht eine Selbstermächtigung der arbeitenden Bevölkerung und eine demokratische Kontrolle dessen, was produziert wird, wie produziert und wie verteilt wird. Um im Kampf für diese Ziele weiterzukommen, eignen sich heute besonders gut der Verkehrssektor und die Wohnungsfrage. [10]
Die Führung der IG Metall kann sich nicht damit herausreden, dass die Zeit drängte oder die Kolleg:innen nicht kampfbereit gewesen wären. Weite Teile der Belegschaften bei VW sind jetzt (Ende Januar 2025), da der Tarifabschluss endlich den Kolleg:innen vorgestellt wurde, maßlos enttäuscht. [11] Am besten lässt sich dies daran erkennen, dass auf den einschlägigen Vertrauensleutevollversammlungen (etwa in Baunatal oder Braunschweig) die große Mehrheit der jeweils etwa 200 anwesenden Vertrauensleute den Abschluss ablehnte. Die Gewerkschaftsbürokratie organisierte die Versammlungen typischerweise in der Form, dass keine organisierte Diskussion für ein alternatives Vorgehen möglich war; am Folgetag lief nämlich die „Erklärungsfrist“ (also die Frist für eine Nichtannahme) ab.
Dieser Tarifabschluss hat gravierende Folgen: Zum einen bewirkt er eine spürbare Demoralisierung, sodass manche Kolleg:innen in Zukunft sich kaum noch für gewerkschaftliche Forderungen aktivieren werden, nach dem Motto: „Auf die IG Metall ist kein Verlass, die verrät uns nur.“ Zum anderen kann dies rechten, gewerkschaftsfeindlichen Strömungen Auftrieb geben.
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Wenn heute viele VW-Beschäftigte – auch solche, die wahrlich keine Revolutionäre sind – den Tarifabschluss als eine schwere Niederlage begreifen, dann offenbart dies die große Verantwortung der Gewerkschaftsbürokratie. Nicht nur hat sie keine Anstrengungen für die Aufnahme eines Kampfs um Konversion unternommen, sie hat sogar ohne Not den Kampf für die unmittelbaren sozialen Interessen der Beschäftigten verraten.
Was wird an diesem Beispiel deutlich? Es gibt nicht „die“ fortschrittlichen Akteure, jedenfalls gehören „die“ Gewerkschaften nicht dazu, denn ihre Vorstände betteln um Sozialpartnerschaft und verteidigen lieber den Standort Deutschland als die Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung. Zur Änderung dieser Verhältnisse muss eine konsequent systemoppositionelle, eine klassenkämpferische Kraft in den Gewerkschaften aufgebaut werden. Dies ist eine komplexe Aufgabe.
Für den Aufbau einer klassenkämpferischen Strömung in den Gewerkschaften kommt es in im Moment vor allem darauf an, die kritischen Stimmen (oft sind es nur Einzelpersonen) zu vernetzen, damit sie sich in einer zweiten Phase organisieren können. Es muss also mehr passieren, als wir es bei den „Streikkonferenzen“ erleben (die nächste steht für 2.–4. Mai in Berlin an), wo es in der Regel nicht über den Erfahrungsaustausch hinausgeht. [12]
Parallel dazu muss die politische Organisierung voranschreiten. Heute sind solche Kräfte weitgehend randständig, aber auch sie sollten ein Zusammengehen anstreben, wobei dies jedoch noch schwieriger ist als der Aufbau einer fortschrittlichen Strömung in den Gewerkschaften.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2025 (März/April 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz