Geschichte

Zum 80. Geburtstag von Willy Boepple (9.7.1991)

„Die Mühen der Ebene“

Rede von Jakob Moneta

In seiner bildhaften Sprache hat Trotzki einmal die Tatsache, daß so viele Menschen aus dem langen Pfad der Revolution aus­scheren, mit einem Eisenbahnzug verglichen. Dieser hält an vielen Stationen an, ehe er sein Ziel erreicht, wobei es jedesmal auch Aussteiger gibt.

Warum aber verlassen so viele, die meist begeistert und hoff­nungsvoll zu uns gestoßen sind, die sich redlich abgekämpft und Opfer gebracht haben, den Zug wieder? Und welche besonderen Motive oder Eigenschaften haben die Durchhalter, die keineswegs immer sicher sind, das Ziel noch in ihrem Leben erreichen zu können?

Der Schriftsteller Leonhard Frank, übrigens Sohn eines Schreinergesellen, der selbst als Fabrikarbeiter und in vielen anderen Berufen sich sein Malstudium erhungert hat, dann aber zur Literatur umschwenkte, der mit seiner erschütternden Schrift „Der Mensch ist gut“, die von der USPD in hunderttausenden Exemplaren in den Schützengräben des ersten Weltkrieges verbreitet wurde, dem Chau­vinismus einen schweren Schlag versetzt hat, – dieser Leonhard Frank ist auch der Verfasser des inzwischen längst vergessenen Romans „Der Bürger“. Dort schildert er einen Menschen, der zu der Überzeu­gung gelangt, daß der Kapitalismus gestürzt und der Sozialismus errichtet werden muß, wenn weitere Kriege verhindert werden sollen. Aber dann gibt er nach wenigen Jahren seinen Kampf mit dem Argument auf, daß es für einen jungen, begeisterungsfähigen Men­schen zwar leicht ist, auf einmal sein Leben auf einer Barrikade zu opfern, aber unendlich schwierig, Jahr um Jahr, Tag um Tag dieses Leben stundenweise in der ermüdenden Kleinarbeit der Routine der Agitation für die gute Sache zu verschleißen. Es sind in der Tat, wie Brecht es sagte, die Mühen der Ebene, die von den meisten nicht durchgestanden werden.

Wir sollten aber auch nicht unterschätzen, daß Menschen, die nur kurze Zeit in den Zug eingestiegen sind, der auf dem Weg zur Revolution ist, theoretische oder auch praktische Spuren hinterlassen haben, die von bleibendem Wert sind. So etwa Parvus Helphand, dem wir immerhin die Anfänge der Theorie der permanenten Revolution verdanken, der aber später zum Börsenspekulanten wurde.

Der Schriftsteller Hans Erich Nossack – er gehörte zu denen, die 1933 mit einem Veröffentlichungsverbot bestraft wurden ‑ hat uns in seinem Roman „Dem unbekannten Sieger“ einen Menschen vorge­führt, der im Frühjahr 1919 in Hamburg einfach und wie aus Versehen eine revolutionäre Rolle spielte und sie ebenso einfach und still­schweigend wieder aufgegeben hat. Obwohl er nur aus Uelzen nach Hamburg gekommen war, um Kunden seines Vaters aufzusuchen, stellte er seine Kenntnisse als Feldartillerist zur Verfügung, um das von Konterrevolutionären besetzte Hamburger Rathaus zurückzuero­bern, half dann, aus der Kaserne in Bahrenfeld, in der er gedient hatte, die nötigen Waffen zu beschaffen, mit denen ein aus Bayern nach Magdeburg marschierendes Freikorps geschlagen wurde. Niemand wußte, wer er war, obwohl ihm alle militärstrategisches Genie be­schei­nigten, und er setzte sich nach diesem Ausflug in die Revolution einfach wieder ab, um in Uelzen Kunden in seinem Laden zu bedienen.

