Nach dem überwältigenden Wahlsieg der HDP in den ostanatolischen Teilen der Türkei, also den kurdischen und nördlichen Provinzen im Grenzgebiet zu Iran und Armenien, am 7. Juni drängen sich Fragen nach Charakter, Kontinuität und Wandel des ideologischen Gepäcks der PKK geradezu auf.
Alex de Jong
Die Belagerung Kobanês durch den Islamischen Staat (IS) bescherte der syrisch-kurdischen PYD (Partiya Yekîtiya Demokrat, Demokratische Unions Partei), der führenden Kraft in den drei Enklaven oder Kantonen mit kurdischer Mehrheit im Norden Syriens, weltweite Aufmerksamkeit. Im November 2013 rief sie in diesen Kantonen die Übergangsregierung von „Rojava“ aus.
Die PYD sagt, ihr Ziel sei der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft mit gleichen Rechten für Frauen, in der die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen zusammenleben. Ideologische Inspiration für dieses Projekt sind die Ideen der Kurdischen Arbeiterpartei (Partiya Karkerên Kurdistan, PKK) und ihres Führers Abdullah Öcalan. Die PYD bestreitet, dass sie organisatorische Verbindungen zur türkisch-kurdischen PKK hat, aber sie wurde von syrischen PKK-Mitgliedern gegründet und behauptet, der gleichen Ideologie anzuhängen, wie die gegenwärtige PKK. Dieser Artikel untersucht zentrale Aspekte dieser Ideologie und ihrer Wandlung.
Die Wurzeln der kurdischen Befreiungsbewegung finden sich in der Radikalisierung der 60er-Jahre. Nach einem Militärputsch „fortschrittlicher kemalistischer“ Offiziere kam es zu einer Anzahl fortschrittlicher Maßnahmen. Gewerkschafter und fortschrittliche Intellektuelle organisierten die „Türkische Arbeiterpartei“ (Türkiye Işçi Partisi, TIP). Diese Partei vertrat wieder sozialistische Ideen, die der kemalistische Staat zum Tabu gemacht oder sogar verboten hatte.
Die TIP hatte relativ starke Unterstützung unter den türkischen Kurden. Die kurdischen Provinzen der Türkei waren immer ihre ärmsten Teile. Die rassistische staatliche Politik diskriminierte die Kurden; der Gebrauch der kurdischen Sprache war ein Verbrechen; der Gebrauch der Buchstaben x, q und w – sie existieren im kurdischen aber nicht im türkischen Alphabet – konnte verfolgt werden; Publikationen, in denen auch nur das Wort „Kurde“ vorkam, wurden verboten. Der türkische Staat versuchte, die kurdische Minderheit zu assimilieren. In den späten 60ern begann eine Anzahl kurdischer Mitglieder der TIP, die spezifischen Probleme der kurdischen Bevölkerung des Landes zu diskutieren.
Gleichzeitig kam es in der Türkei zum Wachstum einer neuen militanten Linken. 1965 wurde die Föderation der Revolutionären Jugend der Türkei (Türkiye Devrimci Gençlik Dernekleri Federasyonu, kurz Dev-Genç) gegründet. Mitglieder von Dev-Genç organisierten Universitätsbesetzungen, protestierten gegen die Anwesenheit von US-Truppen, organisierten Solidarität mit ArbeiterInnen und bekämpften Faschisten auf dem Campus und in den Straßen. Auch Teile der Arbeiterbewegung radikalisierten sich. Aus diesem Ferment entstanden in den frühen 70ern die ersten bewaffneten Gruppen.
Abdullah Öcalan begann sein politisches Leben in diesen radikal-linken Zirkeln. 1949 wurde er als Sohn einer armen Bauernfamilie geboren und wuchs in einer konservativen Umgebung auf. 1966 ging er zum Studium nach Ankara. Kurz vor Abschluss seines Studiums begann Öcalan, sich für Politik zu interessieren. Er besuchte politische Versammlungen und beteiligte sich an Protesten. 1971 gab es erneut einen Militärputsch; dieses Mal, um die radikale Bewegung zu zerschlagen. Die TIP wurde verboten und viele Aktivisten flohen aus dem Land. 1972 wurde Öcalan während eines Protestes verhaftet und zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Dort befand er sich in der Gesellschaft erfahrener Radikaler. Seine Verhaftung und die politischen Diskussionen im Gefängnis radikalisierten ihn weiter und er entschied sich, sich ganz der Politik zu widmen.
Öcalan fühlte sich jedoch in keiner der existierenden Gruppen heimisch, weder in den türkischen noch in den kurdischen. Die türkische radikale Linke, die mehr oder weniger vom kemalistischen Nationalismus und der Theorie der Revolution in Etappen beeinflusst war, vernachlässigte oft die Unterdrückung der Kurden oder bestritt sogar, dass das ein Problem sei. Oft inspiriert von der kubanischen Revolution und dem Maoismus, sahen viele die Türkei als „Neo-Kolonie“ der USA und setzten sich eine „national-demokratische Revolution“ als Ziel. Durch sie sollte die Beherrschung des Landes durch den Imperialismus gebrochen, es zu wirklicher nationaler Unabhängigkeit geführt und der Weg für eine zweite sozialistische Etappe der Revolution geebnet werden. Selbst wenn sie die spezifische Unterdrückung der Kurden anerkannten, dachten viele türkische Linke, dass man sich damit erst nach einer solchen national-demokratischen Revolution beschäftigen könnte. Und 1975 erlitt die traditionelle nationalistische kurdische Bewegung einen heftigen Rückschlag durch die Niederlage des Guerilla-Krieges im Irak, der von Mollah Mustafa Barzani, dem Vater des gegenwärtigen Präsidenten des irakischen Kurdengebiets, angeführt worden war.
Öcalan zog die Schlussfolgerung, dass weder die türkische Linke noch die traditionellen Nationalisten wie Barzani Vorkämpfer der Kurden sein könnten. Öcalan gründete seine eigene Gruppe, die die Auffassung des türkischen Soziologen Ismail Beşikçi übernahm, dass „Kurdistan“ eine internationale Kolonie wäre, besetzt von der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien. Ab 1975 agitierte die Gruppe als Revolutionäre Kurdistans (Şoreşgerên Kurdistan, ŞK). Ihre wichtigsten Mitglieder waren Öcalan oft ähnlich: Kurden mit einem armen, ländlichen Hintergrund, die sich als Studenten radikalisiert hatten.
Anders als andere linke Gruppen verwendeten die ŞK keine Ressourcen für Publikationen. Sie rekrutierten vielmehr durch Einzelgespräche. Die Rekrutierungen konzentrierten sich auf arme, oft analphabetische Kurden mit ländlichem Hintergrund, die arbeitssuchend in die Städte gekommen waren. Nach einigen Jahren hatten die ŞK bescheidene Unterstützung in einigen der größeren Städte der kurdischen Region gewonnen. 1977 wurde die Gruppe als PKK reorganisiert und verabschiedete ein Manifest und ein Programm.
Diese Dokumente ähnelten stark den Stellungnahmen anderer „marxistisch-leninistischer“ nationaler Befreiungsbewegung dieser Zeit. Sie erklärten, dass das unmittelbare Ziel der PKK eine „national-demokratische“ Revolution zur Schaffung eines „unabhängigen und demokratischen Kurdistans“ sei. Der Kampf nimmt die Form eines „Volkskriegs“, gestützt auf die bäuerliche Bevölkerung, an. Die führende Rolle hat die „Arbeiterklasse“, geführt von der PKK. Bündnispartner dieser Revolution sind die „sozialistischen Länder“, Arbeiterparteien der kapitalistischen Länder und „die Befreiungsbewegungen der unterdrückten Völker der Welt“. Seine Feinde sind der türkische Staat, „die einheimischen feudalen Kollaborateure“ und „die imperialistischen Mächte hinter ihnen“. Nach der national-demokratischen Revolution wird der Kampf mit dem Ziel einer sozialistischen Revolution fortgeführt werden. [1] Das Programm war stark von maoistischen Ideen beeinflusst, die Sowjet-Union aber nicht als „sozial-imperialistisch“ charakterisiert. Die herrschenden Parteien sowohl der Sowjet-Union als auch Chinas wurden wegen „revisionistischer“ Politik kritisiert.
Es gab andere Gruppen mit ähnlicher Ausrichtung. Die PKK war außergewöhnlich, da sie die Organisierung des bewaffneten Kampfes zur unmittelbaren Aufgabe machte, ohne eine vorgeschaltete Phase des Aufbaus politischer Unterstützung für ihn. Auch die Klassenzusammensetzung der PKK war verschieden. Laut dem Kurdistanexperten Martin van Bruinessen, war die PKK „die einzige Organisation, deren Mitglieder fast ausschließlich aus den untersten sozialen Klassen kamen – entwurzelte, halb-gebildete Jugendliche aus Dörfern und Kleinstädten, die wussten, wie es sich anfühlte, unterdrückt zu sein und die Aktion statt hoch entwickelter Ideologie wollten“. [2]
Zuerst begann die PKK gegen die traditionelle kurdische Elite, die Aghas, „feudale“ Großgrundbesitzer, vorzugehen. Die PKK kämpfte an der Seite rebellierender Bauern und verlor dutzende von Mitgliedern bei Zusammenstößen mit den Milizen der Großgrundbesitzer. Bei der Bestimmung ihrer Ziele ließ sich die PKK nicht von sozialem Antagonismus leiten, sondern von der Politik der Aghas: unterstützten sie die nationale Bewegung oder nicht. Zur gleichen Zeit bekämpften sich linke türkische und kurdische Gruppen untereinander. Bei solchen Kämpfen wurden Dutzende getötet. Die PKK war sowohl Initiator als auch Opfer solcher Gewalt.
Als die Armee 1980 wieder putschte, war die PKK die stärkste kurdische Partei in der Türkei. Nach dem Putsch wurden Zehntausende verhaftet. Die türkische Linke war großen Teils nicht in der Lage, der Repression zu widerstehen. Unter den politischen Gefangenen befanden sich Tausende von PKK-Mitgliedern und UnterstützerInnen. Viele von ihnen setzten den Kampf im Gefängnis fort, machten „Hungerstreiks bis zum Tod“ oder begingen Selbstmord. Solche Opfer festigten die Reputation der PKK-Mitglieder als unbeugsame RevolutionärInnen.
Öcalan selbst entkam der Repression; kurz vor dem Putsch war er in den Libanon gegangen. Hier kam er in Kontakt mit der Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas und anderen palästinensischen Gruppen. Die Palästinenser boten den Kurden wertvolles militärisches und organisatorisches Training und die PKK kämpfte mit ihnen gegen die israelische Armee, als diese 1982 in den Libanon einfiel. Zwischenzeitlich hatte Öcalan Kontakt mit dem syrischen Regime aufgenommen. Der PKK wurde gestattet, sich in Syrien zu stationieren. 1982 hatte die PKK mit der bedeutendsten kurdischen Rebellengruppe im Irak, Barzanis KDP, ein Abkommen geschlossen, das es der PKK erlaubte, in der Nähe der irakisch-türkischen Grenze Lager einzurichten. Ihre erste große militärische Aktion fand 1984 statt, als sie mehrere Kasernen angriff und zeitweise einige Dörfer kontrollierte.
Die Revolutionstheorie der PKK war zu dieser Zeit stark von der maoistischen Strategie des „langandauernden Volkskriegs“ beeinflusst. In dieser Strategie ist der bewaffnete Kampf das zentrale Mittel zur Eroberung der Macht. Der bewaffnete Kampf findet auf dem Land statt und die Mehrheit der Kämpfer rekrutiert sich aus der Bauernschaft. Der Kampf wird von der Partei geführt, die angeblich die „proletarische“ Führung repräsentiert und den Sozialismus als Ziel im Auge behalten soll, auch wenn das unmittelbare Ziel der Strategie eine „national-demokratische“ Etappe ist.
YPG und YPJ in Nord-Syrien Quelle: Flickr |
Zwei Dinge unterschieden die frühe PKK von ähnlich denkenden Bewegungen: die Einschätzung der Geschichte der Kommunistischen Internationale und die Beziehung zwischen Partei und Guerilla-Armee. Die PKK übte heftige Kritik an der kritischen Unterstützung des Kemalismus durch die Sowjet-Union und die Komintern der frühen 20er-Jahre. In ihren Stellungnahmen warf die PKK der frühen TKP und der Komintern vor, Illusionen in das demokratische Potential des Kemalismus gehabt zu haben und sie hielt der Komintern Unkenntnis der lokalen Situation vor. Die Sowjetführung wurde beschuldigt, die nationale Sicherheit der Sowjet-Union über internationalistische und anti-imperialistische Prinzipien gestellt zu haben.
Die PKK war eine „Guerilla-Partei“. Ein weiteres Element, das sie von anderen Gruppen unterschied. Anstatt dem maoistischen Modell zu folgen, das eine klare Trennung zwischen der Armee und der Partei, die sie führt, vorsieht, waren die beiden Organisationen vermischt. Von Kadern, die keinerlei militärische Verantwortlichkeiten hatten, wurde erwartet, dass sie bereit waren, sich jederzeit den Guerillas anzuschließen. PKK-Führer Duran Kalkan bemerkte dazu: „Ein solcher Guerilla vollzieht in ideologischem Sinne einen totalen Bruch mit der herrschenden Ordnung, er bricht gewissermaßen mit dem hierarchischen System des Staates und der Macht. Daher gab es auf dem 3. Kongresse eine ernsthafte ideologische Erneuerung des Sozialismusverständnisses, die realsozialistische Linie der individuellen, familiären, kleinbürgerlichen Gleichberechtigung und Freiheit wurde überwunden.“ [3]
Kalkan weist auf ein höchst charakteristisches Element der PKK hin: ihre Ambition, einen „Neuen Menschen“ zu schaffen, der eine bestimmte Persönlichkeit hat. Das Thema der kurdischen „Persönlichkeit“ taucht in Öcalans Schriften aus den frühen 80er-Jahren auf und hat nach wie vor einen zentralen Platz. Laut Öcalan gibt es eine metaphysische „kurdische Mentalität“, eine bestimmte „Beschaffenheit der kurdischen Psyche“. Öcalan behauptet, dass „viele der Qualitäten und Charakteristika, die den Kurden und ihrer Gesellschaft heute zugeschrieben werden, bereits in den neolithischen Gemeinschaften diesseits des Kaukasus – in dem Gebiet, das wir heute Kurdistan nennen – zu beobachten waren“. [4] Allerdings wurden die Kurden ihrer „wahren“ Identität durch die Assimilierungsversuche des türkischen Staates und durch traditionelle soziale Strukturen, die Öcalan „Feudalismus“ nennt, entfremdet.
Das Ziel der PKK war eine komplette Reorganisation der kurdischen Gesellschaft zur erneuten Schaffung einer „reinen“ kurdischen Identität. Von den PKK-Mitgliedern wurde erwartet, sich durch Kritik, Selbstkritik und harte Arbeit von ihren Ansichten und Verhaltensweisen, die sie in ihrem „alten Leben“ erlernt hatten, zu befreien und sich in „neue Menschen“ zu verwandeln. Die Parteizeitung Serxwebun beschrieb das Ziel wie folgt: „Der neue Mensch trinkt nicht, geht nicht dem Glückspiel nach, denkt niemals an seine eigenen persönlichen Vergnügungen oder seine Bequemlichkeit. An ihm ist nichts Weibisches. Diejenigen, die sich früher solchen Aktivitäten hingaben, werden solche Gewohnheiten wie mit einem scharfen Messer entfernen, sobald er oder sie sich in der Gemeinschaft der neuen Menschen befinden. Die Philosophie und Moral des neuen Menschen, die Art, wie er sitzt und steht, sein Stil, sein Ego, seine Einstellung und seine Reaktionen (tepki) gehören ihm und ihm allein. Die Basis all dieser Dinge ist seine Liebe zu Revolution, Freiheit, Land und Sozialismus; eine Liebe die so fest wie ein Fels ist. Die Anwendung des wissenschaftlichen Sozialismus auf die Realität unseres Landes schafft den neuen Menschen.“ [5] Begriffe wie „Humanisierung“, „Sozialisierung“ und „befreite Persönlichkeit“ ersetzten die marxistischen Auffassungen von Klassen und Klassenkampf.
Das Thema der Schaffung des „neuen Menschen“ wurde im Programm von 1995 Teil der Partei-Ideologie. Das Ziel war „eine Persönlichkeit, die mit großer Voraussicht, großem Verständnis, mit großer Anstrengung und Entschlossenheit jede Schwierigkeit zu überwinden versucht und Negatives in Positives verwandelt; eine Persönlichkeit, die unter allen Bedingungen mit ihrer starken Willenskraft Faszination ausübt und die für den Entwicklungskampf der Menschheit, ohne persönlichen Vorteil für sich zu wollen, sogar ihr Leben hingibt“. [6]
Die Schaffung des neuen Menschen spielte eine zentrale Rolle bei der Kritik, die die PKK am „real existierenden Sozialismus“ übte und bei der neuen Sozialismusversion, die sie zu formulieren versuchte. Das Programm von 1995 bezeichnete den „real existierenden Sozialismus“ als „die niedrigste und brutalste Stufe des Sozialismus“. Anknüpfend an ihre Kritik der Komintern und der frühen Sowjet-Union, wurde der „real-existierende Sozialismus“ wegen des Fehlens von Demokratie, des Vorrangs von Staatsinteressen vor denen der Bevölkerung, wegen des Bürokratismus und des Dogmatismus kritisiert. Nach Ansicht der PKK könnten diese Mängel durch die Schaffung des neuen Menschen vermieden werden.
Die PKK betonte ihre Differenzen mit dem „real existierenden Sozialismus“, während sie dabei war, ihre eigene unverkennbare Ideologie zu formulieren. 1993 betonte Öcalan, dass die PKK sich mit dem Begriff „wissenschaftlicher Sozialismus“ nicht auf den Marxismus bezog, sondern auf ihre eigene, besondere Ideologie „eines über den Interessen des Staates, der Nation und der Klassen stehenden Sozialismus“. [7] Die PKK behauptete jetzt, eine neue Konzeption des Sozialismus zu haben, bei dem die Menschheit als Ganzes zentral ist. Die Behauptung, für die „ganze Menschheit“ zu kämpfen, ist ein oft verwendeter Ausdruck in Stellungnahmen von PKK und PYD.
Bei diesem „Sozialismus“ ging es nicht um einen Weg zur Organisierung der Gesellschaft „zu einer Assoziation freier menschlicher Wesen, die mit gemeinsamen Produktionsmitteln arbeiten“, wie es Marx formulierte, sondern um die Schaffung bestimmter Persönlichkeiten. Daher konnte der PKK-Ideologe Mehmet Can Yüce, ansonsten ein rigider „Marxist-Leninist“, in einem Text aus dieser Periode über „den in der Partei realisierten Sozialismus“ [8] schreiben, so wie es das Programm von 1995 auch tat [9]. Yüce schreibt: „bevor der Sozialismus nicht in der Persönlichkeit des Individuums, in den Beziehungen innerhalb der Organisation vorherrscht, kann er nicht in der Gesellschaft bzw. im gesellschaftlichen System entstehen“. [10]
In der zweiten Hälfte der 80er erwähnte die PKK immer weniger das Ziel eines „unabhängigen und vereinten Kurdistans“ und sprach stattdessen über ein „Freies Kurdistan“; eine Formulierung, die bezüglich des Zieles mehrdeutig ist. Begriffe wie „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ wurden immer häufiger in Bezug auf individuelle, „spirituelle“ Ziele verwendet. Öcalan behauptete 1999 in seiner Stellungnahme vor Gericht, dass er schon vor seiner Inhaftierung, Begriffe wie „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ hauptsächlich in Bezug auf Individuen und nicht Völker gebraucht hätte. Er behauptete sogar, dass die PKK niemals für Abtrennung war, was früheren Dokumenten widerspricht.
In den 80er-Jahren konsolidierte Öcalan seine Kontrolle über die Bewegung. Offiziell der Vorsitzende der Partei wurde Serok Apo (Führer Apo, eine Kurzform von Abdullah und im Kurdischen Onkel) nicht nur der politische Führer, sondern auch Militärkommandeur, „Philosoph“ der Bewegung und einem Propheten ähnlich. 1992 erklärte Öcalan: „Eine Person repräsentiert den neuen aufrechten Gang, praktisch die Wiederauferstehung einer Nation. Meine Rolle ist in der Tat die eines Propheten, der zu einem geknechteten, gnadenlos unterdrückten Volk spricht. Unsere Freiheit müssen wir uns selbst erkämpfen. Ich symbolisiere diesen Kampf.“ [11] Die ideologischen Publikationen der PKK bestehen fast ausschließlich aus Texten von Öcalan. Öcalan hielt ohne Notizen stundenlange Reden, die aus Mitschriften als Bücher veröffentlicht wurden.
Von allen Mitgliedern wurde erwartet, dass sie der Partei vollkommen ergeben waren. Das bedeutete im Umkehrschluss vollkommene Ergebenheit gegenüber Abdullah Öcalan. Öcalan wurde als Önderlik (Führer), „Wegweiser“ und sogar als „Sonne“ bezeichnet. In einem wohlwollenden Bericht über ihre Zeit in der PKK-Guerilla schrieb die deutsche Internationalistin Anja Flach: „Laut Statut ist die Parteiführung [Öcalan] eine Institution, er steht weniger für die Partei, als dass er vielmehr die Partei ist.“ [12] Öcalan war mehr als ein herausragender, selbst unverzichtbarer Führer, er selbst, seine Person wurde als unverzichtbar für die Befreiung des kurdischen Volkes aufgebaut. [13] Das erklärt, warum Öcalan sogar nach seiner Verhaftung der Führer der Bewegung blieb.
In den späten 80er- und frühen 90er-Jahren wurde die türkische Armee erfahrener im Kampf gegen die Guerillas. Sie verwendete hochentwickelte Ausrüstung, wie von Israel gelieferte Nachtsichtgeräte und US-Kampfhubschrauber. Der türkische Staat bekämpfte zivile Unterstützer der PKK und alle, die für die Rechte der Kurden eintraten, mit allen Mitteln. Zwischen 1984 und 1999 wurden bis zu 40 000 Menschen getötet. Beide Seiten griffen Zivilisten an, die verdächtigt wurden, dem Feind zu helfen. Der bei weitem größte Anteil der Übergriffe ging vom türkischen Staat aus. Eine Abteilung der türkischen Gendarmerie, die Jandarma İstihbarat ve Terörle Mücadele (JITEM), die offiziell nicht existiert, war nach Berichten der Türkischen Menschenrechtsvereinigung IDH an 5000 ungeklärten Morden beteiligt und verantwortlich für 1500 „Verschwundene“. In den späten 80er-Jahren begann die türkische Armee mit der gewaltsamen Umsiedlung kurdischer Dorfbewohner, um die Guerilla von ihren zivilen Unterstützern zu trennen. Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden so zwischen 275 000 und 2 Millionen Menschen heimatlos. Nachdem so ein Großteil ihrer Unterstützung wegfiel und sie heftig militärisch bedrängt wurde, erlitt die PKK ab der Mitte der 90er militärische Rückschläge.
Aber Öcalan weigerte sich, die Warnung der Feldkommandeure zu beachten und bestand darauf, dass sie die Offensive ergreifen sollten. In einer Stellungnahme 1994 wurde behauptet: „Der Kampf, den die PKK führt, hat das Stadium der strategischen Defensive hinter sich gelassen (…). Es ist unvermeidlich, dass wir unseren Kampf als Antwort auf die umfassende Kriegserklärung durch die Türkei ausweiten.“ Rückschläge wurden nicht fehlerhaften Vorgaben der „Führung“ angelastet, sondern dem Versagen der Kommandeure, sie korrekt umzusetzen. Flach beschreibt „Kritik- und Selbstkritik-Sitzungen“, die sie miterlebte: „'Warum wurden in einigen Gebieten militärisch keine Fortschritte gemacht, warum sind FreundInnen gefallen, warum wurde die Frauenarmee nicht überall aufgebaut? Die Fehler werden vor allem in der Persönlichkeit der KommandantInnen und KämpferInnen gesehen. Strukturen aus dem alten Leben wurden weitergelebt, feudale oder kleinbürgerliche Haltungen und Sichtweisen nicht überwunden und genau das wird als größtes Hindernis zur Umsetzung der Ideen der Partei gesehen.“ [14] Aber die Sinnhaftigkeit dieser Ideen wurde nicht in Frage gestellt.
1998 drohte die Türkei Syrien mit Krieg, sollte es dem PKK-Führer weiterhin Unterschlupf gewähren. Das syrische Regime befahl Öcalan zu gehen. Während er nach politischem Asyl Ausschau hielt, verstärkte er seine früheren Appelle für eine politische Lösung. Er erklärte, dass die PKK eine „demokratische Republik“ akzeptieren würde, d. h. eine einige Türkei, die die Redefreiheit der Kurden garantieret und die Existenz der kurdischen Minderheit anerkennt. Im Februar 1999 wurde Öcalan von türkischen Agenten gefangen genommen.
Schon in ihrem ersten Programm forderte die PKK volle Gleichheit von Männern und Frauen in allen sozialen und politischen Aspekten, aber das war wenig mehr als einfach eine Forderung unter anderen. Die unverwechselbare Praxis der PKK in Sachen Frauenbefreiung wurde in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre entwickelt, als die Beteiligung von Frauen an der kurdischen Bewegung, sowohl als Politikerinnen als auch als Kämpferinnen, zunahm. [15] Aber wie bei jeder anderen Position der PKK, war auch in der Frage der Frauenbefreiung Öcalan der ideologische Führer.
Die starke Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen der Bewegung unterscheidet die PKK von allen anderen kurdischen Rebellionen. In der Ideologie der PKK scheint die Kategorie „Frauen“ das „internationale Proletariat“ ersetzt zu haben: Heute werden Frauen als solche als Vorhut des Kampfes angesehen.
Murray Bookchin Foto: Luisa Michel |
Die Positionen der PKK zur Frauenbefreiung sind sehr stark beeinflusst vom Mythos einer prä-historischen matriarchalischen Vergangenheit: „Die Frau, die in der neolithischen Gesellschaft die erschaffende Göttin war, erfuhr in der Geschichte der Klassengesellschaft einen ständigen Verlust. (Öcalan). [16] Mit dem Entstehen der Klassengesellschaft begann die Unterdrückung der Frauen. Diese Ansichten sind klar von Friedrich Engels „Die Ursprünge von Familie, Staat und Privateigentum“ übernommen.
Nach Ansicht von Öcalan und der PKK dienen die patriarchalische Familienstruktur und die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen den Interessen des unterdrückerischen türkischen Staates und der mit ihm kooperierenden „feudalen“ kurdischen Führer. Dieser Staat und seine Marionetten spielen eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung dieser Ungleichheiten und Traditionen, die die Entwicklung der kurdischen Frauen und der kurdischen Gesellschaft als Ganzes blockieren und ihnen erlauben, die kurdische Bevölkerung zu kontrollieren. Die traditionelle Familie unterdrückt Frauen, indem sie sie vom gesellschaftlichen Leben fernhält und die Familie wird geschützt durch „namus“ (svw. „Ehre“), die Kontrolle der Körper, des Auftretens und der Sexualität der Frauen durch Männer. [17]
Das Sprengen der Fesseln, die Frauen unterdrücken, würde ihnen nicht nur erlauben, eine aktive Rolle in der Befreiungsbewegung zu spielen und sie so zu stärken. Öcalan nahm auch an, dass Frauen als Opfer sowohl von nationaler als auch geschlechtsspezifischer Unterdrückung für radikale Ideen empfänglicher wären: „Heute, während des palästinensischen Aufstands sind es fast ausschließlich Frauen, Kinder und die Jugend, die mit Steinen die Revolution machen. Daraus müssen Lehren gezogen werden … Natürlich, alle Frauen sind wütend. Alle sind hungrig und verarmt. Es ist möglich, sie unter Anwendung aller möglichen Methoden zu Rebellinnen zu machen.“ [18]
Die Befreiung der Frauen war und wird als Teil der Befreiung des kurdischen Volkes gesehen, aber in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre änderte sich die Art, wie diese Beziehung gesehen wurde. Handan Çağlayan fasst diese Änderung wie folgt zusammen: Vom Reden über Frauen, eine instrumentalisierende Sicht auf Frauen als Ressource für die Revolution, zum Reden mit Frauen als Akteurinnen ihrer eigenen Befreiung. In den frühen 90er-Jahren nahm die Beteiligung von Frauen innerhalb der PKK dramatisch zu. In diesen Jahren gab es breite Proteste (Serhildan genannt) der kurdischen Bevölkerung, angefeuert durch ein neues Gefühl kurdischer Identität und Stärke, das durch den bewaffneten Kampf möglich gemacht worden war. An diesen Protesten beteiligten sich Schichten der Bevölkerung, die keinen direkten Kontakt mit der PKK-Guerilla hatten, aber dennoch mit ihr sympathisierten.
Die Proteste wurden unterdrückt, aber in ihrem Gefolge wurde die kurdische Bewegung zu einer wirklichen Massenbewegung, an der sich Studentenorganisationen, kulturelle Assoziationen, Publikationen, Frauengruppen und andere Initiativen beteiligten. Die PKK war die hegemoniale Kraft in dieser Bewegung, musste aber kämpfen, um die neuen Rekruten zu integrieren, die oft einen sozialen Hintergrund hatten, der sich sehr deutlich von dem der alten Garde unterschied. Dutzende dieser oft jungen, gebildeten Freiwilligen wurden von PKK-Kommandeuren exekutiert, die ihnen misstrauten oder ihre Macht durch sie gefährdet sahen. Aber der Zustrom neuer Mitglieder veränderte die Partei. Als die Beteiligung von Frauen zunahm, war die Bewegung gezwungen, sich mit bestehenden sexistischen Ideen und Praktiken auseinanderzusetzen. Frauen verweigerten die Beschränkung ihrer Rollen in der Bewegung auf bloße Unterstützung.
Die neue Rolle von Frauen führte zu Änderungen in der Ideologie und Organisation der PKK. In der Guerilla wurden unabhängige Fraueneinheiten und später eine unabhängige Frauenarmee aufgebaut – eine Praxis, die auch von der syrischen kurdischen Bewegung mit dem Aufbau der YPJ (Yekîneyên Parastina Jinê, Frauenschutzeinheiten) übernommen wurde. Die Motivation dafür ist, dass auf diese Weise Frauen von den sexistischen Praktiken ihrer männlichen Genossen befreit und gleichzeitig gezwungen werden, mit den traditionellen Auffassungen weiblichen Gehorsams und weiblicher Unterwürfigkeit zu brechen und stattdessen Führungsrollen einzunehmen. In gemischten PKK-Organen gibt es eine verbindliche Frauenquote. Mindestens 40 % in den Leitungsorganen müssen Frauen sein, Vorstandsposten sind mit je einem Mann und einer Frau besetzt.
Eine wichtige Differenz zwischen der PKK-Theorie von Frauenunterdrückung und -befreiung und der von Friedrich Engels ist ihre Missachtung sozio-ökonomischer Faktoren. Engels argumentiert, dass die Entstehung sozialer Klassen zu einer Arbeitsteilung führte, die die Arbeit von Frauen und damit ihren sozialen Status zweitrangig machte. In der PKK liegt die Betonung stattdessen auf Fragen wie „Mentalität“ und „Persönlichkeit“; Frauenunterdrückung ist angeblich in patriarchalischen Verhaltensweisen verwurzelt, die von Generation zu Generation weitergegeben und von den Frauen internalisiert werden. Frauen müssen diese Haltungen genauso verlernen wie Männer. Auf diese Weise werden Männer und Frauen neu geschaffen.
In der PKK-Sicht von Frauenbefreiung verdrängt die Kategorie Frauen politische Differenzen. So stellt es ihre Frauenorganisation dar: „die Frauenbefreiungsideologie ist eine Alternative zu allen bisherigen Weltanschauungen, egal ob von rechts oder links. Denn die bisherigen Ideologien, wie sie in den letzten Jahrhunderten als sozialistisch oder kapitalistisch kategorisiert wurden, sind männlich geprägt“. [19]
Diese Ideen bürden den Frauen eine schwere Last auf. Die traditionelle Familie wird als Ort kritisiert, wo Frauen durch patriarchalische Verhaltensweisen unterdrückt werden, aber sie wird gleichzeitig als Wiege einer neuen kurdischen Gesellschaft angesehen, weil die Familie eine sehr gewichtige Rolle bei der Sozialisierung von Menschen, der „Schaffung von Persönlichkeiten“, spielt. Daher sind es Frauen, denen als Mütter und Erzieherinnen eine Hauptverantwortung für den Ausgang des Kampfes zugewiesen wird. Das Denken der PKK konzentriert sich auf das Wesentlichste. Frauen und Natur werden oft gleichgesetzt, „Frau“ wird mit Mutterschaft identifiziert. Frauen werden bestimmte frauliche Charakterzüge zugeschrieben wie Empathie, Abscheu vor Gewalt und Nähe zur Natur. Diese Qualitäten müssen Männern beigebracht werden, um die patriarchalische Gesellschaft zu überwinden.
Nach seiner Gefangennahme beschleunigte Öcalan die ideologische Wandlung der PKK. Durch seine Anwälte gab er Erklärungen aus dem Gefängnis ab. Er erklärte, dass er weiterhin die Verhandlungen mit dem türkischen Staat führen würde.
Die darauffolgenden Aussagen Öcalans vor Gerichten lösten einen Schock aus. Öcalan reinterpretierte die Geschichte und Ideologie der PKK tiefgreifend. Er erwähnte nicht die Leiden der Kurden, aber er fand Zeit, Atatürk, den Gründer der türkischen Republik, zu preisen und bezog sich auf die Zusammenarbeit zwischen Kurden und Türken während des Unabhängigkeitskrieges in den frühen 20er-Jahren. Er behauptete, dass es keine „kurdische Frage“ gäbe, wenn Atatürks Ideen getreulich befolgt worden wären.
Öcalan bestand darauf, dass das Ziel der Schaffung eines unabhängigen kurdischen Staates eine Unmöglichkeit und noch nicht einmal wünschenswert wäre. Die „demokratische Lösung“, die er vorschlug bestand darin, dass die Türkei die Existenz der Kurden anerkennt und ihre demokratischen Rechte, wie Redefreiheit und Gebrauch der kurdischen Sprache, respektiert. Das würde angeblich genügen, um die Türkei zu einer demokratischen Gesellschaft zu machen, die den Konflikt überwinden könne: „Ich möchte betonen, dass sie (die Demokratie) Spannung und Konflikt durch wunderbaren Ausgleich überwinden kann; dass es ideale Regierungen gibt, die dank der Tauglichkeit demokratischer staatlicher Institutionen für diese Zwecke eine Lösung bieten können, sodass es unterschiedlicher Politik und den hinter ihr stehenden Kräften nicht erlaubt ist, in Konflikt zu kommen.“ [20]
Ein Begriff, der seit seiner Erklärung vor Gericht, die als „Erklärung für eine demokratische Lösung“ bekannt wurde, immer wieder auftaucht, ist die „demokratische Zivilisation“, die von der PKK jetzt zum Ziel erklärt wurde. In seiner Erklärung vor Gericht sagte Öcalan, dass er diesen Ausdruck einem 1964 erschienen Buch des US-amerikanischen Soziologen Leslie Lipson entlehnt habe, einer Studie über die Entwicklung des parlamentarischen Systems in westlichen Gesellschaften. In seinen aktuellen Gefängnisschriften nimmt er den zentralen Platz ein, jetzt ohne Hinweis auf den Urheber.
Die Demokratie, die Öcalan preist, wird oft mit den parlamentarischen kapitalistischen Staaten des Westens gleichgesetzt: Er behauptet, dass sich in den europäischen Ländern eine „entschiedene Demokratie“ entwickelt habe, was zur „Überlegenheit des Westens“ geführt hat. „Westliche Zivilisation“ in diesem Sinn kann als „demokratische Zivilisation“ bezeichnet werden. [21] Was die Türkei und die Kurden benötigen ist eine „Problemlösung westlichen Stils“. [22] Und 2012: „Im Prinzip enthält das westliche demokratische System – das unter großen Opfern geschaffen wurde – alles, was nötig ist, um soziale Probleme zu lösen“. [23] „Europa, einst Geburtsort der Demokratie, hat den Nationalismus angesichts der Kriege im 20. Jahrhundert im Großen und Ganzen hinter sich gelassen und ein politisches System nach demokratischen Standards geschaffen. Dieses demokratische System hat bereits seine Überlegenheit gegenüber anderen Systemen – einschließlich des realen Sozialismus – bewiesen und ist jetzt das weltweit einzig akzeptable.“ [24]
Nach der Gefangennahme Öcalans erklärte das PKK-Präsidium, dass „er unser Führer ist, aber er ist gefangen. Seine Anordnungen sind nicht länger bindend“. Aber es machte schnell eine Wendung um 180 Grad; im Juli übernahm eine erweiterte Sitzung des Zentralkomitees Öcalans Verteidigungsrede als neues Parteimanifest. Gefangen oder nicht, Öcalan blieb der Önderlik (Führer). Die neue Orientierung war selbst für viele früher loyale Gefolgsleute Apos unannehmbar. Viele verließen die Bewegung. [25] Eine kleine Anzahl von PKK-Führern opponierte erfolglos gegen die neue Orientierung, und das Ende des bewaffneten Kampfes wurde auf dem 7. Kongress der PKK im Februar 2000 offiziell beschlossen. Die Dissidenten waren nicht in der Lage, eine andere Alternative als die Fortsetzung der gescheiterten Volkskriegs-Strategie zu formulieren und wurden schnell kaltgestellt.
Öcalan behauptet, dass der Kampf der PKK nur die neueste kurdische Rebellion gegen zentralisierte Staatsmacht sei. In einem bemerkenswerten Beispiel von „Selbst-Orientalisierung“ werden die Kurden als geschichtsloses Volk dargestellt, das seit den Zeiten der Sumerer (4. Jahrtausend vor unserer Zeit) gegen die Staatsmacht rebelliert und in der ganzen Zeit „wesentlich“ gleichgeblieben ist. Der „Sündenfall“, der zu ihrer Unterdrückung führte, war die Entstehung des Staates als solchem, gegen den die Kurden versuchten, ihre „natürliche“ freie Kultur zu behaupten. Öcalan beschreibt sein Ziel als „Renaissance“ einer idealisierten Gesellschaft, die während des Neolithikums angeblich auf dem Gebiet des heutigen Kurdistans existierte. In einer Art „Aufhebung“ sollen die positiven Aspekte dieser mythischen Vergangenheit – eine zentrale Rolle für Frauen in der Gesellschaft, eine „reine“ kurdische Identität, soziale Gleichheit – in moderner Form zurückkehren.
Abdullah Öcalan, 1997 Foto: Halil Uysal |
Diese Renaissance soll durch drei miteinander verwobene Projekte realisiert werden: demokratische Republik, demokratische Autonomie und demokratischer Konföderalismus. [26] Die „demokratische Republik“ erfordert die Reform des türkischen Staates. Wie in den Erklärungen, die Öcalan in den Jahren vor seiner Gefangennahme machte, wird von der Türkei gefordert, die Existenz von Minderheiten, insbesondere der Kurden, in ihrer Bevölkerung anzuerkennen und die Staatsbürgerschaft von der türkischen Ethnie zu trennen. Öcalan wurde zum enthusiastischen Unterstützer des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union, von dem er sich erhofft, dass die Türkei sich zu demokratischen Reformen gezwungen sieht, die sie einer „demokratischen Republik“ näherbringen.
Das Konzept der „demokratischen Autonomie“ ist von Murray Bookchin (1921–2006), einem libertären US-Sozialisten, entlehnt. Als der zweite Weltkrieg endete, war Bookchin Trotzkist und Mitglied der SWP der USA. Wie viele Trotzkisten erwartete er, dass der Krieg mit einer Welle sozialer Revolutionen, geführt von der Arbeiterklasse, enden würde. Als das nicht geschah und die trotzkistische Bewegung klein und isoliert blieb, begann Bookchin seine Ideen zu überdenken. Bookchin gab den Marxismus auf, der in seinen Augen den fundamentalen Fehler gemacht hatte, die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt einzuschätzen.
Bookchin argumentierte, dass der Schwachpunkt des Kapitalismus nicht der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, sondern der zwischen Kapital und Ökologie sei. Das endlos akkumulierende Kapital zerstört die Umwelt. Der Kampf zur Rettung des Öko-Systems nimmt einen anti-kapitalistischen Charakter an und kann alle vereinigen, die ihr Leben durch die Zerstörung der natürlichen Umwelt bedroht sehen und gegen ihre Entfremdung von ihr rebellieren.
Um eine umweltverträgliche Gesellschaft aufzubauen, schlug Bookchin vor, Städte zu dezentralisieren und zurückzubauen, um allen Menschen zu ermöglichen, erneuerbare Energien zu nutzen, Lebensmittel lokal anzubauen und die Aufwendung von Energie für den Transport zu kürzen. Diese Städte würden von Versammlungen ihrer Bevölkerung regiert, die demokratisch Entscheidungen treffen. Bookchin favorisierte eine Kombination von sozialen Bewegungen und Kooperativen, die die künftige Gesellschaft vorwegnähmen, mit Teilnahme an lokalen Stadtparlamenten, um wohl erworbene und legale politische Macht zu erringen.
Das ist die Strategie, die die kurdische Bewegung jetzt anscheinend mit einigem Erfolg im Osten der Türkei anwendet. In Städten und Dörfern, in denen die legale kurdische Partei HDP genügend Unterstützung im Stadtparlament gewonnen hat, werden staatliche Ressourcen eingesetzt, um Räte und Nachbarschafts-Assoziationen zu unterstützen, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Bewegungen und NGOs gegründet wurden. Die kurdische Bewegung hofft auf diese Weise „demokratische Autonomie“ aufzubauen, d.h. die Macht, um auf lokaler Ebene Entscheidungen in Versammlungen und Räten zu treffen und gleichzeitig dem zentralen türkisch-chauvinistischen Staat „zu entgehen“. Durch die Stärkung lokaler Exekutivräte und Vereinigungen ethnischer, religiöser, kultureller Identitäten und von Frauen soll Druck auf den türkischen Staat ausgeübt werden, um seine Reform zu einer demokratischen Republik zu erzwingen.
Auch die „alte“ PKK hat zivile Organisationen verschiedenster Art aufgebaut, aber jetzt sind diese Strukturen, obwohl durch sie inspiriert, angeblich autonom. Heute erklärt die PKK, dass ihre Funktion nicht in der organisatorischen Führung besteht, sondern in der ideologischen Inspiration. Sie versteht sich als Zentrum, von dem aus die Gedanken Öcalans in anderen Strukturen verbreitet
Die PKK schlägt vor, grenzüberschreitende Strukturen der demokratischen Autonomie aufzubauen. Diese Strukturen sollten sich später von der Basis ausgehend zu einem System des „demokratischen Konföderalismus“ zusammenschließen. Öcalan beschreibt das System als ein pyramidenartiges Organisationsmodell. Es sind die Gemeinwesen, die reden, debattieren und Entscheidungen treffen. Von der Basis bis zur Spitze würden gewählte Delegierte eine Art loser koordinierender Institution bilden. „Sie werden die gewählten Repräsentanten der Bevölkerung für ein Jahr sein.“ [27]
Diese Strategie impliziert auch eine Änderung in der Anwendung von Gewalt seitens der PKK. Vorher war der bewaffnete zentral, um den Staat zu bezwingen und die Macht zu erobern. Heute wird die Haltung der PKK zur Gewalt als „legitime Selbstverteidigung“ bezeichnet. Gewaltsame Aktionen von PKK-Kämpfern sind oft Vergeltungsaktionen gegen türkische Gewalt gegen die PKK und/oder zivile Unterstützer(innen) kurdischer Rechte und dienen der Erhaltung einer Art Kräftegleichgewicht, um dem türkischen Staat zu signalisieren, dass solche Aktionen einen Preis haben und um zu beweisen, dass die PKK nach wie vor beträchtliches militärisches Potential hat. Laut PKK ist diese Art defensiver Gewalt die einzig legitime Art von Gewalt.
In der neuen demokratischen Zivilisation werden politische Differenzen aufgehoben werden: „der gegenwärtige politische Prozess macht jedoch klar, dass die Weltanschauungen von links und rechts eine fundamentale evolutionäre Umwandlung durchmachen müssen, an deren Ende sie in dem – wie ich es nenne – System der demokratischen Zivilisation zusammenkommen werden. Dieses Herangehen hat schon begonnen, seinen Wert bei der Lösung von Konflikten, beim Aufbau internationaler Institutionen und beim Wiederaufbau der internationalen Ordnung nach demokratischen Prinzipien zu demonstrieren“. [28] Die Gefängnisschriften zeigen eine [29] sehr idealistische Neigung, in dem sie „Kultur“ und „Zivilisation“ als Erklärung für sozio-ökonomische und politische Entwicklungen heranziehen. Öcalan stimmt dem rechten US-Politikwissenschaftler Samuel Phillips Huntington zu, dass es einen Zusammenstoß der „östlichen“ und „westlichen“ Zivilisationen [30] gibt.
Sehr überraschend für jemanden, der sich einmal als Marxisten bezeichnete, werden in Öcalans neueren Schriften die tiefe sozio-ökonomische Ungleichheit zwischen dem Westen und dem Osten der Türkei, sowie Vorschläge für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der kurdischen Bevölkerung kaum erwähnt. Die Begriffe Klassenkampf und Klassenformation, die in den alten Dokumenten als Parolen auftauchten, sind außer als hohle Bezeichnungen für kurdische Kollaborateure und Gegner der PKK als „Feudalisten“ und „Kleinbürger“ zum großen Teil verschwunden. Für Öcalan sind Sozialismus und Arbeiterkämpfe im Vergleich zu demokratischen Freiheiten, sowie religiöser und ethnischer Identität zweitrangig.
Der Sozialismus der PKK wurde abstrakter, als sie sich von der stalinistischen Idee, dass Sozialismus bedeute, dass ein Partei-Staat die Produktionsmittel besitzt, entfernte, hin zur Idee der Schaffung eines neuen Menschen. Was im Verlauf der Entwicklung konsistent blieb, war die Annahme, dass die Partei den Sozialismus errichtet. Die Arbeiterklasse und ihre Selbst-Emanzipation spielten in der alten Ideologie keine Rolle, obwohl die PKK sich als eine Partei der Arbeiterklasse bezeichnete.
Während der Marxismus davon ausgeht, dass die Arbeiterklasse der Akteur ist, der durch seine Selbst-Emanzipation den Sozialismus schaffen kann, war die Haltung der PKK gegenüber der Arbeiterklasse durch ein ziemliches Misstrauen geprägt und sie sah in der Selbst-Emanzipation der Arbeiterklasse keinen Weg zum Sozialismus. Viele Arbeiter(innen) in Kurdistan waren beim Staat beschäftigt und lebten in Städten. [31] Die PKK, deren Mitglieder meist einen ländlichen Hintergrund hatten, betrachteten die städtische Bevölkerung mit Argwohn, da sie in ihren Augen privilegiert und zu eng mit den Institutionen des türkischen Staates verbunden wäre. In einem Buch, das auf Gesprächen an der Parteischule der PKK basierte, stellte ein Kader namens Heval Zilan das Mitte der 90er-Jahre wie folgt dar: „Das hier entstandene Proletariat ist ein Proletariat im Dienste des Feindes. Es ist keine große Kraft. Es spielt keine so bedeutende Rolle, dass es die Avantgarde darstellen könnte. Das heißt aber nicht, dass man in Kurdistan keinen proletarischen Kampf aufzunehmen braucht. Genauso wenig heißt das, dass keine proletarische Ideologie entstehen soll. Ohne Zweifel vertreten diejenigen, die vom Gegenteil ausgehen, ein realsozialistisches Verständnis der Sache.“ [32]
|
||||||||||||
In den frühen 90er-Jahren stellte Öcalan dar, dass es in der kurdischen Gesellschaft keine ausgeprägten Klassenspaltungen gäbe. [33] Die wirkliche Scheidelinie verlaufe zwischen „Kollaborateuren“ und „Patrioten“, nicht zwischen Kapitalisten und der arbeitenden Bevölkerung. Kürzlich bestand Öcalan darauf, dass sich die Bedingungen für Klassenkampf in der kurdischen Gesellschaft (noch) nicht entwickelt hätten. [34] Diese Ansicht scheint ein Widerspruch zum ersten Manifest und Programm zu sein, das erklärte, dass die Revolution von der Arbeiterklasse geführt werden sollte. Aber das bedeutete, dass sie von der Partei geführt werden sollte, da diese die angeblich Trägerin des sozialistischen Bewusstseins wäre und es der Bevölkerung vermittelte. Heval Zilan stellt diese Sichtweise wie folgt dar: „Erstens ist die Armee der Schutz für alle geschaffenen Werte. Zweitens ist sie die Trägerin des sozialistischen Bewusstseins, des sozialistischen Verständnisses, das sie auch an die Gesellschaft weitergibt. Drittens ist die Armee diejenige Kraft, welche die in Kurdistan geschaffene Arbeit in Werte verwandelt und das entsprechende Bewusstsein von diesen Werten schafft. Viertens ist die Armee die Basis für die sozialistische Gesellschaft.“ [35]
Das Projekt der „demokratischen Autonomie“ basiert auf unterschiedlichen Identitäten und dem Kampf für den freien Ausdruck dieser Ideen. „Arbeiter“ ist nur eine Identität unter anderen. Heute glaubt Öcalan, dass die Anerkennung demokratischer Rechte für alle diese unterschiedlichen Identitäten zur „demokratischen Zivilisation“ führen würde. Er glaubt, dass im 20. Jahrhundert wegen des „technischen Fortschritts“ die „materiellen Grundlagen für Klassenspaltungen verschwunden“ wären. Aber die Möglichkeit einer Gesellschaft ohne Klassenspaltungen würde durch den Staat verhindert: „der Staat beherrscht die soziale Struktur“ und es ist der Staat, der „die Spaltung in Klassen fortsetzt“. [36] Jegliche Diskussion des Kapitals fehlt. Öcalan unterscheidet nicht zwischen sozio-ökonomischer Ausbeutung, die zur Aufspaltung in Klassen führt, und der außer-ökonomischen Unterdrückung bestimmter Identitäten. Stattdessen werden sie alle als Formen der Unterdrückung dargestellt.
Die fortdauernde Unterdrückung bestimmter Identitäten, wie der kurdischen in der Türkei, werden von Öcalan der staatlichen Politik zugeschrieben, die der Entwicklung der neuen Zivilisation hinterherhinkt, obwohl sie wegen des technologischen Fortschritts unausweichlich ist. [37] Die Aufgabe ist daher, den Staat zu zwingen, die Realisierung des bereits existierenden demokratischen Potentials zu ermöglichen.
Öcalans ökonomische Ideen für eine alternative zukünftige Gesellschaft können als sozialdemokratisch bezeichnet werden: „So wie ich es sehe, erfordert die Gerechtigkeit, dass kreative Arbeit gemäß ihrem Beitrag zum Gesamtprodukt entlohnt wird. Die Entlohnung kreativer Arbeit, die zur Produktivität der Gesellschaft beiträgt, muss in Bezug zu anderen kreativen Aktivitäten gesetzt werden. Die Versorgung aller mit Arbeitsplätzen wird eine allgemein öffentliche Aufgabe sein. Jede(r) wird gemäß ihrer/seiner Möglichkeiten und Bedürfnisse am Gesundheits- und Bildungswesen, an Sport und Kunst teilhaben.“ [38]
Öcalans Schriften sind voller Wiederholungen, langatmig und an ihrem gewundenen Stil leicht zu erkennen. Begriffe, die aus dem Marxismus bekannt sind, werden auf eine Art verwendet, die implizieren, dass ihre Bedeutung für Öcalan eine andere ist: Das „Zweite Manifest“ spricht über „feudale Nomaden“, die Gefängnisschriften erklären die „feudalen“ kurdischen Führer zu einem „Kompradoren-Kleinbürgertum“. Das Nebeneinander von Grübeleien über die Bedeutung von „Menschlichkeit“ und „Freiheit“ und Überbleibseln des alten Jargons kann recht verwirrend sein.
Die PKK war nicht nur eine politische und militärische Führung, sie würde die Gesellschaft reorganisieren. Sie würde nicht nur die sozialen Beziehungen so aufbauen, dass sie der gewünschten Gesellschaft entsprechen, sondern sogar neue Persönlichkeiten schaffen, die für diese charakteristisch sind. Dieses Prinzip der Schaffung von Urbildern, des Aufbaus von Elementen, die die zukünftige Gesellschaft widerspiegeln, ist in der Bewegung nach wie vor vorhanden. Heute hofft die PKK nicht nur die Persönlichkeiten, sondern auch die politischen Strukturen der zukünftigen Gesellschaft aufzubauen, indem sie Strukturen organisiert, die angeblich den Kern der neuen Gesellschaft in sich tragen.
Eine Konstante der Entwicklung der PKK ist die Zentralität von Serok Apo und seiner Erklärungen. Zum Beispiel behaupten die VerteidigerInnen von Kobanê, dass es die „Ideen von Apo“ waren, die es ihnen ermöglichten, den IS zu schlagen, und sein Konterfei wird prominent auf T-Shirts und Transparenten zur Schau gestellt. Diese Fortdauer ideologischer, wenn auch nicht mehr direkt organisatorischer, Führung durch ein Individuum steht in Konflikt mit den Behauptungen von Selbst-Emanzipation durch demokratische Autonomie. Die PKK ist der verwirrende Fall einer Bewegung, die eine Vision von „Basis-Demokratie“ aufgrund von Anweisungen „von oben“ übernommen hat.
Die relative Unschärfe der Texte Öcalans hat ihre Vorzüge. Sie erleichtert es, das politische Projekt der PKK für breite Schichten anziehend zu machen: von Liberalen bis Anarchisten können Menschen in ihm ihre eigenen Wünsche wiedererkennen. Sie lässt es auch zu, die Ideologie pragmatisch an die lokale Situation anzupassen und ermöglicht es gleichzeitig Aktivisten, zu behaupten, „den Ideen Öcalans“ treu zu sein – mehr noch als zu der Zeit, als er in direktem Sinn Führer der Bewegung war und in täglichem Kontakt mit seinen Gefolgsleuten stand. Öcalan wurde zu einer prophetenartigen Figur. Und, wie es auch den Verlautbarungen anderer Propheten geht, so sind seine Worte offen für Interpretationen. Basisaktivisten haben einen erheblichen Spielraum, um zu manövrieren und seine Direktiven so zu interpretieren, wie sie es brauchen.
Übersetzung: W. Weitz |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015). | Startseite | Impressum | Datenschutz