Naher Osten

Die Hügeljugend in Israels Militärstrategie in der Westbank

Immer häufiger greifen Siedlermilizen mit Unterstützung der israelischen Politik Palästinenser:innen im besetzten Westjordanland an, um sie zu vertreiben und Land zu beschlagnahmen.

Meron Rapoport

Letzte Woche, nur wenige Tage nachdem israelische Streitkräfte drei Palästinenser erschossen, als sie Siedler deckten, die das palästinensische Dorf Kafr Malik im Westjordanland gewaltsam stürmten, brandete eine ungewöhnliche Welle der Empörung durch die israelische Politik und die Medien … jedoch nicht wegen der toten Palästinenser, sondern weil kurz darauf Siedler auf israelische Soldaten losgegangen waren.

 

Hügeljugend treibt Vieh auf palästinensisches Feld

Foto: יורם שורק

Am Freitagabend griffen Siedler, die in Israel gemeinhin als „Hügeljugend“ bezeichnet werden, Soldaten an, die auf einem Außenposten in der Nähe von Kafr Malik, nordöstlich von Ramallah, stationiert waren. Am folgenden Tag stürmte dieselbe Gruppe einen nahe gelegenen Militärstützpunkt.

Für die Militärs kam die Aggression ihrer eigentlichen Bündnispartner unerwartet, gar verstörend, waren sie doch seit langem daran gewöhnt, den Siedlern bei ihren Überfällen auf palästinensische Gemeinden Geleitschutz zu geben. Auch ist der Begriff „Hügeljugend“ in Teilen wohl überholt, denn ihre Struktur, ihre Taktik und ihr wachsendes Selbstvertrauen lassen darauf schließen, dass sie inzwischen eher als paramilitärische Organisation denn als informelle Ansammlung radikalisierter junger Siedler fungiert.

Premierminister Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Israel Katz und Politiker aus dem gesamten politischen Spektrum Israels, sowohl der Regierungskoalition als auch der Opposition, verurteilten die Angriffe auf die Soldaten umgehend. Die ständigen Gewaltmaßnahmen dieser Siedlergruppen gegen Palästinenser seit Jahren hingegen bleiben ohne politische oder rechtliche Konsequenzen.


Staatlich sanktionierte Gewalt


Die Zunahme der Siedlermilizen ist kein neues Phänomen. Während der Zusammenstöße zwischen Juden und Palästinenser:innen im Mai 2021 führten koordinierte Siedlermilizen gleichzeitig Angriffe auf palästinensische Dörfer im gesamten Westjordanland durch. Diese Milizen agieren nicht spontan, sondern im Rahmen einer Organisation, der mehrere hundert bewaffnete Männer angehören.

Neu hingegen ist die offensichtliche Formalisierung ihrer Operationen unter der derzeitigen israelischen Regierung. Seit Bezalel Smotrich, der auch als israelischer Finanzminister fungiert, die Kontrolle über die Zivilverwaltung im Westjordanland übernommen hat, agieren diese Milizen offenbar in enger Abstimmung mit einem weiter reichenden strategischen Ziel: die Ausweitung der israelischen Kontrolle über das Gebiet C, das etwa 60 Prozent des Westjordanlandes ausmacht, wodurch die Möglichkeit der Gründung eines künftigen palästinensischen Staates de facto verhindert wird.

Zentraler Bestandteil dieser Strategie ist die Ausbreitung der so genannten „Hirtenfarmen“, eines Siedlungsmodells, das es den Siedlern ermöglicht, große Landstriche ohne formale Regierungsgenehmigung und mit wenig oder gar keinem militärischen Widerstand in Besitz zu nehmen. Diese Farmen umfassen in der Regel anfangs nur wenige Siedler, manchmal bloß zwei oder drei, dehnen sich aber schnell über weite Gebiete aus.

Durch diese Außenposten gelingt es kleinen Gruppen von Siedlern, oft in Allianz mit der Hügeljugend, die Kontrolle über weite Landstriche zu erlangen. Die Siedler, die diese Farmen betreiben, schüchtern systematisch die palästinensischen Hirten und Bewohner:innen ein und vertreiben sie gewaltsam, wodurch de facto „ausgegrenzte“ Zonen ohne offizielle Annexion geschaffen werden.

Für die im Westjordanland lebenden Palästinenser:innen sind weder Gewalt noch Enteignung durch diese Milizen neu oder Einzelfälle. Die jüngsten Angriffe auf israelische Soldaten haben jedoch kurzzeitig die Aufmerksamkeit auf diese Gruppen gelenkt und einen Alltag aufgedeckt, den die Palästinenser:innen seit langem ertragen müssen, nämlich dass sich Teile der Siedlerbewegung zu organisierten Milizen entwickeln, die ungestraft Landraub begehen.


Smotrichs Strategie


Unter Smotrichs Ägide werden nun viele dieser Farmen legalisiert. Gleichzeitig häufen sich die (anscheinend gezielten und koordinierten) Angriffe auf palästinensische Hirten und Beduinengemeinschaften östlich der Alon-Straße, insbesondere im Jordantal. Das Ziel dieser Angriffe liegt auf der Hand: die Vertreibung der Palästinenser:innen aus dem Gebiet.

Neuerdings dringen die Siedlermilizen von der Alon Road aus nach Westen vor und rücken auf die Regionen Nablus und Ramallah zu. Einerlei, ob die Milizen auf direkten Befehl von Smotrich selbst vorgehen oder nicht, die Ziele sind eindeutig identisch. Beide arbeiten darauf hin, die israelische Kontrolle über das Gebiet C zu festigen und die palästinensischen Bewohner:innen zu vertreiben. Smotrichs offensichtliches Ziel ist es, diese annektierten Gebiete so weit wie möglich von Palästinensern zu säubern, um die Zahl derer, die Anspruch auf die Staatsbürgerschaft haben, zu verringern

Ein Beispiel für diese stillschweigende Zusammenarbeit wurde nach den Ereignissen vom vergangenen Freitag deutlich. Smotrich erklärte, dass das Schießen auf Juden „eine rote Linie“ darstelle, die nicht überschritten werden dürfe, und stellte unmissverständlich fest, dass es verboten sei, auf Juden zu schießen.

Die Siedler hatten zunächst behauptet, ein 14-jähriger Junge sei von israelischen Soldaten erschossen worden, obwohl sich später herausstellte, dass der Junge verletzt worden war, als er an einem ganz anderen Ort Steine auf Soldaten warf. Dennoch schloss sich Smotrich der Version der Hügeljugend an. Der Angriff auf den Militärstützpunkt am folgenden Tag zwang den Finanzminister, sich vom Vorgehen der Siedler öffentlich zu distanzieren, doch die gemeinsamen strategischen Interessen beider Seiten bleiben intakt.

Die Zunahme der Angriffe auf Palästinenser in letzter Zeit könnte auf die Sorge des israelischen Finanzministers zurückzuführen sein, dass die Regierung auseinanderbricht oder dass er in der nächsten Regierung nicht mehr vertreten sein wird. In den meisten Umfragen kommt Smotrichs zionistische Nationalreligiöse Partei nicht über die Wahlhürde.

Smotrich ist einer der raffiniertesten und schärfsten Politiker in Israel und verfügt über ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein. Die aggressive Expansion bewaffneter Siedlermilizen im Westjordanland ist nicht einfach eine zufällige Abfolge isolierter Angriffe, sondern Teil von Smotrichs Ambitionen, im Falle eines Regierungswechsels unumkehrbare „Fakten vor Ort“ zu schaffen.

Er könnte mit seiner Berechnung durchaus Recht haben. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass eine künftige israelische Regierung Hirtenfarmen oder Außenposten im Westjordanland auflösen wird, und noch unwahrscheinlicher, dass sie vertriebene Palästinenser auf das Land zurückkehren lassen wird, von dem sie vertrieben wurden.

Möglicherweise hat Smotrich auch die Konturen des Nahostplans der Trump-Administration im Sinn, den er öffentlich kritisiert hat. Nach diesem Plan würde ein Großteil des Gebiets C an Israel angegliedert werden, während ein fragmentierter palästinensischer Staat in Form isolierter Enklaven im gesamten Westjordanland existieren würde.

Smotrichs offensichtliches Ziel ist es, sicherzustellen, dass in diesen annektierten Gebieten so wenig Palästinenser:innen wie möglich leben, um die Zahl derer, die Anspruch auf die Staatsbürgerschaft oder volle Rechte im israelischen Staat hätten, zu verringern.

Der anhaltende Krieg im Gazastreifen prägt auch das Denken der Siedlermilizen und stärkt Smotrich und den Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben Gvir. Dadurch ist eine laissez-faire-Situation entstanden, die diese Akteure zu ermutigen scheint, ihre Agenda im Westjordanland zu forcieren.


Die Wunschträume der Siedler


Die Siedler hegen seit langem den Ehrgeiz, das Westjordanland seiner palästinensischen Bevölkerung zu entledigen. Jahrelang wurde dieses Ziel weithin als unerreichbar angesehen, selbst unter den Siedlern. Die nahezu vollständige Zerstörung des Gazastreifens und die zunehmende öffentliche Wahrnehmung, dass die ethnische Säuberung des Gazastreifens nahezu explizit zu einem der Kriegsziele von Premierminister Netanjahu geworden ist, haben die Siedlergruppen jedoch in dem Glauben bestärkt, dass ein solches Szenario auch im Westjordanland möglich sein könnte.

Eine ethnische Säuberung im Westjordanland würde jedoch weitaus größere logistische und politische Herausforderungen mit sich bringen als in Gaza. Anders als im Gazastreifen sind im Westjordanland Palästinenser und Siedler als Bevölkerung stärker miteinander verflochten. Darüber hinaus würde Jordanien (das direkt an der Grenze liegt) mit Sicherheit weit weniger tolerant reagieren als Ägypten, falls Israeli versuchen sollte, Hunderttausende von Palästinenser:innen gewaltsam auf jordanisches Gebiet zu zwingen.

Dennoch scheinen einige der Methoden, die das israelische Militär derzeit in Gaza anwendet, allmählich auch im Westjordanland Einzug zu halten, wenn auch in kleinerem Maßstab. In den letzten Monaten wurden große Teile der Flüchtlingslager von Tulkarm und Dschenin sowie andere Gebiete mit Bulldozern geräumt, und Hunderte von Häusern wurden von den israelischen Streitkräften abgerissen.

Die Bilder aus diesen Gebieten ähneln zunehmend denen aus dem Gazastreifen. Auch wenn das Westjordanland noch nicht genauso viele Verheerungen wie in Gaza erlebt, kann das, was sich dort abspielt, durchaus als Vorbereitung für die weiterreichenden Pläne Smotrichs und der Siedlermilizen zur „Säuberung“ wesentlicher Gebiete von Palästinensern angesehen werden.


Wer schlägt härter zu?


Der Angriff von Siedlermilizen auf die israelische Armee am vergangenen Freitag stellte eine seltene Ausnahme von den ungeschriebenen Regeln dar, die seit langem das Verhältnis zwischen Siedlern und dem Militär im Westjordanland regeln. Dieser „Unfall“ löste innerhalb Israels einige Kritik aus. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Kritik nennenswerte Auswirkungen auf das Vorgehen der Milizen oder den weiteren Verlauf der Siedlungsexpansion und der Vertreibung der Palästinenser:innen haben wird.

      
Mehr dazu
Büro der Vierten Internationale: Eine weltweite Bewegung gegen den Völkermord in Palästina aufbauen, die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025) (nur online). Auch bei intersoz.org.
Dave Kellaway: Solidarität mit Gaza ist nicht antisemitisch – Tod der Heuchelei, die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025). Auch bei intersoz.org.
Jakob Schäfer: Siedlerkolonialismus, ethnische Säuberung und Völkermord, die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025). Auch bei intersoz.org.
Gideon Levy: Israel hat einen Plan zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens, die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025).
 

Verteidigungsminister Israel Katz, der vor kurzem die Anwendung von Verwaltungshaftbefehlen gegen jüdische Siedler aufhob (und damit die Kompetenzen der jüdischen Abteilung des Inlandgeheimdienstes Schin Bet schwächte), hat nun die Bildung einer neuen Polizeieinheit angekündigt, die sich mit der Gewalt von Siedlern befassen soll. Katz zufolge werden die israelische Armee und der Schin Bet in gewissem Umfang beteiligt sein, aber die Einheit wird in erster Linie von Polizeibeamten geleitet werden.

In der Praxis besteht jedoch kaum ein Zweifel daran, dass die Ernennung des Kommandeurs der Einheit die Zustimmung von Ben Gvir erfordert, der die Polizei beaufsichtigt und weithin als Verbündeter der Siedlerbewegung gilt. Die Schaffung dieser Einheit dient offensichtlich weniger dazu, die Gewalt der Siedler einzudämmen, sondern vielmehr als politisches Manöver zur Beeinflussung der Öffentlichkeit. Es geht wohl eher darum, von Kritik abzulenken, als sich ernsthaft mit den anhaltenden Angriffen auseinanderzusetzen.

Öffentliche Kritik an israelischen Soldaten ist in Israel weitgehend unpopulär, und selbst Israelis aus der Mitte und der rechten Mitte lehnen Gewalt von Siedlern gegen Palästinenser:innen ab. Diese Faktoren stellen eine potenzielle Bedrohung für das politische Vorhaben von Smotrich und der Siedlermilizen dar. Doch trotz dieser inneren Spannungen ist es unwahrscheinlich, dass das Vorhaben als solches zum Scheitern gebracht wird.

Smotrich und Ben Gvir, die als prominenteste Vertreter der Siedlerbewegung in der Knesset fungieren, sind mittlerweile so fest in der israelischen Regierung verankert, dass man sich kaum vorstellen kann, dass diese Agenda von innen heraus ernsthaft in Frage gestellt wird.

Wie es bei gewaltbereiten Bewegungen dieser Art häufig der Fall ist, könnte es jedoch extremere Kräfte geben, die Smotrich und Ben Gvir als zu moderat oder zu wenig engagiert für ihre Sache ansehen. Letztlich handelt es sich jedoch um einen Wettstreit zwischen Fraktionen, die von einer eskalierenden Radikalität angetrieben werden. Es ist ein Wettstreit darum, wer härter zuschlägt.

Aus: Middle East Eye vom 4. Juli
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz