Die Frage, ob „grünes Wachstum“ möglich ist, wurde auf der theoretischen Ebene (etwa von John Bellamy Foster) wie auf der empirischen Ebene (etwa von Schröder/Storm) erörtert. Nun liegt ein Buch vor, das versucht, auf diese Frage eine strategische Antwort zu geben.
Jakob Schäfer
Zunächst gilt es, ein dickes Lob auszusprechen: Bruno Kern ist mit seiner Kritik der herrschenden Wirtschaftsordnung weit radikaler und konsequenter als die allermeisten Kapitalismuskritiker*innen und Verfechter*innen des „System Change“. In seiner Analyse und in einigen wesentlichen Schlussfolgerungen geht er auch weiter als die meisten Kritiker*innen marxistischer Provenienz. Seine Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist deswegen schlüssig, weil er eine Gesamtsicht pflegt und sich nicht etwa von Heilsbringern technischer Neuerungen blenden lässt. Seinem Buch „Das Märchen vom grünen Wachstum“ [1] ist eine große Verbreitung zu wünschen, trotz der gewichtigen Kritikpunkte, die wir an Bruno Kerns strategischem Lösungsansatz haben.
So manches, was Bruno Kern in seinem neuen Buch aufführt ist in diesen oder jenen Punkten auch von anderen schon dargelegt worden, aber er führt die vielen Gründe zur Überwindung des Kapitalismus zusammen und zeichnet – zu Recht – ein düsteres Bild dessen, was auf die Menschheit zukommt, wenn nicht unverzüglich radikal umgesteuert wird. Hier kann längst nicht alles – nicht mal in Kürze – zusammengefasst werden, aber ein paar markante Punkte wollen wir wenigstens benennen, ohne natürlich die jeweilige Begründung mit anführen zu können:
Energiewende: Bruno Kern legt sehr gut dar – und zwar unter Verweis auf entsprechende Studien –, dass die anzustrebende Energiewende klare Grenzen hat. Zum einen, weil sie für den Aufbau der entsprechenden Anlagen fast durchweg auf die Nutzung fossiler Energien angewiesen ist. Sie ist also größtenteils überhaupt nicht „lebensfähig“. (Die Fachliteratur spricht hier von einer hohen emergy, also embodied energy). Zum anderen sind diese erneuerbaren Energien alles andere als unerschöpflich. Sie stoßen auf Grenzen der Verfügbarkeit, der Nutzbarkeit, des Transports oder einfach der Effizienz. Nur 2 % der weltweit genutzten Energie stammt heute aus Windkraftanlagen. Eine beträchtliche Steigerung ist in den meisten Regionen nur bedingt möglich.
Unter den gar nicht so schlechten Windverhältnissen der Bundesrepublik sind laut Umweltbundesamt aus technischen Gründen auf 13 % der Landfläche Windkraftanlagen installierbar, nicht aber aus wirtschaftlichen Gründen. „Dies entspricht einem Potenzial von rund 1 190 GW installierbarer Leistung mit einem Ertrag von 2 900 TWh/a. […] Das tatsächlich realisierbare Potenzial für die Windenergienutzung an Land ist deutlich geringer einzuschätzen.“ [2]
Nicht viel besser ist es mit den Solaranlagen. Photovoltaik wirft in Norddeutschland kaum (bisweilen gar keine) Nettoenergie ab, wenn also die Gesamtenergie für den Bau der Anlage von der Gesamtabgabe an Energie über ihre mittlere Lebensdauer abgezogen wird. In Süddeutschland ist die Gesamtbilanz positiv, wird aber häufig überschätzt. In Deutschland gab es beispielsweise 2010 gerade mal 800 Sonnenstunden, im Spitzenjahr 2018 waren es 2020 Stunden. Neben diesen Schwankungen muss man in Rechnung stellen, dass wegen der hohen Energiekosten für die Produktion der Anlagen (u. a. wegen des hohen Energiebedarfs für die Produktion von Aluminium) die Energierücklaufzeit dann ca. 9 Jahre beträgt. Neuere Berechnungen gehen davon aus, dass im günstigen Fall die Solaranlagen das Siebenfache an Energie liefern im Vergleich zur benötigten Energie für ihre Herstellung. Dies würde die Energierücklaufzeit auf 4 bis 5 Jahren verkürzen. Dies ändert natürlich noch nichts an der Lebensdauer der Anlagen. Neuere Techniken verbessern die Energiebilanz der Erneuerbaren graduell, aber nicht grundlegend.
Auch wenn Bruno Kern etwas übertreibt, aber im Prinzip hat er Recht: Nicht umsonst ist das jahrelang so riesig umworbene Desertec-Projekt (Solaranlage in der Sahara) inzwischen gescheitert. Aufwand und Ertrag (mindestens nach kapitalistischen Kriterien) stehen hier in einem schlechten Verhältnis. [3] Erstens wollen kapitalistische Konzerne recht bald Profite erzielen was aber bei diesem Jahrhundertprojekt (400 Mrd. €) sich frühestens in 50 Jahren auszahlen würde. Zweitens basierte die ganze Rechnung darauf, dass nur von dort erneuerbare Energie geliefert würde (was einen höheren Stromabnahmepreis ermöglicht hätte und somit die Investition rentabel gemacht hätte).
Drittens sind die politischen Verhältnisse in der Region zu unsicher, um den Strom dann (neben Europa) auch wirklich in ganz Nordafrika verkaufen zu können. Und vergessen wir nicht: Die Sonnenkraft wird noch lange wirken, aber die Rohstoffe, die wir brauchen, um sie für uns nutzbar zu machen, sind begrenzt (siehe unten)!
Effizienzproblem: Diese Schwierigkeiten sind nicht einfach mangelndem Ingenieursgeist geschuldet, sondern verweisen auf ein strukturelles Problem. Bruno Kern schreibt zu Recht (und unter Verweis auf einschlägige Studien): „Je mehr Effizienzpotenzial bereits ausgeschöpft wurde, umso schwieriger wird es, weitere Potenziale zu erschließen.“ (S. 53) In diesem Zusammenhang demontiert Bruno Kern auch die Phantastereien eines Ernst Ulrich von Weizsäcker, der von einer Vervierfachung der Effizienzsteigerungen fabuliert. Mit Recht führt Kern die Rechnung von Fred Luks an: Wenn bis 2050 (zum Schutz des Klimas) eine Verringerung des Ressourcenverbrauchs um 90 Prozent erreicht werden soll, dann setzt dies (bei einem weiterhin angestrebten Wirtschaftswachstum von jährlich 3 Prozent!) eine Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz um das 43-fache voraus! Allein diese Absurdität kapitalistischen Denkens ist schon ein Hinweis darauf, dass ein radikales Umsteuern der Strukturen und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zielbestimmungen erforderlich ist.
Rein theoretisch ist die Erschließung völlig neuer Energiequellen oder -techniken denkbar, aber gerade auf dieser abstrakten Grundlage beruht die Argumentation des „Immer-weiter-so“, also des ungebremsten Wachstums, das alle Verfechter*innen der kapitalistischen Produktionsweise pflegen. Eine nicht-kapitalistische Wirtschaftsweise kann – so hoffen wir – neue Potenziale der Energiegewinnung erschließen, aber es spricht beim heutigen Stand der Grundlagenforschung und der realen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nicht sehr viel dafür, dass es große Potenziale sein werden. Jedenfalls können wir diese Potenziale nicht nutzen, wenn sie noch gar nicht bekannt oder gar erschlossen sind. Auf diese abtstrakte (aber durch nichts belegte) Möglichkeit setzt ja bekanntlich die FDP bei ihrer Argumentation des ungebremsten „Weiter-so“.
Verlagerung der Produktion in den globalen Süden: In den meisten Energiewende- oder Verkehrswendekonzepten wird systematisch ausgeblendet, dass ein ständig wachsender Teil der entsprechenden Produktionsketten in den globalen Süden verlagert wird. Das betrifft nicht nur den Abbau der Rohstoffe, sondern auch die Fertigung vieler Vor- oder sogar Endprodukte. Die Auswirkungen des dort steigenden CO2-Aussstoßes machen aber bekanntlich nicht an Ländergrenzen halt. Wenn also die komplette emergy in Rechnung gestellt wird, lösen sich so manche Energiewende oder Verkehrswendemaßnahmen komplett in Luft auf.
Endlichkeit der Rohstoffe: Am dramatischsten ist wohl die enge Begrenzung der überhaupt noch zur Verfügung stehenden Rohstoffe, auch derjenigen, die für die Energiewende so wichtig sind! Dies betrifft Kupfer, Lithium, Neodym, Chrom, Titan, … Und nicht zu vergessen: Die Produktion von Biotreibstoff steht in direkter Konkurrenz zur Produktion von Nahrungsmitteln und das in einer Zeit, in der mehr als 800 Mio. Menschen auf der Erde Hunger leiden. In aller Regel wird in den bürgerlichen Medien auch völlig verschwiegen, dass der Abbau dieser Rohstoffe größtenteils unter erbärmlichen Bedingungen erfolgt – sowohl bezogen auf die Menschen als auch auf die Natur. So sind die ökologischen Schäden bei der Lithium- oder der Coltan-Gewinnung dramatisch. [4]
Bruno Kerns Schlussfolgerung aus den vielfältigen Problemen und Zuspitzungen ist zuzustimmen: „Die ökologische Problemstellung ist heute die dringendste soziale Frage unserer Zeit“, und zwar nicht nur wegen der wachsenden Zahl von Klimaflüchtlingen. Auch die Zerstörung der Umwelt beim Erzabbau im globalen Süden, der Landraub durch große Konzerne zur Produktion von Biotreibstoffen, die abnehmenden Fischbestände, die fortschreitende Wüstenbildung und so weiter spitzen für Hunderte von Millionen Menschen die Lage dramatisch zu.
Weiterhin können wir sehr gut mit Bruno Kern konform gehen, wenn er das Ziel der anzustrebenden Gesellschaftsordnung beschreibt: Sie muss egalitär ausgerichtet und auf Solidarität gegründet sein. Dafür braucht es eine geplante Wirtschaft, die mit den knapper werdenden Ressourcen extrem sparsam umgeht.
Ebenfalls erfreulich ist, wie Bruno Kern sich gegen das Bedingungslose Grundeinkommen wendet. Dieses ist im Kern ein unsolidarisches Konzept, das mit einer egalitären Gesellschaftsordnung völlig unvereinbar ist; und es ist zweitens auch rein praktisch nicht umsetzbar, es sei denn, man bliebe damit auf einem Niveau, das die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gerade nicht ermöglichen würde. Außerdem müsste man dann wohl auch die Landesgrenzen dicht machen. Schlussfolgernd aus seinen Darlegungen führt er aus: „Dabei wird völlig davon abstrahiert, dass sich die Autonomie des Einzelnen gerade durch die Solidarität der Gemeinschaft konstituiert, dass es ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis von individueller Entfaltung und Solidargemeinschaft gibt.“ Und er zitiert die Keynesianer Flassbeck/Spiecker/Meinhardt/Vesper, mit denen er ansonsten nicht übereinstimmt: „Wenn sich alle Bürger eines Landes auf den Anspruch des bedingungslosen Grundeinkommens berufen und nur das tun, was ihnen gerade Spaß macht, […] gibt es keine ausreichende materielle Grundlage, aus der heraus die gesetzlichen Ansprüche jedes Einzelnen gegen den Staat, gegen die ‚Allgemeinheit‘ bedient werden können. Die Freiheit des einen, nicht am Erwerbsleben teilzunehmen, auch wenn er dazu in der Lage wäre, führt zum Zwang für andere, eben diese Freiheit des einen durch ihre eigene Arbeit und ihre eigene Bereitschaft, deren Früchte zu teilen, zu ermöglichen. […] Wollen alle diese Freiheit nutzen, bricht das System in sich zusammen. Es mangelt ihm an Logik.“ [5]
Mit nicht weniger Begeisterung können wir Bruno Kern zustimmen, wenn er betont, dass aufgrund der großen Dringlichkeit der ökologischen Fragen (nicht nur, was den Klimawandel angeht) im Zentrum aller unmittelbaren Sofortmaßnahmen eine lange Liste von Geboten und Verboten stehen muss. Ohne wirksame ordnungspolitische Maßnahmen ist die große Katastrophe nicht aufzuhalten, sei es die Vermüllung der Meere, sei es der weitere Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre oder seien es etwa die zur Neige gehenden Rohstoffe. Bei den fortschrittlichen Klimaschützern (wie auch in anderen ökologisch engagierten Kreisen) ist dies heute weitgehend Gemeingut. Nicht wirklich breit geteilt wird leider die Auffassung, dass wir zwar für diese Maßnahmen kämpfen müssen, dass sie aber in ihrer Gesamtheit mit dem Kapitalismus nicht zu vereinbaren sind.
Bruno Kern führt 6 Felder an, an denen diese Verbote/ Gebote umzusetzen wären, hier nur als Stichpunkte aufgezählt: Streichung aller ökologisch schädlichen direkten und indirekten Subventionen, konsequente Unterbindung des weiteren Ausbaus fossiler Infrastruktur, organisierte Verknappung des Energieangebots, energieintensive überflüssige Produkte verbieten und energieintensive Verfahren eindämmen (z. B Verbot von Weißblech-Aluminium-Dosen als Getränkeverpackung), radikale Verkehrswende (Verbot von Kurzstreckenflügen unter 1000 km, Kontingentierung von Fernflügen usw.) sowie das Gebot „zurück zur bäuerlichen Landwirtschaft“ (darunter beispielsweise die Beendigung der Massentierhaltung).
Mit Bruno Kerns Forderung nach einer Deindustrialisierung kommen wir zu einem ersten wesentlichen Dissens mit seinen Anschauungen, die ganz eng mit seinen strategischen Vorstellungen verbunden sind. Er postuliert recht unspezifisch einen Abbau der Industrie, weil es – soweit noch vollkommen richtig – um die Frage gehe, „wie wir auf einer wesentlich schmaleren Basis eine solidarische Gesellschaft aufbauen können.“ (S. 31) Der Fehler fängt da an, wo er von „der“ Industrie spricht und ihre Formbestimmtheit im Kapitalismus nicht ausreichend klarstellt. Eng damit verbunden ist der falsche Begriff von Produktivitätsfortschritt. Er siedelt diesen erst in den letzten drei Jahrhunderten an, Fortschritte in der Produktivität gibt es aber seit Jahrtauenden.
Auf diese Weise lässt sich nicht herausarbeiten, wer denn ein Interesse an einem weiteren Produktivitätsfortschritt nach bisherigem Muster hat. Überhaupt ist die Klassenfrage eher eine Leerstelle in seinen Darlegungen und bildet dort, wo er sie abhandelt, einen wirklichen Schwachunkt in seinen strategischen Vorstellungen. Seine Gesamtanalyse und seine Idee der anzustrebenden Gesellschaftsordnung geraten besonders dort in eine Schieflage, wo er sich vom Marxismus abgrenzt.
Zunächst müssen wir feststellen, dass Bruno Kern sich nicht im geringsten die Mühe macht, zwischen den verschiedenen Strömungen zu unterscheiden, die in der einen oder anderen Form mit dem Marxismus zu tun haben oder – oft zu Unrecht – mit ihm in Verbindung gebracht werden. Auf diese Weise kann er ganz leicht die Verirrungen, Verfehlungen und auch Verbrechen dieser Strömungen (also auch die der sozialdemokratischen und der stalinistischen Konterrevolution) umstandslos „dem“ Marxismus anlasten. Er bezieht sich auf die Wirkungsgeschichte „des“ Marxismus, eben so, als gäbe es nur einen. Der revolutionäre Marxismus, auch wenn er ohne Zweifel nur eine Minderheit darstellt, ist für Bruno Kern inexistent.
Mehr noch: Er lastet die Unzulänglichkeit „des“ Marxismus in erheblichem Maß Marx selbst an. Zwar hat er sehr wohl die Untersuchung Kohei Saitos [6] gelesen und anerkennt gewisse ökologische Überlegungen bei Marx, aber er misst dennoch den einen oder anderen euphorischen oder missverständlichen Äußerungen bei Marx ein größeres Gewicht bei als den genau entgegengesetzten. Das ist leider Methode. Da halten wir es doch mit Daniel Bensaïd, der – auch ohne die Auswertung der zweiten MEGA, wie Kohei Saito sie vornehmen konnte – deutlich macht, dass Marx sehr wohl auch ökologische Fragen im Blick hatte. Sicher, Marx hat sie nicht systematisiert, aber für den revolutionären Marxismus geht es in allererster Linie um die Analysemethode und die Vorstellung vom Menschen bzw. der Gattung Mensch. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die besondere Bedeutung der Marx‘schen Kapitalanalyse überhaupt verstehen.
