Die neue Regierung in Syrien scheint das Wohlwollen der westlichen Staaten gewonnen zu haben. Die Lage der Kurden bleibt hingegen kompliziert. Berivan Firat vom CDK-F (Kurdischer Demokratischer Rat in Frankreich) erläutert in diesem Interview, das Fabienne Dolet am 4. Januar 2025 mit ihr führte, ihre Sicht auf die jüngsten Entwicklungen.
Interview mit Berivan Firat
Welche Auswirkungen hat die neue Situation in Syrien auf den kurdischen Widerstand? |
Es kursieren widersprüchliche Informationen insbesondere um die Tischrin-Talsperre, deren Brücke das westliche und östliche Ufer des Euphrats verbindet. Wenn sie eingenommen wird, entfällt ihre Bedeutung und beide Seiten des Euphrats werden besetzt. Wenn also die Türkei und die SNA (Syrische Nationale Armee) diese Talsperre erobern, hätten sie zugleich die Kontrolle über die internationale Verbindungsstraße zwischen dem Irak und Syrien. Bei einer Besetzung wäre Kobane von Raqqa bis Dschizir (kurd. Cizîrê) eingekesselt und bedroht. Das wäre wirklich eine Katastrophe für uns Kurden. Seit nunmehr über zehn Tagen gibt es ständige Angriffe der Türkei, die von türkischen Drohnen unterstützt werden. Und trotzdem geht der Widerstand weiter. Die Türkei hat eine enorme Klatsche kassiert. Mehr als 100 Dschihadisten sind bei den Auseinandersetzungen ums Leben gekommen und ihre Leichen wurden zurückgelassen.
![]() YPG/YPJ-Kämpfer*innen (2015), Quelle: BijiKurdistan |
Die Kurden, die SDF (Syrian Democratic Forces), haben entgegen allen Erwartungen erfolgreich Widerstand geleistet. Jeder dachte, dass der kurdische Widerstand innerhalb von ein oder zwei Tagen zusammenbrechen würde. Die Angriffe haben nicht aufgehört, also geht der Widerstand weiter. Im Moment haben die Kurden trotz der Luftüberlegenheit der Türkei die Oberhand. Die Türkei bombardiert seit Jahren, weniger Kobane als andere Orte, aber das gilt der Infrastruktur, den Zivilisten und all dem. Und das alles unter dem Schweigen aller Beteiligten. Kobane wurde mehrfach mit Drohnen angegriffen, die gezielt Bomben abwerfen und Opfer fordern. Daneben gab es gezielte Anschläge.
Es herrschte eine politische Doppelzüngigkeit. Als die Türkei bombardierte und die Kurden massakrierte, bestand die einzige Reaktion darin, Besorgnis und Beunruhigung zu äußern. Die Türkei ist weiterhin ein wichtiger Verbündeter des Westens, obwohl sie die Terroristen, den internationalen Terrorismus, vertritt. Das kann man so sagen, jetzt, da man die Terroristen, die Kopfabschneider, rehabilitiert hat.
Du meinst die neuen Machthaber in Syrien, die Baschar Al-Assad vertrieben haben? |
Man hat sie in einen Anzug gesteckt und den Bart gestutzt, und über Nacht wurden sie zu Ministern und zu Vertretern der Armee. Unter ihnen ist zum Beispiel derjenige, der Hevrin Khalaf, die Generalsekretärin der syrischen Zukunftspartei, eine junge kurdische Frau, auf offener Straße getötet, verstümmelt und vergewaltigt hat. Heute tritt er ohne jede Scheu als einer der Vertreter der neuen Übergangsregierung Syriens auf. Auch Al-Dschulani hat Dutzende von Morden, Dutzende von Enthauptungen begangen. Das stört im Westen niemanden.
Während der Westen die PKK immer noch als Terroristen betrachtet … |
Eine Organisation wie die PKK, die ihre Aktionen nie direkt gegen Zivilisten gerichtet hat, die mit einer regulären Armee kämpft und für ihre Rechte, für die Rechte des kurdischen Volkes kämpft, wird hingegen immer noch als terroristisch angesehen. Am tragischsten oder tragikomischsten ist, dass diese Personen, die an die Spitze der syrischen Übergangsregierung installiert wurden, größtenteils keine Syrer waren. Über Nacht wurden sie eingebürgert, um im Land bleiben zu können. Es sind Usbeken, es sind Uiguren, es sind Franzosen, Menschen jeglicher Herkunft, die jahrzehntelang Menschen massakriert und jesidische Frauen verschleppt haben.
Der französische Außenminister wurde bei seinem Staatsbesuch von Al-Dschulani mit den Fingerspitzen begrüßt, während der deutschen Außenministerin der Handschlag verweigert wurde. Trotz dieser offenen Brüskierung opfert der Westen Dutzende von Volksgruppen und Glaubensrichtungen und verurteilt sie dazu, unter traumatischen Bedingungen zu leben, in der Angst, jeden Moment enthauptet, vergewaltigt oder entführt zu werden. All das angeblich, um einen Flüchtlingsstrom zu verhindern und die Stabilität Syriens zu sichern, vor allem aber, um eine Front gegen den Iran aufzubauen.
Es ist der Westen, der einerseits der ganzen Welt Moralpredigten hält und andererseits diese Leute aufgewertet und rehabilitiert hat. Während die Kurden, die lange Zeit als Kämpfer für die Zukunft der Menschheit galten (vor allem, weil sie für die Interessen des Westens in den Tod gegangen sind), immer noch verleugnet werden. Der belgische Kassationshof, und damit das oberste Gericht hat, wenn ich mich nicht irre, entschieden, dass die PKK keine Terrororganisation ist, sondern eine bewaffnete Bewegung, die aus einem internen Konflikt, insbesondere mit der Türkei, entstanden ist. Dennoch werden die PKK-Mitglieder, die gegen die Dschihadisten gekämpft haben und dort ihr Leben gelassen haben (darunter mein Sohn), aufgefordert, Syrien zu verlassen, da sie nicht die syrische Staatsangehörigkeit besitzen und keine syrischen Staatsbürger sind.
Die Dschihadisten hingegen hat man von einem Tag auf den anderen eingebürgert. Uns aber verbietet man, auf unserem Land zu bleiben, da für uns Kurden die Grenzen auf dem kurdischen Gebiet nie akzeptiert wurden. Ob Rojava auf syrischer Seite, Rojhelat auf iranischer Seite, Basur auf irakischer Seite oder Bakur auf türkischer Seite [ob im Westen, Osten, Süden oder Norden], es ist kurdisches Gebiet, durch das die Grenzen willkürlich gezogen wurden.
Für uns ist diese neue syrische Regierung keine gute Nachricht …
Man sieht, wie lächerlich die Realpolitik wird, wenn es um politische und wirtschaftliche Interessen geht, wie die neue Seidenstraße, die man in Syrien bauen will. Es geht nicht um den Schutz der Völker, es geht nicht um die Stabilität Syriens, es geht nicht um die Zukunft der Kurden. Jeder ist bloß auf seine Interessen bedacht.
Der Westen betreibt auch weiterhin eine doppelzüngige Politik gegenüber den Kurden. Man wollte uns eine Kapitulation aufzwingen, d. h. wir sollten die Waffen auf die eine oder andere Weise abgeben, aber wir behalten sie. Die SDF setzen ihren Widerstand fort und führen weiter Gespräche mit diesen Individuen, die die Vertreter Syriens sind. Für uns wird der Widerstand auch in Zukunft weitergehen, denn es gibt keine Alternative. Es geht darum, ob wir auf unseren Knien sterben oder aufrecht für unseren Sieg.
[…] Mehr denn je brauchen wir die internationale solidarische Unterstützung, um das Schicksal der Drusen, Alewiten, Kurden und anderer unterdrückter Minderheiten in Syrien sichtbar zu machen.
Aus: l’anticapitaliste vom 9. Januar 2025 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2025 (März/April 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz