Geschichte

„Der Sozialismus ist für mich keine Frage des Glaubens …“

In diesem Jahr wurde Willy Boepple, Mitglied der IV. Internationale, 80 Jahre alt. Anlaß genug, um mit ihm über seine Geschichte, die mit der Entwicklung der IV. Internationale in Deutschland eng verbunden ist, zu sprechen. Willi Boepple trat 1930 der KPD bei und blickt heute auf über 60 Jahre aktives Engage­ment in der linken Arbeiterbewegung zurück. Seine Erfahrungen halten ihn auch heute noch davon ab, der Krise der deutschen Linken nachzugeben und – wie so viele – zu resignieren. Wir sind froh, daß WiIIy Boepple trotz seines hohen Alters die Arbeit der IV. Internatio­nale noch immer unterstützt und möchten ihm an dieser Stelle dafür danken. Für die Inprekorr-Redak­tion sprach Heinrich Neuhaus mit ihm über seine Geschichte, seine Sicht der Zusammenbrüche in Osteuropa und die Aufgaben und Perspektiven der heutigen Linken.

Interview mit Willy Boepple

 Willy, wenn Du zurückblickst auf die bisherigen 80 Jahre Deines Lebens, was waren die wichtigsten Wendepunkte?

Willy: Mein privates Leben war sehr bewegt. Diese Wendepunkte alle aufzuzählen, dürfte den Rahmen unseres Gesprächs sprengen. Politisch sind mein Bruder und ich durch unseren Vater beeinflußt worden, der in der Arbeiterbewegung als Mitglied der USPD bzw. der SPD aktiv gewesen ist. Seine kritische Haltung zur Sozialdemokratie hat uns davon abgehalten, in die SPD zu gehen. So kam es auch, daß wir beide nach dem Abschluß unserer Berufsausbildung – mein Bruder war Metallarbeiter, ich Hotelkaufmann – 1930 in Mannheim der KPD beitraten.

 Du warst im Krieg Soldat …

Ich habe mich von der Devise leiten lassen: Überleben ist alles. Deswegen habe ich versucht, mich zu drücken, wo ich nur konnte. Es gelang mir, als Schreiber beim Stab unterzukommen. Da konnte ich kleinere Sabotageaktivitäten an Nachrichtengeräten organisieren. Das war sicher nicht kriegsentschei­dend, aber es beruhigte ein bißchen mein schlechtes Gewissen. Kurz vor Kriegsende bin ich desertiert.

 Nach dem Krieg warst Du Mitbegründer der KPD in Mannheim, obwohl Du schon damals politische Bauchschmerzen wegen des politischen Kurses der „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialis­mus und der Orientierung auf die „fortschrittlichen Demokratien des Westens hattest.

Ich erinnere mich noch an die Diskussion mit zwei Genossen, die nach dem Krieg aus dem Exil heimkehrten. Die beiden, Schneiders Karlchen und Ludwig Cornelius, erzählten mir merkwürdige Dinge. Durch die „Anti-Hitler-Koalition“ hätte sich die internationale Lage grundlegend verändert. Entscheidend sei nicht mehr der revolutionäre Sturz des Kapitalismus, sondern das Bündnis aller „friedlichen, demokratischen und antifaschistischen Kräfte“. Derartige Sprüche kamen wie aus der Pistole geschossen. Ein Genosse von Daimler Benz fragte damals in einer Parteiversammlung: „Wie ist das? Wenn wir wieder etwas aufbauen, ohne daß sich etwas ändert, dann bauen wir doch den Kapitalismus auf?“ Ähnlich dachte ich auch, aber ich hatte noch die Hoffnung auf einen Wechsel: Wenn die Partei erstmal wieder gegründet ist, dann werden endlich echte, inhaltliche Auseinandersetzungen stattfinden und dieser ganze ideologische Schutt wird weggeräumt. Es kam natürlich anders. Der entscheidende Wendepunkt war der Zusammenprall mit Walter Ulbricht in Berlin. Das muß 1947 oder 48 gewesen sein – nach dem politischen Bruch der „Anti-Hitler-Koalition“, also nach dem Beginn des kalten Krieges. Die führenden Mitglieder der KPD hatten damals eine Sitzung mit Walter Ulbricht. Die gesamte Führungsclique saß im Halbkreis um seinen Schreibtisch. Ich saß auf der äußerst linken Seite. Ulbricht erhob die heftigsten Vorwürfe gegen uns: Daß wir nicht vorwärts kämen im Westen, daß wir die Politik der Partei der Massen nicht richtig verständlich machten und daß es immer wieder in der Partei oder zumindest in parteinahen Kreisen Kritik gäbe, an der Oder-Neiße-Grenze, an der Aussiedlungspolitik der Sowjetunion usw. Nachdem also weder ein Reimann noch ein Sperling oder sonstwer ein Wort zu sagen wagte – alle saßen wie die begossenen Pudel mit hängenden Köpfen da – ist mir der Kragen geplatzt: Es sei ganz offensichtlich, daß die Genossen hier in Berlin sich überhaupt kein Bild machen könnten von der Situation, in der wir uns befänden, und was die Oder-Neiße-Grenze betreffe, so müsse die Geschichte erst noch beweisen, ob das wirklich noch eine Politik sei, die man mit dem proletarischen Internationalismus vereinbaren könne. Ulbricht wurde rot vor Wut, schlug mit der Faust auf den Tisch und brüllte mich an: „Wenn der Genosse Stalin sagt, die Oder-Neiße-Linie ist endgültig und die Deutschen müssen da raus, dann ist sie endgültig und die Deutschen müssen da raus.“ Ich habe daraufhin erwidert: „Ja, Genosse Ulbricht, daß mag Deine Auffassung sein, meine ist es nicht, und die der Massen bei uns auch nicht.“