Seinem Sohn, der eine Doktorarbeit über diese Ereignisse ge­schrieben hat, ohne zu wissen, daß der nur als „Hein“ bekannte „unbekannte Sieger“ sein Vater war, sagte er die denkwürdigen Worte, es habe sich alles „von selbst“ ergeben, „denn wenn ich auch mit so einer Revolution nicht so genau Bescheid weiß wie Du, der Du das studiert hast, so kann ich mir gut denken, daß sich auch in einer Revolution manches von selbst ergibt, ohne geniale Pläne, wie Du das nennst. Und Spaß, wenn Du das auch nicht wahrhaben willst, wird es dem komischen Knirps (dieser Hein war schmächtig und klein) auch gemacht haben, er sieht mir ganz danach aus, und so eine Revolution ist doch mal eine Abwechslung.“

Wie aber kann ich mir erklären, daß Willy in den Reihen derer, die davon träumten, die 1918 unterbrochene und verratene November­revolution in Deutschland fortsetzen zu können, nicht nur ein Gastspiel gab, sondern ein Leben lang dabeigeblieben ist? Sogar dann, als der Zug zur Revolution mit dem Zusammenbruch des Stalinismus zu­gleich schrecklich entgleist ist?

Wichtige Spuren finden wir in seiner Lebensgeschichte. Sein Vater war nicht nur Mitbegründer der USPD, für die er in den Stadtrat von Mannheim gewählt wurde, sondern er hatte im Auftrag des Arbeiter- und Soldatenrates im November 1918 die Badische Repu­blik ausgerufen und wurde für kurze Zeit Sekretär des damaligen Innenministers Adam Remmele.

Als die Revolution scheiterte, wurde sein Vater Geschäftsführer des „Zentralverbandes der Angestellten“ mit einem Gehalt, das der fünfköpfigen Familie wahrlich keinen Luxus erlaubte. Nach der Auflösung der USPD ging der Vater zwar zur SPD zurück, aber er blieb ein sehr kritisches Mitglied bis zu seinem Tode im Jahre 1922. Willy und sein Bruder waren bereits als Jugendliche, als Kinder gar, politisch aktiv, noch ehe sie im Stande waren, irgendwelche theoretischen Einsichten zu haben.

Das Bewußtsein, daß es ein „oben“ und ein „unten“ gibt, prägte sich ihnen allerdings in der damaligen von Krisen erschütterten Weimarer Republik sozusagen von selbst ein.

Umso erstaunlicher ist es, daß Willy in biographischen Notizen folgendes als Schlüsselerlebnis bezeichnete, das ihn daran hinderte, sich von der Welt ein „Schwarz-Weiß-Bild“ zu machen. Während der revolutionären Unruhen 1923 kam es auch in Mannheim zu häufigen Zusammenstößen mit der Polizei. Er geriet hierbei in eine Demonstra­tion, in der auch Schüsse fielen. „Protestschreie brandeten auf: ‚Bluthunde, Noske-Banditen, Arbeitermörder’.“ Plötzlich befand er sich auf einem Treppenabsatz einem Polizisten gegenüber, der von den fliehenden Demonstranten mitgerissen worden war und schreckensbleich und mit Angst im Gesicht dastand. Er entlud sein Gewehr in der Hoffnung, daß, wenn ihn wütende Demonstranten er­wischten, ihm dann nichts geschehen würde. Da schoß es Willy durch den Kopf: „Der sieht eigentlich aus wie andere Menschen auch. Und Angst hat er ebenfalls. Ist doch ein ganz normaler Mensch und könnte ebenso gut Arbeiter sein statt Polizist.“ Dies – schreibt, Willy – hinterließ bei ihm einen unauslöschlichen Eindruck, obwohl er sich damals nur gefühlsbetont, quasi platonisch, wie er es nennen würde, politisiert hatte.

Als zweites Schlüsselerlebnis vermerkt er, nachdem er begonnen hatte, sich durch die wichtigste klassische und sozialistische Literatur hindurchzuarbeiten – Thomas Mann, Heinrich Mann, Remarque, Barbusse, Jack London, Upton Sinclair und Traven – seinen Besuch bei einem jungen Arbeitslosen.

Nun muß man wissen, daß Willy eine Lehre als Hotelkaufmann absolviert hatte, und er schreibt: „Das Elend und die nackte Not, die mir bei diesem Arbeitslosen begegneten, standen in grellem Kontrast zu dem Milieu, in dem ich mich von Berufs wegen befand. Ich war Lehrling im „Erbprinzen“ in Weimar … Prominente aus der „Creme der Gesellschaft“ wie Graf Henkel-Donnersmark, einer der reichsten Männer Deutschlands, der amerikanische Kupferkönig Guggenheim usw. waren dort zu Gast.“ Dieser Gegensatz machte ihm den Irrsinn einer Gesellschaftsordnung deutlich, in der es nichts ungewöhnliches für ihn war, halbe Filetsteaks, Schnitzel und angeknabberte Brat­hähn­chen in den Abfalleimer werfen zu müssen, während unter den Arbeitslosen nacktes Elend herrschte.

Er beschloß deshalb, nach der Beendigung seiner Lehre zusammen mit seinem Bruder, der als Arbeiter seine Erfahrungen in einem Betrieb in Mannheim gemacht hatte, in eine politische Partei ein­zutre­ten. Beide berieten sich mit einem alten Freund ihres Vaters, Georg Krenzler, einem Mannheimer Arbeiterführer, der wegen „linker Abweichungen“ aus der KPD ausgeschlossen worden und nur darum schließlich in die SPD eingetreten war. Krenzler gab ihnen ohne zu zögern den Rat: „Tretet ruhig in die KPD ein. Wenn ihr Augen und Ohren offen haltet, werdet ihr vieles lernen, was euch die SPD niemals geben kann.“ 1931 traten beide in die KPD ein.

Im März 1933 wurde Willy als 22jähriger ehemaliger KPD-Funktionär – er war Zellenleiter im Mannheimer Stadtteil Schwetzin­ger Stadt gewesen – ins Mannheimer Untersuchungsgefängnis und dann ins KZ Heuberg eingeliefert, in dem mit Häftlingen nicht eben glimpflich umgegangen wurde.

Nach einigen Monaten wurde er in das Lager Kislau bei Bruchsal verlegt, wo die Behandlung zumindest menschlicher war, weil dort noch die reguläre Polizei und nicht die SA- und SS-Büttel die Wach­mannschaft bildeten. Kurz vor Weihnachten wurde er mit den damals üblichen Auflagen – Meldepflicht bei der Polizei und Verbot politi­scher Tätigkeit – entlassen.

Daß Willy nicht wie eine Reihe anderer Mannheimer Genossen wegen Verteilen „staatsfeindlicher Flugblätter“ zum Tode verurteilt und dem Henker überliefert wurde, verdankt er einem Zufall.

Die KPD-Bezirksleitung hatte ihn, der wegen seines äußeren Habitus als Hotelkaufmann ihnen der Geeignetste hierfür schien und der zudem politisch und ideologisch gefestigt war, ausgewählt, in eine der Nazi-Formationen einzutreten, da man dringend interne Informa­tionen über ihre Tätigkeit brauchte. Zu diesem Zwecke mußte er offiziell aus der KPD austreten und durfte sich keinem der Genossen offenbaren, da dies die ganze Aktion gefährden konnte. Er befand sich deshalb 1933 isoliert von der Partei und ohne Instruktionen, weil diese Operation damals noch nicht abgeschlossen worden war.

Dennoch hatte bei seinem Verhör in Mannheim der spätere Gesta­po-Chef ihm auf den Kopf zugesagt, er sei nur aus der KPD ausgetre­ten, um in die Nazipartei und die SS einzutreten und dort Spitzeldienste für die KPD zu leisten.

Auch im Krieg hatte Willy Glück, dem er allerdings manchmal ein wenig nachhalf, aber erst nach dem Krieg sollte sich deutlich zeigen, daß er in der KPD nicht nur Parteidisziplin geübt hatte, sondern es auch nie aufgegeben hatte, selbständig zu denken.

Als die Überlebenden langsam begannen, wieder ihre politische Arbeit aufzunehmen, tauchten in Mannheim zwei junge Genossen wieder auf, die in Spanien gekämpft hatten und zuletzt im französi­schen Lager „Le Vernet“ interniert gewesen waren.

Sie kamen, ausgerüstet mit den neuen Weisheiten, die Stalin der Komintern verpaßt hatte, ehe er sie 1943 auflöste, und berichteten Willy: „Ja, also mit dem Kapitalismus und dem Klassenkampf und so weiter, das ist alles heute ganz anders. Was wir damals in der Partei gelernt haben, ist von der Geschichte überholt. Durch das Bündnis der Sowjetunion mit den ‚fortschrittlichen Demokratien’ (so hieß das damals) und mit dem Sieg der Alliierten über die Nazis hat sich die internationale Lage völlig verändert.“

Verblüfft hielt Willy ihnen entgegen, daß die westlichen Sieger doch kapitalistische, imperialistische Staaten seien, reaktionär und sozialismusfeindlich und daß Kapitalismus und Klassenkampf nicht voneinander zu trennen seien. Aber sie erwiderten, nachdem Sieg der Sowjetunion gemeinsam mit den demokratischen, kapitalistischen Mächten über den Faschismus werde es zu einer langen Periode relativ konfliktfreier Zusammenarbeit kommen, auf die sich auch die kom­munistischen Parteien einrichten müßten.

Willy führt es auf seine – wenn auch autodidaktische – marxistische Schulung zurück, daß er trotz bohrender Zweifel der stalinschen Perversion der leninschen Imperialismustheorie und Stalins Verball­hornung der bolschewistischen Außenpolitik nicht erlegen ist.

Aber war es nicht vor allem seine praktische Erfahrung mit der Besatzungspolitik der „amerikanischen Freunde“, die von Anfang an Kommunisten, die sich organisieren und politisch aktiv werden woll­ten, Steine in den Weg legten, die ganz und gar nicht an eine „friedliche Koexistenz“ mit auch nur potentiell antikapitalistischen Unruhe­stif­tern dachten, die den importierten stalinistischen Theorien wider­sprach?

Hier kommt eine der wichtigsten politischen Eigenschaften von Willy immer wieder zum Vorschein: sein Realitätssinn, der ihn davor bewahrte, auf die sich wandelnden und noch so schillernden Theorien hereinzufallen, die aus der stalinschen Küche kamen und mit denen Stalin immer wieder versuchte, die Theorie den Bedürfnissen der Bürokratie anzupassen.

Der Konflikt, der zu Willys Bruch mit der KPD führte, deren Landtagsabgeordneter er in Baden-Württemberg wurde, spielte sich in Berlin-Ost ab. Ulbricht hatte den Mannheimern ihr schlechtes Wahlergebnis vorgeworfen, woraufhin Willy die „Frechheit“ hatte, ihn darauf hinzuweisen, daß er doch in Berlin noch schlechter abge­schnitten hatte. Die Warnung, die er daraufhin erhielt, veranlaßte ihn, sofort mit seinem Fahrer, dem späteren DGB-Kreisvorsitzenden von Mannheim, abzuhauen, weil er sonst für ein paar Jahre aus dem Verkehr gezogen worden wäre. So wie es später „Kutschi“ Müller oder Schleifstein und vielen anderen erging, wenn sie nicht völlig auf Linie waren, oder auch nur als Oppositionelle verdächtigt wurde. Nur bedeutete der Bruch mit der KPD für ihn nicht, daß er mit dem Kommunismus brach. In langen Diskussionen mit Georg Jungclas erkannte er nach und nach, daß er in Wirklichkeit theoretisch auf dem Boden der Linken Opposition stand, ehe er den praktischen Schritt zur Vierten Internationale machte.

Zehn Jahre lang war Willy einer der wichtigsten Mitarbeiter an der Zeitschrift SOPO (Sozialistische Politik), die innerhalb der SPD ‑ obwohl stets in einem Zustand der Halblegalität – versuchte, alle zusammenzuführen, die den Boden des Marxismus nicht aufgegeben hatten. Ich glaube nicht, daß „Schorsch“ Jungclas trotz aller Nieder­la­gen und Enttäuschungen, trotz aller Differenzen, die in der Organisa­tion auftraten, hätte durchhalten können, wenn Willy nicht an seiner Seite gestanden hätte.

Ich habe gestern in alten Jahrgängen der SOPO nochmals gestö­bert, wobei mir einfiel, daß Radek geschrieben hat, Lenin habe ihn dabei erwischt, wie er in einem neu erschienenen Band von Lenins Aufsätzen aus dem Jahre 1903 blätterte. Das Gesicht Lenins habe ein schlaues Lächeln überzogen – schrieb Radek – als er spöttisch sagte: „Es ist sehr interessant jetzt zu lesen, wie dumm wir damals waren.“

Sicher gibt es auch in der SOPO solche Dummheiten, über die wir heute versucht sind zu lächeln. Aber auch diese „Dummheiten“ können wir nur verstehen, wenn wir sie aus der damaligen Zeit heraus beurteilen und wissen, in welchem Zusammenhang sie stehen.

So wird natürlich kaum ein junger Genosse oder eine Genossin verstehen, wenn er /sie in einem Artikel von Willy im Juli 1956 liest:

      
Mehr dazu
Willy Boepple: Sozialistische Politik 1954–1966, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024) (nur online).
W.A.: Willy Boepple (1911 - 1992). Ein Leben gegen den Strom, Avanti² (31.08.2022)
Manfred Behrend: Willy Boepples Lebensweg, Inprekorr Nr. 315 (Januar 1998).
Wolfgang Alles (Hg): Gegen den Strom. Texte von Willy Boepple (1911-1992), Neuer ISP Verlag (1997)
wa: Willy Boepple (1911-1992), Inprekorr Nr. 252 (Oktober 1992).
Interview mit Willy Boepple: „Der Sozialismus ist für mich keine Frage des Glaubens …“, Inprekorr Nr. 242 (Dezember 1991).
 

„Wir müssen in eigener Verantwortung vor dem deutschen Volke eine aktive Wiedervereinigungspolitik entfalten, die den vier Mächten gar keine andere Wahl läßt, als ihr zuzustimmen, wenn sie weiterhin mit uns Beziehungen aufrechterhalten wollen. Gibt nicht Tito ein gerade­zu schulmäßiges Beispiel dafür, daß dies möglich ist? Dazu als erstes: ein Ultimatum an die Regierung mit der Forderung, daß sofort eine be­vollmächtigte deutsche Delegation nach Moskau reise und über die russischen Bedingungen für eine Wiedervereinigung verhandle. Im Falle der Zurückweisung dieser Forderung ergreift die Partei (die SPD, J. M.) die Initiative und sendet eine Delegation, deren Verhandlungsprogramm genau umrissen sein und auf den bekannten sozialdemo­kratischen Programmpunkten beruhen muß. Sie wird – als die Regierungspartei von morgen – ihren russischen Verhandlungspart­nem ausreichende Garantien für das russische Sicherheitsbedürfnis bieten müssen, dem deutschen Volk aber den Weg zur Wieder­vereinigung freimachen. Unser Wille allein entscheidet, ob wir weiter­hin Objekt der Politik bleiben oder ob wir Subjekt der Geschichte werden wollen …

Wenn wir uns dafür einsetzen, daß die Sozialdemokratie eine solche Politik betreibt, dann sagt das nicht, daß wir Apostel der Koexistenz geworden sind … Wir wissen, daß allein der Druck der Massen das letzte Hindernis vor dem Krieg ist, wir wissen aber auch, daß jeder Tag ohne Krieg ein gewonnener Tag für das Ringen um eine sozialistische Welt bedeutet.“

All das klingt heute schrecklich unrealistisch. Aber wenn wir uns zurückversetzen in die Zeit, in der es Österreich über einen Staatsver­trag gelang, den Abzug der russischen Besatzung zu erreichen, eine Zeit in der durch Verweigerung des Eintritts in die NATO, durch eine militärische Neutralisierung Deutschlands die Einheit auf ganz ande­rem Wege als jetzt gekommen wäre, wo vertragliche Abmachungen auch soziale Errungenschaften in der DDR hätten nachhaltig schüt­zen, vielleicht gar auf die BRD übertragen können, dann wird wieder einmal deutlich: Die Geschichte ist nicht zwangsläufig so verlaufen, wie wir sie jetzt erleben. Es hat eine Alternative gegeben, und die SPD war damals die einzige Kraft, die sie gemeinsam mit den Gewerk­schaften hätte verwirklichen können. Wie stets zuvor sind diese spärlichen Chancen von ihr vertan worden und wir erleiden die Auswirkungen der 180 Grad Wendung der SPD zur NATO hin, weg von einer unter dem Druck der Massenbewegung möglich geworde­nen radikalen Abrüstung, auch heute noch.

Da wir nicht zu denen gehören, die insbesondere von Anwesenden „nihil nisi bene“, „nichts als nur Gutes“ sagen, möchte ich Willy drei Versäumnisse vorhalten, von denen er zumindest zwei noch gut machen könnte:

  1. Glaube ich, daß es sowohl von ihm als auch von uns ein Fehler war, die Aufforderung von Willy Bleicher nicht angenommen zu haben, sich bei der IG Metall als Hauptamtlicher zu bewerben. Ich kann nicht garantieren, daß wir hier dann heute eine riesige Geburtstagscour für ein ehemaliges geschäftsführendes Vorstands­mitglied der IG Metall erlebt hätten, aber bis zum Bevollmächtigten oder Bezirksleiter hätte er es ganz gewiß gebracht, was nicht nur für uns, sondern vor allem für die IG Metall von größtem Nutzen gewesen wäre.

  2. Sollte er versuchen seine verschiedenen Veröffentlichungen – sowohl externe als auch interne – mit entsprechenden Kommentaren für die jetzige Generation der politisch Aktiven herauszugeben.

  3. Aber muß ich insbesondere nach der Lektüre seiner Lebenserinnerungen, die mir zugänglich waren, ihn dringend bitten, sie weiter zuführen. Die Lektüre war nicht nur spannend für mich, sondern auch äußerst lehrreich. Ich bin überzeugt, daß für alle, die nicht das Vorrecht hatten, so lange mit ihm zusammenzuarbeiten wie ich, diese durch und durch politischen Aufzeichnungen sie auch ein wenig in ihrer eigenen Aktivität stabilisieren könnten. Sie könnten Zweifel beheben in dieser Zeit des erschreckenden Zusammenbruchs sowohl in den „irreal sozialistischen“ Staaten als auch der ideologischen Verwirrung und Kapitulation in der westlichen Linken. Mut und Zuversicht könnten so in die Zukunft des Sozialismus ge­schöpft werden, die untrennbar mit der Zukunft der Menschheit überhaupt verbunden ist.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 239 (September 1991). | Startseite | Impressum | Datenschutz