Im April 1993 ist Ernest Mandel siebzig Jahre alt geworden. Auf Bitte der Inprekorr-Redaktion hat Jakob Moneta folgenden Geburtstagsbrief formuliert.
Jakob Moneta
Das Erste, das ich von Dir las, war Dein bewegendes Vorwort zu Abram Leon’s Conception materialiste de la question juive. Es erschien 1946. Du warst damals 23 Jahre alt, hattest glücklicherweise die Hölle des Nazismus überlebt. Deine Weggefährten, die begabten, vielversprechenden, jungen, theoretisch versierten, revolutionären Führungskader Marcel Hic, Widelin und Leon waren alle drei ermordet worden. Du schriebst damals über das Jahr 1940: „Die Lage schien nur Mutlosigkeit, oder Abwarten zu rechtfertigen. Jede andere Haltung sah nach verzweifelter und ohnmächtiger Revolte aus.“
Es fehlte jedoch nicht der Mut zu handeln, sondern zu denken, und richtig zu denken. Die marxistische Analyse konnte die bleierne Decke durchdringen, die auf Europa lastete und dort die sich herausbildenden Kräfte entdecken, die sie zum Einsturz bringen würden.“
Der Mut zu denken hat Dir nie gefehlt. Als Du nach dem Krieg in der Internationale, die aus Belgien nach Deutschland geschmuggelt werden mußte, schriebst, uns stünde eine Art „Gründerperiode“ bevor, also ein Aufschwung der Wirtschaft wie ihn Deutschland nach den drei unter Bismarck gewonnenen Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich (das schwere „Reparationen“ zahlen mußte) erlebt hatte, konnten wir das nicht glauben. Wir sahen die Entwicklung im Lichte dessen, was sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg abgespielt hatte: kurze Aufschwünge und rascher Niedergang: Du hast recht behalten.
Die Theorie der „langen Wellen“ hast Du nicht aus „äußeren Umständen“, sondern aus der inneren Entwicklung des Spätkapitalismus entwickelt. Mit Deiner Marxistischen Wirtschaftstheorie, bei Suhrkamp deutsch (1968) erschienen und Spätkapitalismus (1972) hast Du als einziger in der Vierten Internationale weltweite Anerkennung in der sozialistischen Linken und sogar Ansehen bei Konservativen als Wirtschaftstheoretiker erlangt.
Was Dich aber von ihnen unterschieden hat, war Deine Begabung komplizierte ökonomische Zusammenhänge in einer allgemein verständlichen Sprache darzustellen. Die Referate, die Du 1963 in einem Schulungslehrgang der PSU (der linkssozialistischen ‘Parti Socialiste Unifie’) gehalten hast, sind Deutsch im damaligen SDS-Verlag „Neue Kritik“ als Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie in 25 Auflagen und 120 000 Exemplaren erschienen. In zahlreiche Sprachen übersetzt, dürfte eine Auflage von fast zwei Millionen weltweit erreicht worden sein. Omar Cabezas, einer der bedeutenden militärischen Führer der Revolution in Nicaragua, berichtet in seinem wundervollen Buch Die Erde dreht sich zärtlich Compagnera, wie sich die unter unsäglichen Bedingungen im Urwald für den Partisanenkampf zum Sturz der blutigen Somoza-Diktatur Vorbereitenden dieses kleine Büchlein studierten, um sich mit der marxistischen Wirtschaftstheorie vertraut zu machen.
Du hast deine Sporen nicht nur als Theoretiker verdient. Im belgischen „Gewerkschaftsapparat“ konntest Du als intellektueller Berater von Andre Renard – dem bedeutenden Gewerkschaftsführer aus einer revolutionär-syndikalistischen Tradition – insbesondere im wallonischen Generalstreik 1960 kostbare Erfahrungen erwerben. Renards Broschüre Durch Kampf zum Sozialismus ist nicht zuletzt von Dir „inspiriert“ worden. Das hat Dich wohl auch gegen ultralinke Gewerkschaftskritik gefeit.
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„Nobody is perfect“. Auch Du hast, wie viele andere Spezialisten, Marxisten, Kommunisten vor Dir, Prognosen erstellt, die nicht – oder noch nicht – eingetroffen sind. Aber Du hast wieder einmal Mut zu denken bewiesen als Du in Trotzki als Alternative (1992 im Dietz-Verlag Berlin erschienen), alle, die den „Alten“, wie wir ihn liebevoll nannten, „ikonisieren“ wollen, entsetzt hast. Du hast seine „schwarzen Jahre 1920-1921“, sein Hinübergleiten zum „Substitutionismus“ (die Ersetzung der Arbeiterklasse durch die Parteiherrschaft), und die schlimmen Folgen hiervon, nicht unterschlagen.
Kaum bekannt ist, daß Du viele journalistische Artikel nicht nur unter dem Namen Pierre Gousset geschrieben hast. Ich lernte Dich übrigens Anfang der fünfziger Jahre als Redakteur der Rheinischen Zeitung in Köln kennen, als Du auf einer Reise nach Jugoslawien den Auftrag erhieltest, eine Serie über die „Selbstverwaltung in den Betrieben“ zu schreiben. Später hast Du zahlreiche Reportagen unter dem Pseudonym „Kipp“ für die Zeitung Metall verfaßt, wobei Du es verstanden hast, Deine tiefgreifenden Kenntnisse den Lesern verständlich zu vermitteln. Unter dem Pseudonym Gebhardt hast Du Dich schon sehr früh in einer Broschüre mit Carlo Schmidt auseinandergesetzt, der als Theoretiker der SPD galt.
Heute wird viel über die 68er Bewegung, darunter auch viel Unsinniges geschrieben. Du aber gehörtest zu den theoretischen „Inspiratoren“ und erhieltest prompt Einreiseverbot in die Bundesrepublik. Mit Deiner letzten Arbeit Power and Money, die hoffentlich bald Deutsch vorliegt, beweist Du wiederum Mut in unserer nicht eben „aufklärererischen“ Zeit zu denken. Du gehst den sozialen und historischen Wurzeln der Bürokratie im kapitalistischen Staat und in den Massenorganisationen der Arbeitenden nach und widerlegst die Ansicht, daß Bürokratie, Markt und Staat Ewigkeitswert haben. Deine Schlußfolgerung lautet:
Zu glauben, daß der Tendenz zur Selbstvernichtung der Menschheit Einhalt geboten werden kann, ohne das Konkurrenz-verhältnis ebenso zu überwinden wie die langfristige globale Irrationalität, den ‘Krieg aller gegen alle’ und die allgemeine Herrschaft von Habgier, ist keineswegs realistisch. Das ist wirklich utopisch. Das macht das „Jüngste Gericht“ (Anm.: den Untergang der Menschheit) wirklich unvermeidlich.
Sozialisten glauben, daß dies durchaus vermieden werden kann, wenn wir das Ausmaß an Rationalität in unserer kollektiven Verhaltensweise verstärken, wenn wir danach streben, die Zukunft selbst in unsere Hände zu nehmen. Das ist die Freiheit, die Selbstbestimmung, für die wir kämpfen. Zu glauben, daß die Menschheit dazu nicht fähig sei, bedeutet nicht „realistisch“ zu sein. Es bedeutet anzunehmen, daß Männer und Frauen von Geburt an unfähig sind zum Selbsterhaltungstrieb. Das ist purer Aberglaube, eine neue Version des Mythos von der Erbsünde.
Wir, die wir alle von Deinem Wissen profitiert haben, die Deine Standfestigkeit in der Verteidigung des Marxismus auch nach dem Niedergang der „nominal-sozialistischen“ Staaten überzeugend finden, die Deine Zuversicht in das Wiedererstehen einer revolutionär-sozialistischen Weltbewegung teilen, können nur hoffen, daß Du und Anne, die Dein bewegtes Leben mit Dir teilt, noch viele Jahre mit uns zusammen versuchen werdet, die Kräfte zu sammeln und zu motivieren, die nötig sind, um die Welt in unserem Sinne zu verändern.
In freundschaftlicher Verbundenheit, Euer Jakob Moneta
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 259 (Mai 1993). | Startseite | Impressum | Datenschutz