In einer Sitzungspause kam Anton Ackermann zu mir und sagte: „Willy, hau ab.“ Mehr hat er nicht gesagt. Erst als er mit Nachdruck sagte: „Willy, ich meine es ernst“, dämmerte mir, was er wollte. Ich habe meinen Fahrer, den Fritz Karg, alarmiert und wir sind sofort in Richtung Mannheim aufgebrochen. Ich war ziemlich verzweifelt, trug mich aber noch nicht mit Austrittsgedanken.

Ein oder zwei Tage später informierte ich auf einer Leitungssit­zung in Mannheim die Genossen. Da mußte ich erleben, wie Willi Grimm, ein von mir sehr geschätzter Genosse, aufsprang und brüllte: „Jawohl, dann wirst Du das eben lernen müssen. Wenn der Genosse Stalin Nein sagt, dann heißt das auch Nein, und es gibt keine Diskussion mehr.“ Da habe ich einen Wutanfall gekriegt. Ich bin aus dem Haus hinaus und durch die Stadt gelaufen. Ich zitterte am ganzen Leib und wußte, jetzt ist die Stunde da. Jahrelang hatte ich es mit mir herumgeschleppt, immer in der Hoffnung, durch Schulung und politi­sche Auseinandersetzung etwas wenden zu können. Willi Grimms Bemerkung – und er war ja eine der politisch und theoretisch fähigsten Kräfte in Mannheim – zeigte mir das Ausmaß nicht nur der politischen, sondern auch der persönlichen und moralischen Unterwerfung in der Partei. Das hat mir sozusagen das Genick gebrochen.

 Wie hast Du die Auseinandersetzung weitergeführt?

Zuerst legte ich meine Funktion als stellvertretender Vorsit­zender der KPD Baden-Württemberg nieder. Ich war dann noch etwa ein Jahr einfaches Mitglied in der Neckarstadt. 1948 wurde ich von den Genossen zur Delegiertenkonferenz nach Schwetzingen geschickt, die der Vorbereitung des Landesparteitages diente. In der Diskussion habe ich mich gleich zu Wort gemeldet und gewissermaßen ein Ko-Referat zur Deutschlandpolitik der Partei gehalten, das im Wesentli­chen auf einem Artikel August Thalheimers beruhte. Thalheimer hatte sich darin mit dem Ende des zweiten Weltkrieges und den daraus resultierenden Perspektiven befaßt. Mir wurde sogleich vorgeworfen, daß ich das „Geschreibsel des bekannten Renegaten Thalheimer“ verwerte. Mein früherer guter Freund Willi Grimm, der unter vier Augen auch furchtbar über die Partei geschimpft hatte, sprang schließlich auf und forderte, mir aufgrund meiner parteifeind­lichen Haltung das Mandat zu entziehen. Dazu kam es zunächst noch nicht, aber bei der Abstimmung meiner politischen Position blieb ich mit einer Stimme in der Minderheit. Sechs Delegierte hatten sich der Stimme enthalten, weil sie wohl nicht den Mut besaßen, für mich zu stimmen. Und dann wurde mir doch noch das Mandat entzogen. Ich ging nach Hause und erklärte in einem Brief an den Parteivorstand der KPD meinen Austritt: „Der Verlauf der Parteikonferenz hat mir gezeigt, daß ein Kommunist in dieser Partei nichts mehr zu suchen hat. Ich erkläre deshalb mit sofortiger Wirkung meinen Austritt. Das Präsidium des Baden-Württembergischen Landtages habe ich davon in Kenntnis gesetzt, daß ich mein Mandat als Abgeordneter niederle­ge.

 Wie hat die KPD auf Deinen Austritt reagiert?

Wenige Tage später bin ich in der KP-Presse als „Partei-Feind Nummer Eins“ denunziert worden. Meine losen Kontakte zur Gruppe „Arbeiterpolitik“ habe ich danach in eine feste Mitgliedschaft umgewandelt, obwohl ich von Anfang an Probleme mit deren reformi­stischer Position zur sowjetischen Bürokratie hatte.

 Am Rande hast Du die Gründungsphase der an Jugoslawien orientierten Unabhängigen Arbeiterpartei UAP mitgestaltet …

Ich hatte einen Gegenentwurf zu Wolfgang Leonhards Programmvorlage für die UAP geschrieben. Aber ich wurde damit abgespeist, daß man keine Zeit habe, dieses Zeug zu lesen und zu dis­kutieren. Es ginge schließlich darum, Wahlen zu gewinnen. Danach hatte ich nichts mehr mit der UAP zu tun, obwohl mich die Genossen der IV. Internationale, mit denen ich mittlerweile bekannt geworden war, beschworen, dabeizubleiben.

 Was hast Du Dir davon versprochen, in die IV. Internationale einzutreten?

Fundierte programmatische Positionen, auch um mir selbst über grundlegende Fragen wie die Entwicklung der Sowjetunion klar­zuwerden. Die gesamte Literatur dazu habe ich verschlungen. Aller­dings zögerte ich den Eintritt zunächst hinaus. Dieser Minihaufen von etwa zehn Leuten in der BRD war nicht gerade überwältigend. Den Ausschlag gab schließlich ein langes Gespräch mit Ernest Mandel. Entscheidend waren für mich die Antworten der IV. auf die Frage nach der Haltung zur Sozialdemokratie und zum Stalinismus, auf die Frage nach dem revolutionären Programm. Langsam wuchs unsere Sektion auch zahlenmäßig: 30, 50, 80 Mitglieder. Als wir schließlich in den 50er Jahren fast 100 Genossinnen und Genossen zählten, sind wir nahezu größenwahnsinnig geworden …

 Das war ja eine Zeit des scheinbar unaufhörlichen Zurückflutens der linken Arbeiterbewegung in Deutschland und eine Zeit der antikommunistischen Hetze. Wie habt Ihr Euch da politisch über Wasser halten können?

Die Rettung war der Entrismus in der SPD. Das glaubt mir zwar heute niemand, aber ich vertrete nach wie vor diese Auffassung. Sich dort gewisse Freiräume zu verschaffen, war die einzige Möglich­keit, die antikommunistische Hexenjagd zu überleben. Wir initiierten, wo es möglich war, marxistische Arbeitskreise in der SPD. Wir wandten uns vor allem den Falken und den Jungsozialisten zu.

 Die SPD war damals eine andere Partei als heute …

Klar, da gab es tolerante Linke. Z.B. Wischnewski hat sich in diesen Jahren loyal gegenüber den Trotzkisten in der SPD verhalten. Wir haben ihn damals sogar vom Parteiaustritt abgehalten.

 Hatte die Verbindung zur Internationale für Euch eine große Bedeutung?

Auf jeden Fall. Ich habe oft gesagt: „Genossen, stellt Euch vor, wir hätten nicht die Internationale. Stellt Euch vor, wir könnten niemals hören, daß in diesem oder jenem Land unsere Genossen Erfolg haben. Wir müßten doch verzweifeln.“ Das waren die beiden Elemente: die Zugehörigkeit zur Internationale und damit das Gefühl, nicht allein zu sein in dieser antikommunistischen Wüstenei, und gleichzeitig das Schwimmen im sozialdemokratischen Gewässer.

 Was hat die Zugehörigkeit noch bedeutet, abgesehen von den Informationen aus anderen Ländern?

Sie gab uns Selbstbewußtsein gegenüber anderen Linken und eine anerkannte Position in Fragen der „Dritten Welt“, wo die übrige Linke fast nichts aufzuweisen hatte. Unter anderem haben uns der algerische Befreiungskampf und die Aktivitäten der IV. zur Unterstützung der algerischen Revolution ungeheuer moralisch ge­stärkt. Wir bemühten uns, den Genossen der FLN, der algerischen Befreiungsfront, politischen Spielraum in der BRD zu verschaffen. Das ist uns über Hans-Günter Wischnewski und Fred Gebhardt auch gelungen, so daß die FLN offizielle Kontakte zur Bundesrepublik hatte. Wir organisierten die materielle und politische Solidarität mit der Befreiungsbewegung und gaben die Zeitschrift „Freies Algerien“ heraus. Das war eine Zeit lang der Schwerpunkt unserer Aktivität. Auch den Betrieb einer geheimen Waffenfabrik der FLN in Nordafrika unterstützten wir. Dort wurden unter anderem von deutschen Genos­sen Handfeuerwaffen für den Befreiungskampf hergestellt. Ich selbst mußte einmal Ersatzteile für die Produktion beschaffen.

 Als sich Mitte/Ende der 60er Jahre die Studenten- und Lehrlingsbewegung unter maßgeblichem Einfluß des SDS entwickelte, war das für die deutsche Sektion von großer Bedeutung, und Du warst davon direkt betroffen …

Ja, es vollzog sich damals die Umwandlung einer Arbeiter- in eine Studentenorganisation. Organisationspolitische und gesund­heitliche Gründe haben 1969 meinen Rückzug gefördert. Ende der 70er Jahre habe ich dann wieder engere Kontakte zu jüngeren Genos­sen bekommen. Vor allem übersetze ich für den isp-Verlag und die inprekorr. Ich bin also, soweit meine schwachen Kräfte das erlauben, wieder aktiv – und wie immer bei der Minderheit … (Lachen)

      
Mehr dazu
Willy Boepple: Sozialistische Politik 1954–1966, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024) (nur online).
W.A.: Willy Boepple (1911 - 1992). Ein Leben gegen den Strom, Avanti² (31.08.2022)
Manfred Behrend: Willy Boepples Lebensweg, Inprekorr Nr. 315 (Januar 1998).
Wolfgang Alles (Hg): Gegen den Strom. Texte von Willy Boepple (1911-1992), Neuer ISP Verlag (1997)
wa: Willy Boepple (1911-1992), Inprekorr Nr. 252 (Oktober 1992).
Rede von Jakob Moneta: Zum 80. Geburtstag von Willy Boepple, Inprekorr Nr. 239 (September 1991).
 
 Wenn Du den Zusammenbruch der stalinistischen Regimes in Osteuropa betrachtest, den scheinbaren Triumpf des Kapitalismus auf Weltebene, die Resignation und den Zerfall der Linken vor allem in Deutschland – was läßt Dich da noch an Deinen revolutionären Positionen festhalten?

Man könnte es vielleicht in einem Satz beantworten, so kompliziert das Ganze ist: Weil ich nicht an den Sozialismus glaube, sondern weil er für mich die einzige Alternative ist, auf die sich die Menschheit so oder so zubewegt. Ob sie ihn erreicht, ist eine andere Frage, selbst wenn 99 % aller linken Theoretiker im Orkus verschwin­den. Der Imperialismus wird sich nicht zum Guten ändern. Ausbeu­tung und Unterdrückung werden sich noch verschlimmern, und die Menschen werden reagieren. Es werden neue Führungen entstehen. Unsere Aufgabe ist es, günstige Voraussetzungen zu schaffen, damit die Massen, wenn sie nach neuen Führungen und nach Änderungen suchen, nicht bei Null anfangen müssen und die ganze Scheiße nicht wieder von Neuem durchmachen müssen. Für mich ist der Sozialis­ mus keine Glaubensangelegenheit. Ich weiß, daß Leute wie Remarque, Malraux oder Koestler, die begeisterte Stalinisten waren, zusammengebrochen sind, weil sie an den Sozialismus glaubten. Ich glaube nicht, sondern versuche, skeptisch und kritisch und vor allem selbst­kritisch zu sein.

Wenn der Imperialismus sich geändert hätte, eine neue Gesell­schaftsformation mit neuen Produktionsverhältnissen sich aufgrund der veränderten Weltsituation ergeben würde, dann könnte man sagen: Da gibt es vielleicht eine Chance, den Kapitalismus sozial verträglich zu gestalten. Aber es wird umgekehrt laufen. Die feste Überzeugung, daß die Menschen sich wehren und nach Führungen und Veränderun­gen suchen werden, das ist es, was mich nicht an ein verzweifeltes Hoffen oder einen Glauben klammern, sondern weitermachen läßt. Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll. Der Sozialismus ist für mich immer ein praktisches Ziel gewesen, der Aufbau einer gerechteren, vernünftigeren und – im Sinne von Engels – menschlichen Gesell­schaft. Das klingt vielleicht ein bißchen pathetisch, aber es ist so.

 Wir danken für das Gespräch.

Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 242 (Dezember 1991). | Startseite | Impressum | Datenschutz