Kerns Kritik an Marx fängt damit an, dass er ihm Determinismus unterstellt. Kein anderer aber hat sich so ausführlich – in dialektischer Manier – mit der Frage des Determinismus auseinandergesetzt. Hier folgt Bruno Kern leider den Vorurteilen und Verleumdern bürgerlicher Marx-Kritiker. Wir können hier nicht alles wiedergeben, was Bensaïd dazu schreibt, aber es sei wenigstens kurz zitiert:
„Zehn Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes [des Kapitals] ruft Engels‘ Kommentar zu den ‚Geschichtlichen Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation‘ sehr verständliche Doppeldeutigkeiten im intellektuellen Kontext der Zeit hervor. Es ist auffällig, dass er [Marx] das Bedürfnis empfand, diesbezüglich einzugreifen und dass er es in diesem Sinne auch tat. Auch deshalb, weil der Anti-Dühring in enger Abstimmung mit Marx geschrieben wurde. Das kontroverse Kapitel aus dem Kapital ist seitdem nicht mehr von diesem Kommentar zu trennen, der es klarer werden lässt und korrigiert.
Die determinierte Notwendigkeit ist nicht das Gegenteil des Zufalls, sondern die Folge der determinierten Möglichkeit. Die Negation der Negation sagt, was verschwinden soll. Sie diktiert nicht, was geschehen soll.“ [7]
Auch ist es verkehrt, Marx einen linearen Fortschrittsbegriff zu unterstellen. Nicht nur hat er – wie Kohei Saito gut nachweist und worauf auch Bensaïd großen Wert legt die Liebig’schen Schlussfolgerungen aus der Vernutzung der Ackerböden aufgearbeitet (was letztlich auch zu den berühmt gewordenen Stellen im I. Band des Kapitals führte) [8]. Marx schloss sich weitgehend Darwins Evolutionstheorie an. Bensaïd schreibt dazu: „Darwin selbst weigert sich, sie [die Selektion] in Begriffen des Fortschritts auszudrücken und verbat (sic), die Worte überlegen und unter-legen überhaupt auszusprechen. Nach langer Reflexion war er überzeugt, dass es keine angeborene Tendenz gibt, die zu einem Fortschritt in der Entwicklung führt. Die Evolution ist ein Baumdiagramm oder eine Verzweigung, keine Stufenleiter. Die früheren Formen sind nicht Skizzen entwickelterer Formen, und die Unzeitgemäßheit autorisiert das Überleben ‚archaischer‘ Vorfahren, während ihre Nachkommen bereits diversifiziert sind.“ [9]
Ähnlich hat Ernest Mandel Marx rezipiert. Im Vorwort zur (in Großbritannien erschienenen) Penguin-Ausgabe des Kapitals schreibt er: „Es muss allerdings unterstrichen werden, daß die Frage, ob der Kapitalismus überleben kann oder zum Untergang verurteilt ist, nicht mit der Auffassung verwechselt werden darf, daß er unvermeidlich durch eine höhere Form der gesellschaftlichen Organisation ersetzt werden muß, also mit jener Unvermeidlichkeit des Sozialismus. Es ist durchaus möglich, den unvermeidlichen Zusammenbruch des Kapitals zu postulieren, ohne den unausbleiblichen Sieg des Sozialismus vorauszusetzen. In der Tat waren diese beiden Fragen in der früheren Geschichte des revolutionären Marxismus in radikaler Weise begrifflich voneinander getrennt, indem das Schicksal des Kapitalismus in der Form eines Dilemmas formuliert wurde: das System kann nicht überleben, aber es kann den Weg entweder zum Sozialismus oder zur Barbarei eröffnen.“ [10]
Bensaïd: „Ob man Marx für den bürokratischen Produktivismus [im stalinistischen Machtbereich] und seine Katastrophen verantwortlich macht oder versucht, ihn als Grünen zu verkaufen: Es ist leicht, bei ihm [einzelne] Sätze zu finden, die das jeweilige Plädoyer begünstigen. Angefangen von den frühen Texten bis hin zu den Randglossen zu Adolph Wagners ‚Lehrbuch der politischen Ökonomie‘ in MEW 19: 355-383ist das Werk sicherlich nicht homogen. Aber angesichts der Gegenwart öffnen sich neue Pfade und Pisten, die lange durch schwergewichtige Monumentalbauten didaktischer Vulgarisierungen versperrt waren.
