Türkei

Die Türkei nach der Selbstauflösung der PKK

Der Autor beleuchtet vor dem Hintergrund der Selbstauflösung der PKK deren Folgen, die aktuelle politische Lage in der Türkei und den Zustand der dortigen Arbeiterbewegung.

Interview mit Uraz Aydın

 Kannst du die PKK und ihre politische Ausrichtung grob skizzieren? Was unterscheidet sie von anderen linken oder nationalistischen politischen Formationen?

Die Gründung der PKK muss vor dem Hintergrund der Politisierung und Radikalisierung in den 1960er Jahren betrachtet werden, in denen ein Aufschwung der Arbeiterbewegung und eine revolutionäre Radikalisierung, insbesondere unter der Jugend, stattfand. Dies war auch ein Jahrzehnt des Erwachens des kurdischen Nationalbewusstseins. Diese kurdisch-nationale Politisierung vollzog sich vorwiegend innerhalb der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), der wichtigsten politischen Formation der Arbeiterbewegung in diesem Jahrzehnt. Gegen Ende der 1960er Jahre, aber vor allem nach der Amnestie von 1974, als Tausende türkischer und kurdischer Aktivist:innen, die seit dem Militärputsch 1971 inhaftiert waren, freigelassen wurden, begannen die revolutionären Kurd:innen, ihre eigenen, unabhängigen Organisationen zu gründen. [1] Die PKK wurde vor diesem Hintergrund, allerdings relativ spät gegründet. In der offiziellen Geschichte der Organisation werden ihre Ursprünge zwar auf 1973 datiert, doch erst 1978 fand der Gründungskongress statt. Zuvor war es ein Kern von Studenten und vor allem Lehrern um Abdullah Öcalan herum. Sie nannten sich die „Revolutionäre Kurdistans“, waren aber vor allem unter dem Namen ‚Apocular‘ („Anhänger von Apo“ – Kurzform von Abdullah) bekannt. So hatte die Persönlichkeit Öcalans von Anfang an eine zentrale Bedeutung.

 

PKK löst sich auf

Kongress 2025, Foto: ANF

Auf programmatischer Ebene gab es keine spezifischen Unterschiede zu den vielen anderen Organisationen der kurdischen radikalen Linken, die den bewaffneten Kampf für ein „unabhängiges, vereinigtes, demokratisches und sozialistisches Kurdistan“ in Form zweier Etappen propagierten. [2] In der Zwischenzeit wurden die Waffen jedoch vor allem zur Verteidigung gegen die Angriffe der faschistischen rechtsextremen „Grauen Wölfe“ oder im grassierenden Bruderkrieg innerhalb der revolutionären Linken eingesetzt. Die PKK war eine der beiden größten Gruppen, die nicht davor zurückschreckten, Waffen gegen andere rivalisierende kurdische (und türkische) Gruppen einzusetzen, aber sie war in dieser Hinsicht nicht allein. Somit war die PKK vor dem Putsch von 1980 [3] eine kurdische revolutionäre Organisation unter vielen anderen.

 Welche Rechtfertigung gab es 1984 für eine Strategie des bewaffneten Kampfes gegen den türkischen Staat?

Tatsächlich fasste die PKK vor allem nach 1984 in der lohnabhängigen und bäuerlichen kurdischen Bevölkerung allmählich Fuß. Gehen wir ein wenig zurück. Öcalan verließ die Türkei 1979 während des Ausnahmezustands, aber noch vor dem Putschversuch. Dies war ein entscheidender Faktor für den Aufbau der Organisation. Dadurch hatte er Zeit, Kontakte zu palästinensischen Widerstandsgruppen in Syrien und im Libanon zu knüpfen und Vorbereitungen für ein mögliches Exil seiner Aktivist:innen zu treffen, damit sie auch eine militärische Ausbildung erhalten sollten. Nach dem Putsch von 1980 rief Apo seine Aktivist:innen dazu auf, heimlich nach Syrien zurückzukehren. Sie wurden im Bekaa-Tal in denselben Lagern wie die Palästinenser im syrisch besetzten Libanon ausgebildet. Einige von ihnen nahmen am Kampf gegen die israelische Invasion im Libanon teil. Die PKK verlor dabei mehrere Dutzend Mitglieder und erlangte damit auch ein gewisses Renommée.

Die PKK nahm den bewaffneten Kampf im August 1984 auf, weil Öcalan der Meinung war, dass seine Armee nunmehr bereit dafür sei. Die Frage des militärischen Kampfes als Methode zur Befreiung Kurdistans wurde nicht anhand jeweils aktueller Bedingungen oder Kräfteverhältnisse beantwortet, sondern war seit 1978 programmatisch festgelegt.

Die Offensive gegen den türkischen Staat wurde bereits 1982 geplant, aber immer wieder verschoben. Zudem operierte Öcalan damals innerhalb des Nahen Ostens, wo die Allianzen und Animositäten zwischen den verschiedenen Staaten und kurdisch-nationalistischen Bewegungen (im Irak und im Iran) in stetem Fluss waren. Dieser instabile Kontext hatte auch auf die Bedingungen des Kampfes Auswirkungen. Die Allianz mit dem im Nordirak dominierenden Barzani-Clan, den er eigentlich als feudalistisch und reaktionär erachtete, war beispielsweise entscheidend, um Lager in den Bergen an der Grenze zur Türkei errichten und so den Guerillakrieg aufnehmen zu können. Während also alle anderen kurdischen und türkischen Gruppen versuchten, ihre Kräfte im Exil, in Syrien, vor allem aber in Europa zu bewahren, war die PKK die einzige, die einen regelrechten bewaffneten Kampf aufnahm. Die Legitimität, die sie sich im Laufe ihrer Offensiven verschaffte, ermöglichte es ihr, immer mehr Menschen zu rekrutieren, obwohl sie vor Ort große Verluste an Kämpfer:innen erlitt.

 Ist die angekündigte Auflösung 40 Jahre später nicht ein Scheitern, sowohl auf militärischer als auch auf politischer Ebene?

Ich denke, dass die militärischen Ziele bereits seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gültig waren. Während für Öcalan bei der Parteigründung und in den 1980er Jahren jedes Ziel unterhalb der Unabhängigkeit (verschiedene Formen der Autonomie, föderative Einheiten …) als reaktionär galt, hatte der PKK-Führer bereits Anfang der 1990er Jahre, insbesondere nach dem Sturz der bürokratischen Diktaturen, begonnen, seine Konzeption zu revidieren. Er theoretisierte bekanntlich später eine Kritik des Nationalstaats.

Öcalan hatte bereits 1993 versucht, Verhandlungen aufzunehmen. Nach seiner Verhaftung 1999 begann er, einen völlig neuen Kurs zu vertreten, sehr zur Überraschung der PKK-Führer und Aktivist:innen, die sich darauf vorbereiteten, den Krieg und die Selbstmordattentate zu intensivieren. Dieser Kurs zielte darauf ab, den bewaffneten Kampf zugunsten eines dauerhaften Waffenstillstands zu beenden, um den Weg für eine politische Lösung zu ebnen. Damit gab er unbestreitbar das strategische Ziel eines unabhängigen Kurdistans auf. Es folgten zwei weitere Verhandlungsprozesse in den Jahren 2007–2009 und 2013–2015, die leider scheiterten. Die Schaffung der autonomen Zone Rojava in Nordostsyrien muss jedoch auch in diesem militärischen und politischen Rahmen gesehen werden. Die Existenz einer mit der PKK verbundenen Verwaltungsstruktur an der Grenze zur Türkei ist eine wichtige Errungenschaft für die Organisation, gegen den türkischen Staat und gegenüber ihrem historischen Konkurrenten im Nordirak, dem Barzani-Clan und seiner Demokratischen Partei Kurdistans.

 Was ist von den heutigen Verhandlungen zu halten?

Wir müssen bedenken, dass die kurdische Bewegung nicht nur eine bewaffnete Bewegung ist. Die PKK hat es geschafft, eine Massenbewegung von mehreren Millionen Menschen zu schaffen, mit verschiedenen zivilen Strukturen, die sich trotz der autoritären Funktionsweise der Organisation mitunter autonom entwickelt haben. Heute scheinen die zivil-demokratischen Basisstrukturen für den Kampf um die Sache des kurdischen Volkes viel wichtiger und effektiver zu sein als die bewaffneten Formationen. Trotz aller Kritikwürdigkeit dieser Bewegung – wie ihr Autoritarismus, ihr Führerfetischismus, die willkürlichen internen Massenexekutionen (insbesondere während der Wende von den 80er zu den 90er Jahren), die Dutzende wahllosen Attentate etc. – muss man anerkennen, dass sie im Laufe der Zeit sehr stark zur Konsolidierung eines Nationalbewusstseins des kurdischen Volkes beigetragen und es vorwiegend links verankert hat, mit feministischen, egalitären Werten und der Brüderlichkeit unter den Völkern. Aus historischer Sicht ist dies ein wichtiger Pluspunkt.

Auf der Verhandlungsebene begann alles mit dem unerwarteten Aufruf des rechtsextremen Parteiführers und wichtigsten Verbündeten Erdoğans, Devlet Bahçeli, am 22. Oktober 2024, Abdullah Öcalan solle im Parlament auftreten, um das Ende des bewaffneten Kampfes und die Auflösung der PKK zu erklären. Nach einer Zeit höchst undurchsichtiger Verhandlungen zwischen dem türkischen Staat und Öcalan unter Beteiligung einer Delegation der DEM-Partei (linksreformistische Partei, die aus der kurdischen Bewegung hervorgegangen ist) und der PKK-Führung gab der Gründer der Organisation aus seinem Gefängnis auf der Insel İmralı im Marmara-Meer am 27. Februar 2025 in einem Brief bekannt, dass sich die PKK auflösen solle.

Wir wissen nicht, welche Debatten innerhalb der Organisation geführt wurden. Es hatte bereits in früheren Verhandlungen Spannungen zwischen Apo und dem Präsidialrat der Organisation gegeben. Es ist also schwer vorstellbar, dass die PKK-Führung angesichts eines so abrupt erklärten Prozesses eine schnelle Einigung erzielt hat. Die Führung der Organisation betont nachdrücklich, dass der gesamte Verhandlungsprozess von Öcalan geleitet werden soll, was so verstanden werden kann, dass man keine direkte Verantwortung übernehmen wolle.

Die Entwaffnung der PKK ist zwar eine wichtige Grundlage für eine Entmilitarisierung der kurdischen Frage, auch wenn das Erdoğan-Regime zweifellos versuchen wird, diesen Prozess entlang seiner Interessen zu steuern und insbesondere das Bündnis zwischen der kurdischen Bewegung und der bürgerlich-demokratischen Opposition unter Führung der vom Regime kriminalisierten CHP zu zerschlagen. Dennoch wissen wir immer noch nicht, welche demokratischen Rechte die Kurden nach der Auflösung der PKK genießen werden. Wahrscheinlich wird sich ein Parlamentsausschuss bilden, der die kommenden Maßnahmen festlegt. Diese sollten in einem ersten Schritt die Freilassung politischer Gefangener (mit Verbindungen zur kurdischen Bewegung), die Aufhebung der Bevormundung (Kayyum) der kurdischen Gemeinden und die Rückkehr der Bürgermeister in ihre Ämter, die Wiedereinstellung der „Akademiker für den Frieden“ an ihre Arbeitsplätze und die Möglichkeit für Öcalan, seine Bewegung frei zu führen, mit der Außenwelt zu kommunizieren, Besuche zu empfangen etc. umfassen.

Der kurdischen Bewegung zufolge sollten weitere, eher strukturelle Reformen folgen, die den Status ihrer nationalen Identität und Kultur innerhalb der türkischen Gesellschaft betreffen, was eine neue Verfassung voraussetzen würde. Erdoğan plant gerade, die Verfassung zu ändern, um bei den nächsten Wahlen erneut antreten zu können. Wird es eine Verfassung sein, die den Kurden Rechte garantiert und gleichzeitig den autokratischen Charakter des Regimes festigt? Diese Frage birgt Kontroversen, aber noch sind wir nicht soweit.

Ein weiteres Problem ist die Reihenfolge, in der die einzelnen Schritte erfolgen werden. Wird der Staat mit der Umsetzung der demokratischen Reformen warten, bis die Waffen vollständig niedergelegt sind, oder werden sich die beiden Prozesse überschneiden? Es scheint, dass Erdogan sich für die erste Möglichkeit entscheidet – die für die PKK kaum akzeptabel ist –, während Bahçeli in diesem Punkt realistischer zu sein scheint.

 Welche politische Entwicklung erlebt die Türkei seit der Bewegung gegen die Inhaftierung des Bürgermeisters von Istanbul, İmamoğlu?

Nach dem 19. März kam es zu einer sozialen Mobilisierung, wie wir sie seit langem nicht mehr erlebt haben. Millionen von Bürger:innen gingen auf die Straße, um die gewählten Bürgermeister, das Wahlrecht, die Demokratie und die Freiheit zu verteidigen. Obwohl die Bewegung äußerst heterogen war, konnte man vor allem bei der studentischen Jugend und den Schüler:innen eine deutliche Radikalisierung beobachten.

Wie so oft nach spontanen Explosionen verebbte die Bewegung nach einer gewissen Zeit. Eine gewisse Dynamik blieb jedoch dank der Boykottkampagnen gegen bestimmte kapitalistische Konzerne, die die AKP unterstützt hatten, eine Zeit lang erhalten. Da es jedoch keine beständigen Ausgangspunkte für soziale Kämpfe, Plattformen und Koordinationen gibt, die den Widerstand aufrecht erhalten könnten – abgesehen von den punktuellen Aufrufen der CHP zu Kundgebungen – muss man zugeben, dass die Bewegung heute auf der Straße an Elan verloren hat, auch wenn die Empörung nach wie vor vorhanden ist.

Doch das Regime setzt seine Repressionen gegen die CHP mit mehreren aufeinanderfolgenden Verhaftungswellen in verschiedenen Gemeinden Istanbuls fort. Elf Bürgermeister befinden sich derzeit in Haft und warten auf ein Gerichtsverfahren. Eine letzte „Anti-Korruptions“-Welle wurde gegen den ehemaligen CHP-Bürgermeister von İzmir und seine Mitarbeiter gestartet (insgesamt sind 160 Personen in Polizeigewahrsam). Heute ist der hundertste Tag der Verhaftung von İmamoğlu und die Anklageschrift ist immer noch nicht fertig. Dies zeigt deutlich, wie vollkommen willkürlich das Regime Erdoğans agiert. Darüber hinaus gibt es auch einen juristischen Versuch, die CHP zu spalten. Es wurde ein Verfahren wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten auf dem CHP-Kongress 2023 eröffnet, einem Kongress, auf dem Özgür Özel, der neue Parteivorsitzende, gewählt wurde – ein Führer, der seit der Verhaftung İmamoğlus eine für die CHP ungewöhnlich harte Oppositionspolitik betreibt.

Kemal Kılıçdaroğlu, der ehemalige Parteivorsitzende (und ehemalige Präsidentschaftskandidat, der 2023 gegen Erdoğan verlor), deutet jedoch in einer Art Racheakt an, dass er die Führung der Partei wieder übernehmen könnte, falls der Parteitag abgesagt werden sollte. Er behauptet auch, dass er die Mobilisierung nach dem 19. März für unnötig halte und dass dies eine Frage zwischen İmamoğlu und der Justiz sei. So besteht eine offensichtliche und öffentliche Spannung zwischen dem Team von Kılıçdaroğlu und dem von Özel und İmamoğlu. Inzwischen wurde der Prozess auf September vertagt.

 Wie ist der derzeitige Zustand der Arbeiterbewegung?

Die Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiterbewegung haben in dieser Protestbewegung praktisch keine Rolle gespielt. Die Arbeiterklasse fühlt sich von der Bewegung nicht repräsentiert. Ein erheblicher Teil ist immer noch empfänglich für Erdoğans Propaganda, obwohl sich die Kaufkraft seit mehreren Jahren dramatisch verschlechtert hat. Und bislang wurden nur sehr wenige Anstrengungen unternommen (insbesondere seitens der radikalen, antikapitalistischen, revolutionären Linken), um deutlich zu machen, dass die demokratische und die soziale Frage eng miteinander verbunden sind.

Die demokratischen Bestrebungen müssen mit der Klassenfrage verbunden werden. Der „proletarische Schock“ [zugunsten einer revolutionären Bewusstseinsbildung, AdÜ], von dem Ernst Bloch sprach, ist immer noch der große Abwesende im Kampf gegen das Regime. Dies ist die wichtigste, historisch entscheidendste und schwierigste strategische Aufgabe, vor der die revolutionäre Linke steht. Es geht darum, die kulturell-religiöse Spaltung, deren Aufrechterhaltung und Vertiefung die Hauptwaffe der AKP ist, zu durchbrechen und an ihre Stelle eine Klassenpolarisierung zu setzen.

Aber um auf die Schwäche der Gewerkschaften in der Bewegung zurückzukommen, dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst einmal ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Türkei mit nur etwa 15 % niedrig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieser Prozentsatz nur die „gemeldeten“ Arbeiter:innen umfasst, also nicht diejenigen, die schwarz arbeiten. Der tatsächliche gewerkschaftliche Organisationsgrad ist also noch niedriger.

Darüber hinaus sind die größten Gewerkschaftsverbände rechtskonservativ und nationalistisch. Einige von ihnen befinden sich voll und ganz im Fahrwasser der AKP. Von ihnen ist also kein Streik zu erwarten, vor allem nicht in der aktuellen politischen Situation. DİSK und KESK sind die am weitesten links stehenden Gewerkschaftsverbände. Aber hier wie auch anderswo sind die Verbindungen zwischen den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern nicht immer sehr eng, und es gibt ernsthafte Zweifel daran, dass sich die Arbeiter:innen massenhaft an diesen Streiks beteiligen würden. Zumal dies mit einem ernsthaften Risiko einhergehen könnte, den Arbeitsplatz zu verlieren, da Gesetze und sogar die Verfassung in diesem Land keine Bedeutung mehr haben. Seit mehreren Jahren wird jeder Streik verboten („aufgeschoben“), da er die nationale Sicherheit gefährden würde.

Dennoch gab es im Juni 2025 einen Streik von 23 000 Beschäftigten der Stadtverwaltung von Izmir mit der völlig berechtigten zentralen Forderung nach Lohnerhöhungen und gleichem Lohn wie die Kollegen, die die gleiche Arbeit machen. Der Streik wurde von der mit dem DİSK verbundenen Gewerkschaft Genel-İş angeführt, die vor allem in den CHP-Rathausverwaltungen organisiert ist und sich mit diesen extrem gut versteht. Der Streik dauerte nur eine knappe Woche und die Beschäftigten erreichten dabei bedeutende Zugeständnisse. [4] Aber die Basis der CHP und die besser gestellten Angestellten reagierten sehr negativ auf diesen Streik: „Ihr spielt der AKP in die Hände, indem ihr unsere Rathäuser schwächt“, „Warum fordern die Müllmänner das gleiche Gehalt wie die Ärzte?“. Diese Reaktion hat uns einmal mehr gezeigt, wie sehr Solidarität und Klassenbewusstsein immer wieder neu aufgebaut werden müssen, selbst (und vielleicht vor allem) in Zeiten der Mobilisierung gegen ein diktatorisches Regime.

 Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung angesichts der von Israel geführten Kriege?

Der Antizionismus wird ganz offensichtlich von der Bevölkerung fast einhellig geteilt. Es gibt jedoch einige Probleme beim Aufbau einer einheitlichen Bewegung zur Unterstützung Palästinas und gegen die israelische Offensive gegenüber dem Iran. Das islamistische und nationalistische Regime von Erdoğan nimmt natürlich eine antiisraelische Haltung ein und veranstaltet große Solidaritätskundgebungen mit Palästina. Aber der Handel mit Israel und die finanziellen und militärischen Beziehungen zu Tel Aviv gehen nachweislich weiter! Vor kurzem kündigte Selçuk Bayraktar, Erdoğans Schwiegersohn und Hersteller der berühmten türkischen Drohnen, die Gründung eines Joint Ventures mit Leonardo an, einem italienischen Unternehmen, das wegen seiner Waffenverkäufe an Israel kritisiert wird und gegen das in mehreren Städten der Welt demonstriert wird. Zudem ist das Radarsystem von Kürecik auf dem NATO-Militärstützpunkt in der Provinz Malatya direkt in das israelische Verteidigungsnetz integriert. Erdoğans Antizionismus ist also mehr Rhetorik als konkretes Handeln.

Ein weiteres Problem liegt darin, dass die kurdische Bewegung nur sehr selten zur palästinensischen Frage mobilisiert. Die Beziehungen zwischen der kurdischen Bewegung und dem palästinensischen Widerstand – sei es zwischen Öcalan und Arafat, der PKK und der PLO oder der Hamas – sind seit den 1990er Jahren von Spannungen und Meinungsverschiedenheiten geprägt. In jüngerer Zeit hatte Cemil Bayık, einer der PKK-Führer, die Methoden der Hamas bei der Operation Flood of al-Aqsa am 7.10.2023 kritisiert und erklärt, dass das palästinensische und das jüdische Volk Wege finden müssten, um in Eintracht zu leben. Ein eher konjunktureller Grund liegt jedoch zweifellos in der Unterstützung Washingtons und Tel Avivs für die YPG (die Teil der SDF ist), die als Verbündeter in Syrien wahrgenommen wird. Öcalan hatte diese Situation übrigens scharf kritisiert. Bei seinem Treffen mit der DEM-Delegation am 21. April 2025 hatte er in Bezug auf die SDF behauptet, dass „Israel seine eigene Haschd al-Schaabi“ (pro-iranische Milizen, die im Irak operieren) gebildet habe.

      
Mehr dazu
Peter Nowak: Kurd:innen in Deutschland bleiben verfolgt, Sozialistische Zeitung (01.07.2025)
Uraz Aydın: Entmilitarisierung der kurdischen Frage: Eine Chance für Frieden und Demokratie?, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025) (nur online). Auch bei intersoz.org.
Mireille Court: Auflösung der PKK und neue Perspektiven, intersoz.org (26.05.2025)
Uraz Aydın: Die Türkei und die kurdische Frage, die internationale Nr. 2/2025 (März/April 2025).
Interview mit Berivan Firat: Kurden als Manövrier­masse, die internationale Nr. 2/2025 (März/April 2025).
Alex de Jong: Von der stalinistischen Raupe zum libertären Schmetterling?, Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015).
 
 Kann es trotz der Manöver Erdoğans wieder zu einer Annäherung zwischen der kurdischen Bewegung und der Opposition kommen?

Diese Annäherung zwischen der kurdischen Bewegung und der säkularen bürgerlichen Opposition hat notabene vor allem für die Wahlen funktioniert. Diese beiden Oppositionskräfte brauchten einander, um gegen die Vertreter des Regimes zu gewinnen, sowohl auf kommunaler Ebene als auch bei den Präsidentschaftswahlen. Letztendlich reichte dies nicht aus, um Erdoğan im Jahr 2023 zu stürzen. Es ist sehr schwer, vorherzusagen, wie sich die Kräfteverhältnisse und die Positionen der einzelnen Akteure bis zu den nächsten Wahlen, die für 2028 angesetzt sind, aber höchstwahrscheinlich schon früher stattfinden werden, entwickeln werden. Wird der Friedensprozess bei all der Instabilität und der laufenden und drohenden Kriege im Nahen Osten fortbestehen? Wie wird die CHP aus diesem immensen Kriminalisierungsversuch hervorgehen? Wird Ekrem İmamoğlu frei und vor allem wählbar sein, um die Opposition gegen Erdoğan zusammenschweißen zu können?

Das Wichtigste aber ist, Strukturen aufzubauen, die in der Lage sind, die Kontinuität der Kämpfe gegen das Regime in verschiedenen Bereichen zu gewährleisten. Ganz gleich ob es um den Kampf gegen die Öffnung der Olivenanbaugebiete für den Bergbau geht, die Frauenbewegung, die Wohnungskrise – die zu einem großen Problem geworden ist –, die LGBTI-Bewegung oder die Mobilisierung der Eltern gegen die Kommerzialisierung und Islamisierung des Bildungswesens – das grundlegende Ziel für die revolutionäre Linke muss darin bestehen, in all diesen Bereichen Strukturen, Koordinationen und Komitees zu aufzubauen, um auf die nächsten sozialen und/oder demokratischen Massenmobilisierungen vorbereitet zu sein und zu verhindern, dass diese Dynamik innerhalb weniger Wochen verpufft.

Juli 2025
Quelle: Turquie : Du mouvement kurde aux mobilisations de masse, Inprecor, Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2025 (September/Oktober 2025). Auch bei intersoz.org. | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Der Militärputsch vom 12. März 1971 erfolgte in Form eines Memorandums „nach türkischer Art“, bei dem die Armee zwar nicht direkt die Macht übernahm, aber unter dem Vorwand, die Ordnung wiederherzustellen, eine autoritäre Regierung durchsetzte. Diese Intervention zielte darauf ab, die aufstrebende Arbeiter- und Studentenbewegung zu zerschlagen, und unterzog die revolutionäre Linke einer brutalen Repression. Mit dem Amtsantritt von Bülent Ecevit im Jahr 1973 wurde jedoch eine Amnestie verkündet, die zur Freilassung zahlreicher linker Aktivist:innen führte, die nach dem Putsch inhaftiert worden waren.

[2] Unsere Strömung bezeichnet als Etappentheorie, dass die Revolution in abhängigen oder feudalen Ländern in zwei Schritten erfolgen soll: zuerst als nationale oder bürgerliche Revolution, die einen demokratischen und vom Imperialismus unabhängigen Kapitalismus bilden würde, und in einem zweiten Schritt als soziale Revolution. Dieser Auffassung stellen wir die Theorie der permanenten Revolution gegenüber, die besagt, dass die beiden Etappen miteinander vermengt werden müssen, um zum Erfolg zu führen.

[3] Am 12. September 80 übernahm das Militär unter Verweis auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten nationalistischen politischen Gruppen die Macht. Dieser Staatsstreich zerstörte die Errungenschaften der Arbeiter- und Volkskämpfe, errichtete eine blutige Militärdiktatur und legte den Grundstein für den autoritären Neoliberalismus in der Türkei.

[4] Eine rückwirkende Erhöhung um 30 % für die ersten 6 Monate des Jahres und eine Erhöhung um 19 % ab Juli. Die Inflationsrate liegt in der Türkei offiziell bei über 35 %.