Es wäre anachronistisch, Marx von den prometheischen Illusionen seiner Zeit zu befreien. Es wäre genauso missbräuchlich, aus ihm einen unbekümmerten Herold der exzessiven Industrialisierung und des eindimensionalen Fortschritts zu machen. Man sollte die Fragen, die er gestellt hat, nicht mit den später von sozialdemokratischen oder stalinistischen Epigonen gegebenen Antworten verwechseln. In diesem wie in vielen anderen Punkten markiert die bürokratische Konterrevolution einen Bruch.“ [12]
Das Gattungswesen Mensch und die Bewahrung resp. Wiederherstellung des Humanismus stehen im Mittelpunkt der Marx’schen Motivation. Bensaïd schreibt dazu unter anderem: „Marx begreift das Produktionsverhältnis als ein untrennbares Verhältnis von Mensch und Natur, das durch die Arbeit vermittelt wird. Die Irreduzibilität des Lebendigen verschwindet nicht in der Vergesellschaftung der Natur. ‚Der Mensch ist ein Gattungswesen, nicht nur indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigene als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegenstand macht, sondern – und dies ist nur ein anderer
Ausdruck für dieselbe Sache – , sondern auch indem er sich zu sich selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält.‘ [13] Seit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844 wird die Natur als anorganischer Körper des Menschen bezeichnet. Als natürliches menschliches Wesen ist der Mensch ‚ein Teil der Natur‘ [14]. Einerseits verfügt er als natürliches lebendiges Wesen über natürliche, vitale Kräfte. Andererseits ist er als natürliches Wesen aus Fleisch und Blut wie die Tiere und Pflanzen ein passives Wesen, abhängig und beschränkt. Die Formulierung im Kapital, der zufolge die Arbeit der Vater der materiellen Reichtümer und die Natur ihre Mutter ist, ist also nicht zufällig gewählt: sie schreibt sich in eine strikte Kontinuität ein. […]
Die Restauration der Menschheit im Menschen fordert die Restauration seiner Natürlichkeit als Bedingung seiner Emanzipation. Deshalb bezeichnet der junge Marx, nachdem er die Identität des Humanismus und eines konsequenten Naturalismus behauptet hat, den Kommunismus ganz einfach als einen ‚erfüllten Naturalismus‘.“ [15]
Und später fährt Bensaïd fort: „Diese Logik erlischt im Gesamtwerk seit 1844 nicht mehr, auch nicht mit der Liquidierung des philosophischen Bewusstseins. Sie verfolgt weiter ihren Weg.“ [16] Und dann führt Bensaïd dies näher aus: „Diese Entwicklungen illustrieren die Wandlungen von Marx in Bezug auf sein Konzept der Natur. Seine frühe Ablehnung des romantischen Naturalismus und seiner zweifelhaften Mythologien reicht zahlreichen eiligen Exegeten, um ihm einen entfesselten Willen zur Aneignung und Beherrschung der Natur zuzuschreiben. Im Unterschied zu den Vulgärsozialisten und Produktivisten dachte er jedoch nie, dass die Natur gratis sei. ‚Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. […] Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Laufe der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.‘ [17].“ [18]
Schon im Kapital schrieb Marx: „Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.“ [19] Noch früher, nämlich in der Rede auf der Jahresfeier des „People’s Paper am 14. April 1856 in London“ führt Marx aus: „Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der andern Seite, dieser Antagonismus zwischen Produktivkräften und gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende und unbestreitbare Tatsache.“ [20]
Bekanntlich hatte Marx schon in den Pariser Manuskripten ausgeführt: „Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit d[em] Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.“ [21]
Einen deutlichen Dissens haben wir auch mit Bruno Kerns Werttheorie, mit der er die Natur in die Werttheorie einbaut. Diese Debatte ist in Deutschland einige Jahrzehnte alt und seinerzeit besonders zugespitzt zwischen Hans Immler und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik geführt worden. [22] Sie und andere streiten darüber, ob die Natur in der kapitalistischen Produktionsweise Wert erzeugt und ob das Marx‘sche Hauptwerk die Grundlage für eine moderne Kritik der Naturzerstörung ist. Ich weiß nicht, ob Bruno Kern die Beiträge von Schmied-Kowarzik kennt, aber er schlägt sich klar auf die Seite Immlers, der die Natur (resp. die Naturvernutzung) als wertbildenden Faktor einer „vollständigen“ Werttheorie ansieht. Zugespitzt führt dies sogar zur Frage: Erzeugt in der kapitalistischen Produktionsweise die Natur Wert?
In der dritten, erweiterten Neuauflage ihres Buches (die Debatte begann 1983) führen Immler und Schmied-Kowarzik aus: „Die Diskussion Marx und die Naturfrage begrenzt diese sehr allgemeine und offene Problemstellung auf folgende Aspekte: 1. ob die Marxsche Theorie und eine von ihr geleitete Praxis einen Weg zur Lösung der ‚Naturfrage‘ in sich bergen oder aber, ob sie an der Erzeugung der ökologischen Konflikte ähnlich beteiligt sind wie die kapitalistische Praxis und Theorie; 2. ob die Marxsche Theorie, insbesondere die Werttheorie, selbst ursächlich beteiligt war an der naturzerstörenden Ökonomie in den realsozialistischen Ländern; 3. ob die ökologischen Konflikte zu einer grundlegenden Neubewertung der Marxschen Theorie zwingen.“ (S. 7 f )“
An dieser Stelle können wir nicht auf alle Aspekte der Auseinandersetzung eingehen, wollen aber festhalten: Das Kapital beutet beide Quellen des Reichtums aus, die Arbeit (Marx nennt dies den „Vater“) und die Natur („die Mutter“). Die Natur bringt nützliche Dinge (nicht nur Lebensmittel) hervor, aber sie bildet keinen Wert. Es handelt sich um Gebrauchswerte, die erst im Zusammenhang mit menschlicher Arbeit in den Wertbildungsprozess der Waren (der Tauschwerte) einfließen.
Nur die Tauschwerte bestimmen den Lauf der kapitalistischen Wirtschaft (und ihrer Krisen), bestimmen also das Bewegungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise. Waren sind Produkte menschlicher Arbeit (Tauschwerte). In dem gesellschaftlichen Verhältnis von Kauf und Verkauf der Waren (also in diesem historisch spezifischen Verhältnis) spielt die Natur gerade keine Rolle.
Was Immler und (in seinem Gefolge) Bruno Kern nicht verstehen, ist die Tatsache, dass auch die begrenzte Verfügbarkeit der Ressourcen noch längst keinen Wert darstellt oder gar bildet. Diese Begrenzungen der Verfügbarkeit fließen in die Grundrente ein. Und die Grundrente ist einer der wesentlichen Faktoren, die den Markproduktionspreis positiv wie negativ bestimmen. Ich verweise auf die Kompensationsgründe, die in den Marktproduktionspreis einfließen (MEW 25: 219 f ) und auf die Auswirkungen etwa solcher Elemente wie der Wasserkraft via Grundrente (MEW 25: 654).
Ich führe die Bedingungen der Grundrente und des Marktproduktionspreises hier an, weil Schmied-Kowarzik, dem ich ansonsten voll umfänglich zustimme, nicht näher darauf eingeht.
Bruno Kern wird möglicherweise zustimmen, wenn ich behaupte, dass es zwischen seiner Werttheorie und seiner Strategiebildung einen engen Zusammenhang gibt und dass er dabei nicht zufällig von der Distribution ausgeht. Im revolutionär-marxistischen Verständnis der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist aber die Beherrschung der Produktion die entscheidende Macht. Schließlich ist die Produktion (die Mehrwerterzeugung) der Mechanismus, der das gesamte gesellschaftliche Verhältnis bestimmt (einschließlich der Krisen).
Gehen wir von der Distribution aus, dann ist der Schritt nicht mehr weit zum „Vergessen“ des Klassenwiderspruchs, der sich aus der Mehrwertproduktion ergibt. Da, wo Bruno Kern die strategischen Fragen zur Überwindung des herrschenden Systems thematisiert, geht es bei ihm – neben den erforderlichen Geboten und Verboten – in allererster Linie um die Ablehnung und den Boykott dieser oder jener Produkte. Hier haben also die Konsumenten das entscheidende Wort bzw. die wirksamen Machthebel in der Hand. Eine zweite Ebene sieht er in den Steuerungsmöglichkeiten des Staates, ohne allerdings klarzumachen, welcher Staat (basierend auf welcher Klassenmacht) dazu bereit oder in der Lage sein sollte.
Wenn nun in der Strategiebestimmung die Bevölkerung vorrangig (bei Bruno Kern sogar ausschließlich) als – ich würde sagen als amorphe – Masse von Konsument*innen angesprochen ist, dann ist kein Raum mehr für eine adäquate Bestimmung von Klasseninteressen und erst recht nicht für das Verständnis klassenpolitischer Kräfteverhältnisse. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Bruno Kern nicht nur die Formbestimmtheit kapitalistischer Industrie faktisch kleinredet, sondern kein Verständnis dafür entwickelt, wie Klassenwidersprüche auch innerhalb der kapitalistischen Metropolen zu nutzen sind und notwendige Ansatzpunkte eines Kampfes für ein anderes Wirtschaftssystem sein müssen.
Das hat weitreichende Konsequenzen. Um seinen strategischen Ansatz zu begründen, rechnet Bruno Kern nur die „Industriearbeiter“ zur „Arbeiterklasse“. Sie umfasst in Deutschland bekanntlich nur eine deutliche Minderheit der erwerbstätigen Bevölkerung.
So kann die Kern’sche Arbeiterklasse natürlich keine sozial definierte und gleichzeitig gesamtgesellschaftlich ausreichend wirksame Gegenmacht sein. Darüber hinaus hat er ein weiteres Argument, die Arbeiterklasse abzuschreiben. Sie sei korrumpiert und lebe auf Kosten des globalen Südens. Auch die Reduzierung der Definition der Arbeiterklasse auf das Merkmal der Verelendung ist untauglich, um eine wirkmächtige Strategie für eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse zu bestimmen. Auch das jeweils aktuelle Bewusstsein ist ganz selbstredend kein Kriterium für die Definition einer Klasse, was Bruno Kern aber sehr wohl an mehreren Stellen durchschimmern lässt.
Seit den Pariser Manuskripten sind für Marx die entscheidenden Kriterien ganz andere: Entfremdung, Ausbeutung, Entmenschlichung usw. aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen, die sich nun mal aus der politischen Ökonomie ergeben. Somit ergibt sich für ihn die wissenschaftliche Aufgabe, vorrangig eine Kritik der politischen Ökonomie zu entwickeln.
Marx selbst hat keine sogenannte Klassentheorie entworfen, sie ergibt sich (von den wenigen ausdrücklichen Stellen wie am Ende von Band III des Kapitals abgesehen) aus dem Zusammenhang seiner Schriften. Im Kern seiner wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus steht das Erkennen der zentralen Rolle der Ware und der Mehrwertproduktion. Dies sind die Dreh- und Angelpunkte. Wer also den Kapitalismus überwinden will, muss hier ansetzen, es sei denn Bruno käme zu dem Schluss, dass es in den Metropolen keine Mehrwertproduktion und keine Ausbeutung mehr gibt. Wer die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich innerhalb der Metropolen nur aus dem Mehrwertübertrag aus dem globalen Süden erklären will, kommt allerdings schwer in Konflikt mit den überprüfbaren Wertschöpfungen auch innerhalb und zwischen den Metropolen. Dies zu leugnen würde allerdings alles auf den Kopf stellen und es blieben nur moralische Wertvorstellungen übrig, die allerdings keinen Ansatz für kapitalismusüberwindende Strategien ermöglichen.
Gehen wir also nicht nur von der Industrie aus, sondern von allen Teilen der erwerbstätigen Bevölkerung, die für die Mehrwertproduktion und -realisierung wichtig sind, dann kommen wir zu einem ganz anderen Ergebnis. An anderer Stelle [23] habe ich näher dargelegt: Zählen wir die Menschen im Handel, den Dienstleistungen (erst recht den industrienahen Dienstleistungen), den abhängig Beschäftigen im Bildungssektor oder im Gesundheitssektor usw. dazu, dann kommen wir bei einer ernsthaften Analyse auf annähernd 90 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung, die wir als Gesamtheit der Arbeiter*innenklasse bezeichnen können und sollten.
Zu den Bewusstseinsunterschieden schreibt Ernest Mandel: „Trotz aller inneren Segmentierungen der Arbeiterklasse – all der ständig wiederkehrenden Erscheinungen der Spaltung nach Beruf, Nationalität, Rasse, Geschlecht, Generationen usw. – gibt es keine inneren strukturellen Hindernisse für eine umfassende Klassensolidarität der Arbeiter im Kapitalismus. Es gibt nur verschiedene Stufen des Bewußtseins, die die Entfaltung der umfassenden Klassensolidarität mehr oder weniger schwierig, mehr oder weniger ungleichmäßig in Zeit und Raum werden lassen.“ [24]
Letztendlich geht Bruno Kern eher impressionistisch an die Frage des möglichen Akteurs tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen heran. Er leitet seine Revolutionstheorie (wenn wir seinen Vorschlag zum Konsumboykott mal so nennen dürfen) aus einer ahistorischen Betrachtung aktueller Erscheinungen ab, ohne – wie Marx das macht – die Struktur der kapitalistischen Produktionsweise und die sich daraus ergebende Klassenspaltung als Ausgangspunkt zu nehmen. Nur dann aber können wir feststellen, wer denn überhaupt die potentielle Macht hat, die herrschende Wirtschaftsordnung aus den Angeln zu heben.
Das entscheidende Kapitel für seine strategischen Überlegungen betitelt Bruno Kern (in bewusster Abwandlung eines allseits bekannten Spruchs aus der Arbeiter*innenbewegung) mit: „Alle Räder stehen still, wenn den Ramsch keiner mehr will.“ Hier plädiert er dafür, die Kapitalisten mit bewussten Kaufentscheidungen (gegen den Ramsch) zur Umkehr gewisser Investitionsentscheidungen zu zwingen. Hier stellen sich aber solch fundamentale Fragen, dass Bruno Kern, mit seinen Kenntnissen der kapitalistischen Wirtschaftsweise, eigentlich selbst ins Schleudern kommen müsste. Wie soll mit der Nichtverkäuflichkeit bestimmter Waren das Kapital gezwungen werden, stattdessen genau die Dinge zu produzieren, die wir für richtig und nützlich erachten – und zwar insgesamt in abnehmender Gesamtmenge? Was ist mit den Gütern, auf die die Menschen nicht verzichten können oder wollen, die aber weiterhin vom Kapital nur in schlechter Form angeboten werden (nämlich gemäß geplanter Obsoleszenz)? Bekanntlich – und das hebt ja auch Bruno Kern mehrfach hervor – schließen sich kapitalistisches Wirtschaften (also die Warenproduktion) und das Wirtschaften gemäß einem gesellschaftlich bestimmten Plan strukturell aus.
Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass hier und da gezielte Kauf boykott-Bewegungen sehr wohl Einfluss auf die Fortdauer einer ganz bestimmten Investitionsentscheidung haben können. Dort, wo dies politische Kampagnen begleitet und Auswirkungen auf die Bewusstseinsbildung hat, wäre es töricht, dies nicht zu unterstützen. So konnte beispielsweise Shell zur Entsorgung einer havarierten Ölplattform gezwungen werden.
Klar ist: Die Zeit drängt, schließlich wird in weniger als 9 Jahren das gesamte noch zulässige CO2-Budget verbraucht sein. Wir müssen also den Wandel so schnell wie möglich angehen. Aber genau dafür braucht es die Mitwirkung der Mehrheit der Bevölkerung. Es wird darauf ankommen, diejenigen strategischen Achsen und konkreten Losungen und Sofortforderungen zu vermitteln (bzw. in den Bewegungen gemeinsam zu erarbeiten!), die es ermöglichen, breit zu mobilisieren.
Mittelfristig braucht es nicht nur adäquate Kampfformen, sondern auch ein System von Übergangsforderungen, die geeignet sind, die politischen Kräfteverhältnisse bedeutend zu verschieben. Nur dann kann sich auch die Machtfrage stellen, die zentrale Voraussetzung, um anschließend die Wirtschaft völlig umkrempeln zu können. Und genau dies, nämlich die Eroberung der wirtschaftlichen und politischen Macht, geht nicht ohne die aktive Mitwirkung der – möglichst gut organisierten! – Arbeiter*innenklasse.
Nun schlägt Bruno Kern vor: Menschen sollen auf Konsum verzichten (was grundsätzlich gar nicht verkehrt ist, solange hier die materiellen Mittel gemeint sind, erst recht, solange sie kapitalistisch formbestimmt sind) und sie sollen den „Ramsch“ nicht mehr kaufen.
Er bezeichnet sodann die bislang häufig angewandten Aktionsformen („Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, das Organisieren von Veranstaltungen wie Kongressen, Konferenzen, Hearings, Tribunalen und so weiter“ [25]) als überholt. Und auch den Aktionsformen „kalkulierter Regelverletzung, des zivilen Ungehorsams bis hin zu militanten Aktionsformen, die, unter erheblicher persönlicher Risikobereitschaft der Beteiligten, darauf abzielen, den Preis für die Durchsetzung eines Projektes möglichst zu erhöhen [26] “, bescheinigt er wenig Wirksamkeit.
Stattdessen plädiert er für den Boykott: „Unter ‚Konsumverweigerung‘ verstehen wir eine von wesentlichen politischen Akteuren getragene, langfristig angelegte Kampagne, die anhand von ausgewählten Schwerpunkten den notwendigen Ausstieg aus unserer Konsumgesellschaft verdeutlicht. Es wäre also mehr als ein Appell an Einzel-ne und mehr als eine Boykottbewegung, die lediglich ein bestimmtes, eingrenzbares Problem im Fokus hat.“ [27] Und weiter: „Konsumkritik birgt vor allem in Gestalt einer politischen Konsumverweigerungsbewegung die Chance, die von uns als notwendig erachteten Veränderungen entscheidend mit voranzubringen.“ [28]
So ist es kein Zufall, dass Bruno Kern gerade diejenigen Kampfformen nicht aufführt, die schon aus strukturellen Gründen die größte Durchschlagskraft haben. Mit keinem Wort tauchen bei ihm die Kampfmittel auf, die sich im Verlauf der bald zweihundertjährigen Geschichte antikapitalistischer Kämpfe als die wirkungsvollsten erwiesen haben, nämlich Streiks (vor allem Generalstreiks) und Betriebsbesetzungen. Mit Konsumboykott lassen sich eben gerade nicht alle Räder stillstellen, mit Streiks aber sehr wohl, wie wir zurzeit gerade mal wieder in Frankreich feststellen.
Nun steht ja Bruno Kern auf dem Standpunkt, dass die Kämpfe der „traditionellen Arbeiterbewegung“ auf die falschen Ziele ausgerichtet sind, nämlich für Lohnerhöhungen, gegen Rentenkürzungen usw. Wir sollen weniger konsumieren und da ist – auch wenn das bei ihm nur indirekt zum Ausdruck kommt – ein geringeres Einkommen in seinen Augen ganz positiv, denn dann wird weniger konsumiert und demzufolge dann auch weniger produziert, was weniger Energie verschwendet und weniger Ressourcen verbraucht.
Seine Rechnung geht allerdings aus zwei Gründen nicht auf: Erstens werden in diesem Fall nicht weniger Ressourcen verbraucht, sondern nur anders (zugunsten der Bourgeoisie und ihres Staates!) verteilt, nämlich für mehr Luxusjachten, mehr Rüstung, mehr Prestigeprojekte usw. Und zweitens ist mit einem solchen Programm auf keinen Fall die Mehrheit derjenigen zu gewinnen, die als einzige die potentielle Macht haben, den Kapitalismus aus den Angeln zu heben.
Um die Mehrheit der lohnabhängigen Erwerbstätigen (der Arbeiter*innenklasse im umfassenden Sinn) für ein antikapitalistisches und ökologisches (und übrigens auch feministisches und internationalistisches) Programm zu gewinnen, braucht es nicht nur eine bessere, nämlich von vornherein klassenbasierte Zielbestimmung, sondern auch und gerade ein ganzheitlich ausgerichtetes Übergangsprogramm, das in der Lage ist, an den Bedürfnissen der Klasse (und damit auch der Mehrheit der Bevölkerung, mindestens in den Metropolen) anzuknüpfen und sie mit Losungen zu mobilisieren, die bei ihrer Durchsetzung die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung infrage stellen. Und es sollte auch nicht verschwiegen werden – wozu Bruno Kern übrigens bezeichnenderweise kein einziges Wort verliert – dass sich für einen wirklich Systembruch an einem bestimmten Punkt die Machtfrage stellen wird. Diese wird nicht einfach mal in einem bürokratischen Akt von einer Klasse auf die andere übergehen. Hier wird es auf die Reife des subjektiven Faktors ankommen, an gegebener Stelle die Initiative zu ergreifen und – im Interesse aller – die Macht zu erobern. [29]
Letztlich also wird all dies in einer revolutionären Strategie eingebettet sein müssen, wozu der Konsumboykott im besten Fall ein Hilfsmoment sein kann.
Trotzki fasst die Methode so zusammen: „Man muss den Massen im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zwischen ihren augenblicklichen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution zu finden. Diese Brücke muss aus einem System von Übergangsforderungen bestehen, die von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse ausgehen und stets zu ein und demselben Schluß führen: zur Machteroberung des Proletariats.“ [30]
Wie könnte ein ökosozialistisches Übergangsprogramm aussehen? Hier einige Stichpunkte, orientiert am Programm der belgischen Gauche anticapitaliste [31] :
Überflüssige und gefährliche Produktionszweige müssen eingestellt werden und geplante Obsoleszenz von Gütern muss unterbunden werden.
Unnötige Warentransporte müssen unterbunden werden; stattdessen muss so viel wie möglich regional produziert und müssen kurze Kreisläufe durchgesetzt werden.
Um die Mobilität der Personen zu gewährleisten muss massiv in die Öffentlichen Verkehrsmittel investiert werden. Der private Autoverkehr muss unattraktiv gemacht werden. Arbeitsplätze müssen wohnortnah geschaffen (bzw. dorthin transferiert) werden. Flugreisen müssen rationiert werden.
Regionale öffentliche Bauunternehmen müssen gegründet werden, die mit der energetischen Sanierung der Gebäude beauftragt werden.
Die fossilen Brennstoffe müssen in der Erde bleiben. Die Vergesellschaftung großer Unternehmen sollte bei den Energie- und Finanzkonzernen anfangen.
Die Agrarindustrie und die kapitalistische Ausbeutung der Wälder müssen beendet werden.
Das Prinzip der Klimagerechtigkeit zwischen Nord und Süd muss beachtet werden.
Schon kleinere bedeutsame Schritte in der hier genannten Richtung sind nur mit breitesten Mobilisierungen durchzusetzen. Dabei müssen die Kampfziele klar benannt sein: Die anzustrebende Konversion der Produktion muss mit einer Arbeitsplatzgarantie der Lohnabhängigen verbunden werden, verknüpft mit Neueinstellungen in Bereichen mit hohem Personalmangel und einer umfassenden allgemeinen Arbeitszeitverkürzung.
Klar sollte auch sein: Für die Entwicklung eines solchen Programms bedarf es noch vieler politisch-programmatischer Ausarbeitungen. Dies wird nicht am Schreibtisch erfolgen ( jedenfalls nur zum geringen Teil). Dazu braucht es eine breite Bewegung bzw. eine Vielzahl kämpfender Bewegungen, die sich gegenseitig befruchten, die aber an entscheidenden Weggabelungen kooperieren und an einem Strang ziehen, nämlich dem, der den Kapitalismus stürzen kann.
24./28.12.2019 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz