Theorie

Die künftige Funktion des Marxismus

Ernest Mandel


I


Die zukünftige Funktion des Marxismus ist identisch mit seiner vergangenen und seiner gegenwärtigen: die wichtigsten Entwicklungsprozesse der Weltwirklichkeit wissenschaftlich zu erklären, um den menschlichen Emanzipations­prozeß anzuleiten und zu befruchten, d. h. um einen entscheidenden Beitrag zur Schaffung einer besseren Welt zu liefern.

Meine erste zentrale These ist diese, daß es von Anfang an zwei getrennte, wenn auch dialektisch miteinander verbundene Kom­ponenten im Marxismus gegeben hat: eine wissenschaftliche und eine moralisch-politische. Es sind getrennte Komponenten, weil sie eine unterschiedliche innere Logik haben und unterschiedlichen Gesetzen unterworfen sind.

Wissenschaft kennt ihre eigene Gesetzmäßigkeit. Marx hat hervorgehoben, daß er größte Verachtung hat für einen Wissen­schaftler, der Forschungsergebnisse fälscht aus irgendwelchem Grund, und sei es angeblich zugunsten der sogenannten proletari­schen Partei. Wissenschaft kann gleich wem, inklusive der proletarischen Partei, nur dann helfen, wenn sie streng wissen­schaftlich ist, d. h. die Realität so genau wie möglich erfaßt und so gut wie möglich erklärt. Da wissenschaftliche Erkenntnisse immer nur vorläufig sind, immer durch neue Fakten und neue Arbeitshy­pothesen mindestens zum Teil überholt werden können, lehnen Marx und der Marxismus von Marx strikt jeden Dogmatismus ab. Für sie gibt es keine ewigen Wahrheiten und keine unfehlbaren Päpste, Generalsekretäre, Zentralkomitees oder Parteien. Nicht zufällig antwortete Marx in einem Gesellschaftsspiel auf die Frage, was denn sein Leibspruch sei: de omnibus dubitandum est (zweifle an allem). Das ist der wirklich wissenschaftliche Geist.

Aber genauso, wie es einen Dogmatismus der „endgültigen Wahrheiten“ gibt, gibt es einen Dogmatismus des totalen Zweifelns. Beide sind unwissenschaftlich. Wissenschaftliches Denken zweifelt nicht an der Gültigkeit sämtlicher wissenschaft­licher Erkenntnisse. Es zweifelt nur an ihrem endgültigen Charakter. Solange bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse und Arbeitshypothesen nicht eindeutig als falsch erwiesen wurden, behalten sie ihre (wenn auch nur vorläufige) Gültigkeit. Kein ernster Mediziner wird sich weigern, heute jemandem Impfstoff gegen Cholera zu geben, nur weil es theoretisch möglich wäre, daß man in zehn Jahren einen besseren finden könnte oder entdecken würde, daß der jetzige Impfstoff Schäden hervorruft, die noch schlimmer sind als die Cholerakrankheit. Der Zweifel Marxens und des Marxismus ist deshalb ein konstruktiv-positiver, das wissenschaftlich bereits Erreichte voll anerkennender und berücksichtigender, kein nihilistisch-kontemplativer Zweifel. Er schließt sowohl die Anerkennung des bereits Erreichten wie auch das ständige Bemühen um seine Erweiterung ein.

Marxismus als Gesellschaftswissenschaft, als Versuch der wissenschaftlichen Erklärung globaler historischer Prozesse, ist also nicht nur eine Methode, sondern auch das vorläufige Ergebnis der Anwendung diese Methode auf eine Reihe zentraler Probleme der Menschheits­geschichte: Nichtidentität von Gesellschaft und Staat; zeitliche Beschränkung der Gültigkeit sämtlicher Wirt­schafts­gesetze; zeitliche Vergänglichkeit sämtlicher Wirtschafts­ordnungen; Ursprung von Staat und Klassenteilung der Gesell­schaft in der Aneignung durch einige des durch andere produzier­ten gesellschaftlichen Mehrprodukts und der vorher durch die gesamte Gesellschaft ausgeübten Verwaltungs­funktionen; funda­mentale Zurückführung der gesellschaftlichen, sowohl ökonomi­schen wie politischen und ideologischen Konflikte auf die letzten Endes durch materielle Interessen bedingten Klassenkämpfe bzw. Kämpfe zwischen entscheidenden Klassenfraktionen; Auf­deckung der inneren Gesetzmäßigkeit der großen, aufeinander­folgenden, auf grundlegend unterschiedlichen Produktionsver­hältnissen aufgebauten Produktionsweisen, an erster Stelle der auf dem fundamentalen Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital aufgebauten kapitalistischen Produktionsweise; relative Autono­mie des „subjektiven Geschichtsfaktors“: Die Menschen machen ihre Geschichte selber, wenn auch nicht in willkürlicher Weise, d. h. parametrischer, dialektischer und nicht mechanisch-ökonomi­scher Determinismus. Am Ende jeder großen historischen Gesellschaftskrise gibt es zwei oder drei mögliche Ergebnisse und nicht nur ein einziges. Diese Erkenntnisse behalten heute ihre volle Gültigkeit.

Aber Marxismus ist nicht nur Wissenschaft. Er ist auch Testamentsvollstrecker, Erweiterer, Verallgemeinerer des Emanzipationsstrebens der Aufklärung, deren inneren Widersprüche er dadurch überwindet. Für Marx und den Marxisten gilt der kategorische Imperativ – dieses Wort gebraucht Marx ausdrück­lich – alle gesellschaftlichen Bedingungen zu bekämpfen und umzuwerfen, in denen der Mensch ein unterdrücktes, ausgebeute­tes, verachtetes, entfremdetes Wesen ist, wohlgemerkt: alle Bedingungen, nicht nur die halbfeudalen oder kapitalistischen! Für Marxisten, die im Geiste Marxens dachten und handelten, war es also selbstverständlich, alle entfremdenden und unmenschli­chen Verhältnisse in der UdSSR, in Osteuropa, in der VR China anzuprangern und zu bekämpfen. Die politische Strömung, die ich vertrete, tut dies seit mehr als sechzig Jahren. Stalin hat sie deshalb als seinen Hauptfeind angesehen und sie in der UdSSR praktisch bis zum letzten Mann und bis zur letzten Frau ermordet.

Heute, nach dem Sturz des Stalinismus, Marx und die Marxisten für seine Greuel verantwortlich zu machen, ist genauso unhistorisch, unlogisch und ungerecht, wie wenn man nach Anfang der Reformation die Autoren der Bergpredigt oder, noch absurder, die Albigenser oder Thomas Münzer für die Greuel der Inquisition oder der Hexenverbrennungen verantwortlich ma­chen würde.

Das moralisch-politische Engagement, das dem Marxismus innewohnt, ist streng von der wissenschaftlichen Komponente des Marxismus zu trennen. Marxisten bekämpfen nicht Ausbeutung, Unterdrückung, massenhafte Gewaltanwendung gegen Men­schen, massenhaftes Unrecht nur insofern, weil dieser Kampf etwa die Entwicklung der Produktivkräfte oder den genauer definier­baren geschichtlichen Fortschritt oder den proletarischen Klas­senkampf fördert. Sie bekämpfen diese Erscheinungen schon ganz bestimmt nicht nur in dem Maße, als es wissenschaftlich bewiesen ist, daß dieser Kampf mit dem Sieg des Sozialismus enden wird.

Sie bekämpfen Ausbeutung, Unterdrückung, Unrecht, Entfremdung als unmenschliche, des Menschen unwürdige Zustände. Das fundiert ihre Motivation und genügt ihr. Was die Wissen­schaft aussagt über die Erfolgschancen bzw. Bedingungen dieses Kampfes, ist ein zusätzliches Element dieses moralisch-politi­schen Engagements, nicht ein bestimmendes.

Auch wenn die Wissenschaft aussagen würde, daß es in absehbarer Zeit keinerlei Erfolgschancen eines solchen Kampfes gibt, ist man noch ein besserer Mensch, wenn man versucht, dem Sklavenhalter, der den Sklaven auspeitscht, die Peitsche aus der Hand zu reißen, oder wenn man versucht, einen Aufstand gegen die Massenmörder im Warschauer Ghetto zu organisieren. Widerstand gegen unmenschliche Verhältnisse ist Menschenrecht und Menschenpflicht – unabhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Voraussagen. „Wenn man ein Ochse wäre, könne man natürlich den Menschheitsqualen den Rücken kehren und für seine eigene Haut sorgen“, schrieb Marx im Jahre 1867. Das ist der Unterschied zwischen dem Verhalten eines Ochsen und dem eines der Menschenwürde würdigen Menschen.

Deshalb identifizierten sich Marx und Engels mit den Rebellen in vorkapitalistischen Gesellschaften, auch wenn sie sich dessen bewußt waren, daß sie die radikalen Ziele dieser Sozialrevolutio­näre unter den gegebenen Umständen nicht realisieren konnten.

Es ist gerade diese Verknüpfung zwischen wissenschaftlichem Erklärungsanspruch und moralisch-politischem Engagement, die dem Marxismus seine einmalige Anziehungskraft gibt – gestern, heute und morgen. Es ist die Verbindung zwischen Ratio und Emphase, zwischen Geist und Herz, zwischen kritischer Individualität und Solidarität mit der Menschengattung, zwischen Selbsterhaltungstrieb und Gewissen, die dem tieferen Wesen der menschlichen Natur entspricht.

Deshalb werden die klarsten Köpfe und die großmütigsten Herzen jeder aufeinanderfolgenden Generation – die französischen Wörter „lucide“ und „genereux“ gefallen uns da besser ‑ immer wieder vom Marxismus angezogen werden.


II


Es entspricht einem großen Mißverständnis anzunehmen, der Ausgangspunkt des Marxismus sei eine falsche, einseitige, überoptimistische Einschätzung der menschlichen Natur oder sogar eine chiliastische Utopie, eine säkularisierte Religion, die Hoffnung auf eine totale Wiedervereinigung von Mensch und Natur, Individuum und Gesellschaft. Genau das Umgekehrte trifft zu.

Das Marxsche Menschenbild geht von einer realistischen Einschätzung des Menschen als einem widerspruchsvollen Wesen aus: Widerspruch, der bereits in der Aristotelischen Formel des „Zoon politikon“, des politischen Tieres, genauer: des gesellschaftlichen Tieres, zum Ausdruck kommt. Die zeitgenössische Tiefenpsychologie, denken wir an erster Stelle an Freud, hat diesen Doppelcharakter des Menschen durchaus bestätigt. Er verbindet Individualismus und Sozialisation, Egoismus und Solidarität. Destruktivität und Kreativität, das „Es“ und das „Über-Ich“, Thanatos und Eros, Irrationalität und Rationalität.

Was das marxistische Menschenbild von dem liberal-konservativen Pessimismus unterscheidet, ist nicht ein naiver Glaube an die „Güte des Menschen“. Es ist eine deutlichere Einsicht in die Vielfalt der menschlichen Möglichkeiten, in die Möglichkeit der stärkeren Entfaltung der kreativen als der destruktiven Potenzen. Dafür gibt es eine materielle Basis: die von Hegel und Marx stammende Erkenntnis, daß das „Zoon politikon“ nur durch gesellschaftliche Arbeit überlebensfähig ist. Die gesamte zeitge­nössische Anthropologie bestätigt diese Arbeitshypothese. Aber gesellschaftliche Arbeit ist unmöglich ohne gesellschaftliche Kommunikation und setzt ein Minimum an gesellschaftlicher Solidarität voraus. Zu leugnen, daß eine Gesellschaft, die auf kreativer Solidarität aller aufbaut, zumindest möglich ist, und anzunehmen, der Mensch sei „reiner Egoist“, bedeutet demnach, einen Wesenszug – einen, nicht den einzigen – der menschlichen Natur zu leugnen.

Der historische Sinn des Sozialismus, der im Marxismus am deutlichsten zur Geltung kommt, liegt darin, solche gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen, in denen sich die kreativen Tendenzen der Menschen besser entfalten können als die destruktiven, die rationalen besser als die irrationalen. Mehr beanspruchen die Marxisten nicht, aber was sie beanspruchen, das ist bitter nötig. Heute haben die zerstörerischen Potenzen menschlichen Handelns einen riesigen Umfang angenommen. Man denke an die Waffentechnik, an die Umweltzerstörung, an die 16 Millionen Kinder, die jedes Jahr an Hunger und heilbaren Seuchen in der Dritten Welt sterben, an die Gefahren einer sich ausdehnenden Hungerkatastrophe, an vergiftete Lebensmittel, an die Drogenseuchen, an die Barbarei von Auschwitz und Hiroshi­ma. Da kann es sich die Menschheit einfach nicht mehr leisten, Destruktivität und Kreativität, Irrationalität (inklusive getragen durch auf die Spitze getriebene Teilrationalität) und Rationalität nebeneinander spontan sich entfalten zu lassen. Wenn es der Menschheit nicht gelingt, in den kommenden Jahrzehnten solche gesellschaftlichen Zustände zu schaffen, in denen die Destruktivi­tät, der kurzsichtige Egoismus, der „Kampf aller gegen alle“ entscheidend zurückgedrängt wird, dann wird unsere Gattung physisch untergehen.

Die Botschaft des Marxismus lautet: Ein entscheidendes Zurückdrängen der destruktiven irrationalen menschlichen Potenzen ist in einer auf Bereicherungstrieb und Konkurrenz aufgebauten Gesellschaftsordnung, in der immer wieder Privatinteressen auftauchen, die helfen, Giftgase zu produzieren, unrealisierbar. Es erfordert eine radikale Umgestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur auf die Grundwerte von Kooperation und Solidarität. Es erfordert Produktions- und Kommunikationsverhältnisse, die diese Grundwerte produzieren und reproduzieren. Das ist heute im buchstäblichen Sinne des Wortes eine Überlebensfrage der Menschheit. An dieser Erkenntnis ändert der Zusammenbruch des Stalinismus nicht das geringste.

Liegt in dieser Menschensicht des Marxismus, wenn nicht ein chiliastischer Wunschtraum, so doch eine intellektuelle Arroganz, die Neigung, die Menschen gegen ihren eigenen Wunsch glücklich machen zu wollen? Mitnichten.

Was das Marxsche Sozialismus-Projekt gerade am eindeutigsten von allen vormarxistischen unterscheidet, ist die Absage an jeglichen substitutiven Emanzipationsanspruch, der, von Plato abstammend, in der zeitgenössischen Arbeiterbewegung vor allem durch die stalinistische, maoistische und rechtssozialdemokratische Tradition verkörpert wird. Die Marxschen Thesen über Feuerbach sagen bereits klipp und klar: „Die Erzieher müssen selbst erzogen werden.“ Der ganze Marxismus mündet im Begriff der Selbstemanzipation der breiten Masse der Lohnarbeiter:

„Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein“, nicht jenes von Experten, Wissenschaftlern, Philosophen, Staaten, Regierungen, Parlamenten, Parteien, wie nützlich diese auch als Instrumente der Emanzipation sein mögen.

Wenn man eine zentrale Lehre aus den historischen Katastrophen des Stalinismus, Maoismus und Rechtsreformismus ziehen kann, so ist es vor allem diese: daß jeder Versuch, die Menschen gegen ihren Willen glücklich machen zu wollen, zum Scheitern verurteilt ist. Ich sage: jeder Versuch, nicht nur jener des Staatsdespotismus, auch jener der Hypostase der angeblichen Wirtschaftseffizienz, auch jener des Marktdespotismus, des Despotismus der Brieftasche und des Geldschranks. Die politische Strömung, zu der ich gehöre, hat als Hauptvertreter Leo Trotzki, der mit Ausnahme seiner „schwarzen Jahre“ 1920/21 diesen Hauptgedanken von Marx: Selbsttätigkeit, Selbst­organisa­tion, Selbstbefreiung der breiten Masse der Werktätigen, zum Schlüsselgedanken seines Handelns gemacht hat. Dasselbe gilt für unsere andere Galionsfigur Rosa Luxemburg. Die Zukunft der Arbeiterbewegung, die Zukunft der menschlichen Emanzipation, die Zukunft der Menschheit liegt dort und nirgends anderswo. Dies trifft heute noch mehr zu als vor oder nach dem Ersten Weltkrieg.

Das historische Ziel der Selbstbefreiung der breiten Masse stützt sich keineswegs auf die Arbeitshypothese, daß die Masse oder, politisch ausgedrückt, die Mehrheit der Bürger/Bürgerin­nen, der Wähler/Wählerinnen „immer recht hat“. Diese Annahme ist genauso absurd wie jene der Allwissenheit der Experten.

Da wir die Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse voll und ganz in unser Gesellschaftsbild und unsere emanzipatorische Zielsetzung einbauen, sind wir davon überzeugt, daß Experten, auch politische Experten, auch Vorhutorganisationen, auch Parteien oft – nicht immer – gegen die Mehrheit recht haben können.

Was aber das Ziel der Selbstbefreiung der breiten Masse wohl beinhaltet, ist der tiefste Wesenszug der Demokratie, nämlich das Recht auf Irrtum, ohne welches eine wahrhaft pluralistische Demokratie nicht funktionieren kann und das durch den uneingeschränkten politischen Pluralismus untermauert werden muß.

Das Recht auf Irrtum schließt die Fähigkeit zur Selbstkorrektur der breiten Masse mit ein, d. h. die Fähigkeit zur erfahrungsbe­dingten Selbsterziehung. Dies ist überhaupt die einzige wirksame Form der Massenerziehung.

Der breiten Masse Entscheidungsmacht in Wirtschaft, Staat und Gesamtgesellschaft zu untersagen unter dem Vorwand, sie könne Fehlentscheidungen treffen, ist dasselbe – wie es bereits der junge Marx in seinem Kampf für die Pressefreiheit aussprach –, als einem Menschen zu verbieten, ins Wasser zu steigen, um schwimmen zu lernen, unter dem Vorwand, er könne dann ertrinken. Aber man kann nicht schwimmen lernen, ohne ins Wasser zu steigen.

Die Masse der Bürger und Bürgerinnen, die Masse der werktätigen Menschen, deren Souveränität man einschränkt zugunsten jener einer Minderheit von Unternehmern, Kapitalbesitzern, Berufspolitikern, Beamten und Experten, wird dann zu einer verantwortungslosen Masse. Eine verantwortungslose Masse ist weitgehend eine zur Korrektur der eigenen Fehler und der Fehler anderer unfähige Masse. Verallgemeinerte Verantwortungslosigkeit führt zu verallgemeinerter Irrationalität und Destruktivität, d. h. zum Untergang der Menschheit.

Heute erkennt jedermann die Unsinnigkeit des Ersten Weltkrieges. Er hat mehr Tote gekostet als der Stalinismus. Kein Mensch kann behaupten, Marx oder der Marxismus wären für ihn verantwortlich.

Wenn Hunderttausende von Jugendlichen und Soldaten in der vorangehenden Periode nicht nur die moralisch-politische, sondern auch die praktisch-erfahrungsbedingte Erziehung gekannt hätten, daß es Recht und Pflicht sei, unverantwortlichen Befehlen von Armeekommandeuren, Kaisern, Königen, Regierungsführern den Gehorsam zu verweigern, dann hätte ein Großteil dieser nutzlos geopferten 15 Millionen gerettet werden können.

Radikalkonservative Gegner des Marxschen Sozialismus behaupten oft, er wolle die Rechte der menschlichen Persönlichkeit durch die „Herrschaft des Mobs“ ersetzen. Konservative Kritiker aller modernen Revolutionen finden auch da ihren Ansatzpunkt. Was diese Damen und Herren übersehen, ist, daß der sogenannte „Mob“ selbst aus menschlichen Persönlichkeiten besteht, daß jede einzelne dasselbe Recht auf Selbstverwirklichung, Selbstbestätigung, eigene Gefühle und eigene Intelligenz besitzt wie die Individuen der privilegierten Klassen und Schichten. Die elitäre Arroganz der Konservativen zeigt sich darin, daß der „rohen Masse“ dieses Recht auf Individualität abgesprochen wird.

Marie-Antoinette hatte das Recht, um die Zukunft ihrer Kinder zu bangen, wird gesagt. Aber Hunderttausende von Volksfrauen in Paris, die man brutal mit der Vernichtung ihrer Stadt bedrohte, hatten anscheinend nicht dasselbe Recht wie die Königin, das Leben und die Zukunft ihrer Kinder zu schützen. Der Unterschied liegt also nicht in der angeblichen Verteidigung der Rechte der menschlichen Persönlichkeit durch die Konservativen und ihrer Verleugnung durch die Marxisten. Er liegt vielmehr in der Weigerung der Konservativen, dasselbe Recht allen Individuen zuzugestehen sowie die ökonomischen und politischen Bedingungen zu schaffen, damit sich dieses Recht auf Individualität und Subjektivität auf alle Menschen tatsächlich ausdehnen kann.

Selbstverwaltung und Selbstbefreiung der breiten Masse sind allerdings an materielle Bedingungen gebunden. Die Masse der Produzenten/Produzentinnen, Konsumenten/Konsumentinnen muß die Zeit haben, ihre Verhältnisse selbst zu verwalten. Die radikale Verkürzung des Normalarbeitstages auf den halben Arbeitstag ist damit ein zentrales historisches Ziel des Marxschen Sozialismus. Auch das ist heute aktueller denn je, und dies in einem doppelten Sinn.

Zum einen macht die dritte technologische Revolution, die in vollem Gang ist, diese Arbeitszeitverkürzung ökonomisch möglich, genauso wie sie den Unterbau zur verallgemeinerten Selbstverwaltung sichert. Durch Datenspeicherung und Time Sharing ist heute allen Bürgern und Bürgerinnen der freie Zugang zu den Informationen ermöglicht, die verantwortliche Beschlußfassung begründen. Ausschluß von diesen Informationen entspricht keinerlei technologischem Sachzwang mehr, Geheimhaltung entlarvt sich als ausschließliche Folge egoistischer Privatinteressen. Privateigentum und Staatssicherheit werden hier ökonomischen und menschlich gesellschaftlichen Bedürfnissen übergeordnet.

Zum anderen erfordert aber gerade die dritte technologische Revolution eine radikale Ausdehnung und Rationalisierung der individuellen Kreativität, die im Rahmen des Privateigentums genauso unerreichbar ist wie im Rahmen der despotischen Staatswirtschaft.

Man hat das Scheitern der staat­lichen Kommando-Wirtschaft in der UdSSR und der DDR oft zurückgeführt auf das Versagen der Bürokratie, die dritte technolo­gische Revolution in all ihren Po­tenzen zu verwirklichen. Diese Erklärung enthält ohne Zweifel einen wahren Kern. Dieses Versa­gen steht in engem Zusammenhang mit der produktivitätshindernden Funktion der bürokratischen Zen­tralisierung, die die freie Entfaltung der Kreativität auf Betriebsebene, wenn nicht auf Forschungsebene, einschränkt und oft sogar unter­bindet.

Aber wie steht es diesbezüglich mit der kapitalistischen Marktwirt­schaft? Kann der durchschnittliche Lohn- und Gehaltsempfänger, können die Milliarden von Produzenten/Produzentinnen, die welt­weit in subalterner Position stehen, sich frei kreativ betätigen? Nur ein dogmatischer Apologet der beste­henden Gesellschaftsordnung wird diese absurde These vertreten.

In Wirklichkeit ist die überwäl­tigende Mehrheit der Lohnabhän­gigen, mit wenigen marginalen Ausnahmen, von jenen kreativen Möglichkeiten ausgeschlossen. Sie folgen lediglich Befehlen und Ins­truktionen. Aber das bedeutet, daß ein riesiges Potential produktiver, durch die dritte technologische Revolution freigesetzter Möglich­keiten im Rahmen der kapitalisti­schen Marktwirtschaft nicht aus­genützt werden kann. Und wenn wir von produktiven Möglichkei­ten sprechen, so meinen wir nicht nur und nicht einmal an erster Stelle Möglichkeiten der Erweiterung der materiellen Erzeugung, sondern Möglichkeiten des Umwelt­schutzes, der radikalen Erneuerung der Technologie in einem menschen- und naturfreundlichen Sinne, der Humanisierung des Konsums usw.

Marxens prophetische Worte aus den „Grundrissen“, daß die Entwicklung der kapitalistischen Technologie selbst dem Umschlag­punkt zustrebt, wo nicht mehr die Arbeitszeit, das heißt die Aneig­nung fremder Arbeit, sondern der Umfang der Muße, der Freizeit, das Maß des Reichtums bestimmen wird, sind heute dabei, verwirklicht zu werden: radikale Erweiterung der Freizeit, radikale Verlängerung der nun über das gesamte Leben zu verteilenden Schul- und Lernzeit, das heißt Erweiterung von Produktivität durch Kreativität der Muße, radikale Umgestaltung des Verhältnisses von Arbeitszeit/Lernzeit/Freizeit. Die klügsten Unternehmer fangen an, das genauso zu verstehen wie die Marxisten. Aber sie können diese Erkennt­nisse in der kapitalisti­schen Gesellschaft genausowenig global umsetzen wie die reformerischen Bürokraten in der UdSSR. Dazu bedarf es eben des Marxschen Sozialismus, einer Gesellschaft, in der die Selbstverwirklichung aller von der kreativen Selbstverwirklichung der großen Mehrheit der einzelnen Individuen abhängt.


III


Ist der Marxsche Sozialismus trotz seiner Aktualität und der Tatsache, daß seine Verwirklichung als Etappe menschlicher Emanzipation wünschenswert bleibt, mangels eines adäquaten „revolutionären Subjekts“ dazu verurteilt, unrealisiert zu bleiben? Konkreter ausgedrückt: Ist die Selbstemanzipation der breiten Masse unmöglich, weil sie dazu entweder unfä­hig oder unwillig ist?

Diese Frage kann man nur empirisch-praktisch, gestützt auf die Studien der Gesamtgeschichte des 20. Jahrhunderts – der Gesamtgeschichte, nicht will­kürlich ausgesuchter Fragmente – beantworten. Die Emanzipationsbewegung der modernen Lohnarbeiterschaft im breitesten Sinne des Wortes – aller jener, die unter dem ökonomischen Zwang stehen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen – und der politische Einfluß des Marxismus sind zwei gesellschaftliche Prozesse, die getrennt verlaufen, auch wenn sie periodisch zusammenfließen. Man kann Ideen, Programme, politische Entscheidungen danach beurteilen, ob sie den Zielsetzungen des Marxschen Sozialismus konform oder nicht konform sind. Man muß Streiks, Massendemonstratio­nen nicht in erster Reihe an diesem Kriterium messen. Für sie ist nicht die ideologische Form bestimmend, sondern der Ursprung und die objektive Funktion: Sind es selbständige Aktionen der handelnden Masse, das heißt, sind sie kein Ergebnis reinen Gehorchens irgendwelcher Obrigkeit? Ändern sie die gesellschaftliche Kräfteverhältnisse objektiv zugunsten der Lohnarbeit und zuungunsten des Kapitals?

Die Gretchenfrage der Marxisten ist selbstverständlich ihre Fähigkeit, sich mit dieser realen Emanzipations­bewegung der Lohnabhängigen zu verbinden, sie zu beeinflussen, zu befruchten und davon zu überzeugen, die Verwirklichung des sozialistischen Zieles praktisch anzustreben.

Wir sagen: sie davon zu überzeugen. Denn aus all dem vorher Gesagten geht eindeutig hervor, daß kein Marxist auch nur einen Augenblick versuchen sollte, die Mehrheit der Werktätigen mit Gewalt oder administrativen Mitteln zu zwingen, gegen ihren Willen oder gegen ihre Überzeugung irgendein Ziel zu verwirkli­chen.

Hier formuliere ich meine zweite zentrale These: Wenn es heute weltweit eine tiefe Krise der Glaubwürdigkeit des Sozialis­musprojekts gibt, so ist diese nicht an erster Stelle auf irgendwel­che Unzulänglichkeiten der Marxschen oder der sozialistischen Theorie im breiteren Sinne zurückzuführen. Diese Krise ent­spricht an erster Stelle einer Krise der Praxis der organisierten Arbeiterbewegung, vor allem der großen Massenparteien, die aus dieser Bewegung hervorgegangen sind.

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß bis Anfang der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts – mit einer kurzen Unterbre­chung in den Jahren 1914–1916 – Millionen, wenn nicht Dutzende Millionen von Menschen, zutiefst von der Möglichkeit und der Notwendigkeit der Verwirklichung des sozialistischen Endzieles überzeugt waren. Nach 1933 ging die Überzeugung in Mittel­euro­pa zurück, dehnte sich jedoch im Westen und anderswo bis spät in die vierziger und die fünfziger Jahre weiter aus. Diese Millionen haben diese ihre Überzeugung in gewaltigen Anstrengungen und riesigen freiwilligen Opfern zum Ausdruck gebracht. Man kann dies mit zahllosen empirischen Daten belegen.

Wenn diese Überzeugung heute weitgehend verschwunden ist, so vor allem deswegen, weil nach hundert Jahren oder mehr dieser Bemühungen breite Massen eine Zwischenbilanz gezogen haben, die ebenfalls auf zahllosen empirischen Daten beruht, und einer praktischen Erfahrung entspricht: Das Endziel ist nirgend­wo in der Welt verwirklicht worden.

Im Unterschied zum Ideologenstreit über den „real existierenden Sozialismus“ wissen die breiten Massen genausogut wie die Marxisten, daß der Sozialismus, wie sie ihn verstanden, nirgendwo in der Welt real existiert oder existierte, nirgendwo auch nur annähernd verwirklicht wurde. Sowohl die stalinistischen/nach­stalinistischen wie die sozialdemokratischen Parteien haben sich außerstande gezeigt, das sozialistische Ziel zu erreichen.

Die Marxsche Geschichtsbetrachtung schließt ein, daß eine neue Gesellschaftsordnung nur dann endgültig zum Durchbruch kommt, wenn ihre entscheidenden Momente bereits weitgehend im Schoße der alten Gesellschaft herangereift sind. Deshalb konnten die ersten – unreifen – Formen der neuen Gesellschaft wohl in einem Lande wie Rußland, vor allem aus subjektiven Gründen, zum Durchbruch kommen, aber der abgeschlossene Aufbau des Sozialismus war dort wie überhaupt in irgendeinem einzigen Land oder einer isolierten Gruppe von Ländern von vornherein unmöglich. Er kann nur in den führenden Industrieländern der Welt insgesamt erreicht werden.

Über das Versagen und die fürchterlichen Verbrechen des Stalinismus/Nachstalinismus braucht man heute dem allgemein bekannten keinerlei Kommentar hinzuzufügen. Die stalinistische Diktatur hat in der UdSSR – um uns nur auf dieses Land zu beschränken – eine Million Kommunisten und viele Millionen von Arbeitern und Bauern getötet. Sie hat dazu geführt, daß nahezu 50 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben. Es ist jedoch angemessen, das parallele Versagen der Mehrheitssozialdemokra­ten zu unterstreichen.

Ihre Verbrechen sind geringer als jene der Stalinisten, aber nur gerade geringer. Man denke nur an die Toten der von Sozialdemo­kraten geführten oder mitgeführten Kolonialkriege, an die Opfer der Folter in Algerien. Man denke an die Mitverantwortung am Ersten Weltkrieg, die wirkliche Wasserscheide in der Geschichte unseres Jahrhunderts, den Anfang der radikalen Verrohung der Sitten, die verallgemeinerte Resignation vor massiver Gewaltan­wendung und massiver Unmenschlichkeit.

Aber wie im Falle des Stalinismus/Nachstalinismus ist das politische Versagen schlimmer als die Verbrechen.

Ich gehöre zur Generation, der man jahrzehntelang gesagt hat: Gebt uns 50,1 % der Wahlstimmen und 51 % der Parlamentsman­date, und der Sozialismus kommt.

Anfang der achtziger Jahre hatten die beiden französischen Linksparteien 55 % der Wahlstimmen und 65 % der Parlamentsmandate, mit einem deutlichen Wählerauftrag zur radikalen Gesellschaftsänderung: „Il faut que cela change.“ In der Praxis hat sich nichts geändert. Es gab noch mehr Erwerbslose als zuvor.

Diese Praxis hat sich drei, vier, fünf, sechs Male in vielen Ländern wiederholt. Der ehrlichste unter den sozialdemokratischen Führern, der bedauerlicherweise ermordete Olof Palme – mußte seinen letzten Wahlkampf unter dem Motto führen: Stimmt für uns, damit die fünfzehn Familien, die das Wirtschaftsleben Schwedens beherrschen, nicht auch noch die Regierung beherr­schen. Wenn nach vierzig Jahren sozialdemokratischen Regi­ments fünfzehn Familien zugestandenerweise das Wirtschaftsle­ben beherrschen, dann muß jeder durchwegs vernünftige schwe­dische Lohnarbeiter doch den Schluß ziehen, daß die Sozialdemo­kratie das sozialistische Ziel nicht verwirklicht hat.

Die Stalinisten/Nachstalinisten haben es nicht verwirklicht. Die Sozialdemokraten haben es nicht verwirklicht. Die links von den beiden großen Massenströmungen Agierenden werden für zu schwach angesehen, um es verwirklichen zu können. Somit wird der Sozialismus als in absehbarer Zeit politisch unrealisierbar angesehen. Da und nicht anderswo liegt die Wurzel der Glaubwürdigkeitskrise des Sozialismus heute.

Mit einer gewissen Verspätung, die dem allgemeinen Gesetz entspricht, daß das Bewußtsein der sich ändernden Realität nachhinkt, haben die politisch bewußten Lohnabhängigen dies erkannt. Deshalb ist ihr direktes Engagement in den beiden traditionellen Arbeiterparteien radikal gesunken. Wenn sie weiterhin meist für diese Parteien – vor allem für die Sozialdemokraten – stimmen, so nur aus Gründen des „kleineren Übels“, ohne die Illusion, auf diese Weise eine grundlegend bessere Gesellschaft zu verwirklichen. Und auch diese „Wahl des kleineren Übels ist großen periodischen, früher kaum gekannten Schwankungen unterworfen.

Wir können im Rahmen dieses Referats nicht die Frage beantworten, wie dieses historische Versagen des Stalinismus/Nachstalinismus und Rechtsreformismus erklärt werden kann. Es gibt dafür eine spezifische marxistische Theorie, die Theorie der Arbeiterbürokratie und des sie begründenden widerspruchsvol­len Doppelverhältnisses der Lohnarbeit selbst zur bürgerlichen und nachkapitalistischen Gesellschaft.

Wichtiger als jene Erklärung des historischen Scheiterns der beiden großen Massenströmungen der modernen Arbeiterbewegung ist jedoch eine Abgrenzung dieses Scheiterns von dem Gesamtverlauf der realen Emanzipationsbewegung des modernen Proletariats.

Die Zwischenbilanz dieser Emanzipationsbewegung kann keineswegs mit dem historischen Mißerfolg identifiziert werden. Denn wenn es der Emanzipationsbewegung der Lohnarbeiterschaft bisher nicht gelungen ist, das sozialistische Endziel irgendwo zu verwirklichen, so ist es ihr doch gelungen, die Welt radikal zu verändern durch eine beinahe ununterbrochene Kette von Teilerfolgen.

Zwischen einem verelendeten, demoralisierten, halbanalphabetischen Tagelöhner von anno 1840 und einem Lohn- und Gehaltsempfänger von heute liegt eine Welt des Fortschritts. Die durchschnittliche Arbeitszeit ist in den hochindustrialisierten Staaten von 80 Stunden pro Woche auf 36 Stunden zurückgegan­gen. Zehnjährige Mädchen schuften nicht mehr halbnackt in Bergwerken, auch nicht in der Dritten Welt.

Noch Anfang dieses Jahrhunderts liefen Kinder barfuß umher in den Armenvierteln der beiden reichsten Städte der Welt: London und New York. Noch während der großen Wirtschaftskrise der Jahre 1929–1934 war es für die Lohnempfänger beinahe aller Länder ein sicherer Ruin, längere Zeit krank zu sein. Heute sind die schlimmsten Folgen der Unsicherheit des proletarischen Schicksals gesellschaftlich abgedeckt.

All das ist nicht irgendein automatisches Produkt des technischen Fortschritts, der Produktivitätssteigerung der Markt­wirtschaft oder der bürgerlichen Philanthropie. Um das zu verstehen, genügt es, die diesbezüglichen Verhältnisse in den USA einerseits, und diejenigen in Kanada, wenn nicht in Schweden, in Österreich und der BRD andererseits miteinander zu vergleichen. Es ist Produkt zähen Kampfes und der Jahrzehnte andauernden Anstrengungen von Millionen von Gewerkschaftlern, Sozialisten, Kommunisten, Linksradikalen, Sozialdemokraten – ausnahmslos und objektiv gemeinsam.

Wenn diese Anstrengungen in der Dritten Welt bisher weniger erfolgsgekrönt sind als im Westen und im Osten, so sind sie auch dort keineswegs erfolglos geblieben.

Ist der Umfang der Selbsttätigkeit der Werktätigen vor allem im Westen zum Teil gerade in der Funktion des bereits Erreichten nicht potentiell rückläufig, wenn nicht im Versiegen? Keineswegs.

Zum ersten erweckt gerade der gestiegene Lebensstandard des durchschnittlichen Lohnabhängigen in den entwickelten Indus­trienationen neue Bedürfnisse, die sogenannten „qualitativen Bedürfnisse“, die die bürgerliche Gesellschaft kaum oder besten­falls nur sehr partiell befriedigen kann.

Zum anderen sind die erreichten Fortschritte im Realeinkommen und in der Sozialversicherung niemals endgültig und schon ganz bestimmt nicht endgültig für alle. Sie sind stark abhängig von den im Kapitalismus unvermeidlichen Konjunkturschwankun­gen. Gibt es eine depressive lange Welle und vor allem eine tendenziell steigende Erwerbslosigkeit wie gegenwärtig, so sind die ökonomischen und sozialen Errungenschaften der Lohnab­hängigen in Frage gestellt, bzw. sie werden untergraben.

      
Mehr dazu
François Vercammen: Ernest Mandel (1923-1995), Inprekorr Nr. 289 (November 1995).
Salah Jaber: Knapper Überblick über ein enormes Werk, Inprekorr Nr. 289 (November 1995).
Ernest Mandel: Materielle, soziale und ideologische Voraussetzungen des nazistischen Genozids, Inprekorr Nr. 302 (Dezember 1996).
Salah Jaber: Ernest Mandels Beitrag zur marxistischen Theorie, Inprekorr Nr. 299 (September 1996).
Ernest Mandel: Der Kurs der Bolschewiki – eine kritische Analyse, die internationale Nr. 5/2017 (September/Oktober 2017).
Ernest Mandel: Rede auf dem Vietnam-Kongress Berlin 18.2.1968, Inprekorr Nr. 438/439 (Mai/Juni 2008).
Jakob Moneta: Ernest zum Siebzigsten!, Inprekorr Nr. 259 (Mai 1993).
Pierre Gousset: Planwirtschaft. Notwendigkeiten-Methoden-Kontrolle, Sozialistische Politik (Jg. 9, Nr. 4, April 1962)
Ernest Mandel: Sozialismus im 20. Jahrhundert, Sozialistische Politik (Jg. 7, Nr. 6/7, Juni/Juli 1960)
Pierre Gousset: Der XX.Parteitag der KPdSU, Sozialistische Politik (Jg. 3, Nr. 4, April 1956)
Ernest Mandel: 1953: Der Arbeiteraufstand in der DDR, Inprekorr Nr. 222 (Dezember 1989).
 

Der Marxschen Lohntheorie kommt das Verdienst zu, das von Malthus/Ricardo/Lasalle stammende „eherne Lohngesetz“, das heißt die Theorie der absoluten Verelendung, des Herabsinkens der Löhne auf das physiologische Minimum, strikt abgelehnt zu haben. Für Marx besteht der Arbeitslohn aus zwei Komponenten, einer physiologischen und einer historisch-moralischen. Diese zweite hängt vom Ausgang des konkreten Klassenkampfes zwischen Lohnarbeit und Kapital in jedem Land und jeder geschichtlichen Epoche ab.

Dies bedeutet allerdings auch, daß unter ungünstigen objektiven Bedingungen und (oder) nach schweren Niederlagen im Klassenkampf der Reallohn auch in hochindustrialisierten Ländern periodisch sinken kann, entweder absolut oder relativ (als Bruchteil des Pro-Kopf-Volkseinkommens). Heute ist der Realstundenlohn in den USA niedriger als im Jahre 1973. In New York, der reichsten Stadt der Welt, können Zehntausende Arbeiterfami­lien – arbeitende, nicht erwerbslose – eine Wohnung nicht mehr bezahlen und müssen sich die Wohnung mit zwei Familien teilen. In den meisten westeuropäischen Staaten ist der Anteil der Löhne am Volkseinkommen im Vergleich zum Kapitaleinkommen in den letzten zehn Jahren rückläufig. In allen westlichen Ländern gibt es eine wachsende Schicht absolut Verarmter (die unter der Armutsgrenze leben), die zwischen 10 % und 25 % der Bevölke­rung, je nach Land, darstellen. In den halbindustrialisierten Dritte-Welt-Ländern (wie Brasilien, Mexiko und Argentinien) sind die Reallöhne in den letzten Jahren um 25 % bis 50 % gesunken.

Die reale Emanzipationsbewegung hat deshalb nur teilweise -wir sagen teilweise, und keineswegs insgesamt – die unmittelbaren Zielsetzungen erweitert bzw. erneuert. Massenstreiks, politische Massenstreiks, Generalstreiks hat es in der Welt in den letzten 25 Jahren in größerem und nicht in geringerem Umfang weltweit gegeben als vor oder nach dem Ersten Weltkrieg (allerdings nicht in Deutschland und Österreich, aber diese Länder bleiben vorläufig Ausnahmen und sind nicht die Regel). Die sogenannten „neuen sozialen Bewegungen“ haben zu Massenaktionen und massiver Selbsttätigkeit der breiten Bevölkerung geführt in einem Umfang wie nie zuvor in der Geschichte. In der Verbindung dieser wachsenden Selbsttätigkeit mit dem sozialistischen Endziel liegt die Aufgabe und die Zukunft der Marxisten.

Die wachsende Krisenanfälligkeit der heutigen Welt auf den verschiedensten Gebieten schafft dafür die objektiven Vorbedingungen. Die Bereitschaft und Fähigkeit der Marxisten, sich jeglicher Selbstbeschränkung durch konsensbedingte Pseudorealpolitik in der Unterstützung realer außerparlamentarischer Massenbewegungen zu enthalten, schafft dafür die subjektiven Vorbedingungen. Dadurch wächst langsam, aber sicher eine neue sozialistische Weltbewegung, die emanzipatorisch jener durch Stalinismus und Sozialdemokratie beherrschten weit überlegen sein wird.

Ob man es nun „sozialistische Revolution“, „sozialistische Umgestaltung“ oder radikale Verwirklichung von Kooperation und Solidarität nennt: Ungeachtet des Sprachgebrauchs und des Etiketts handelt es sich tatsächlich um das Grundziel des Marxschen Sozialismus: die radikale Ausdehnung der Freiheit der breiten Masse, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Das heißt auf dem Gebiet der Politik und der gesamtgesellschaftlichen Ord­nung: eine radikale Ausdehnung der direkten Demokratie, der Basisdemokratie, mit radikaler Einschränkung (Absterben) der bürokratischen Staatsmacht. Das heißt auf dem Gebiet der Ökonomie: das Recht und die Macht der Masse der Werktätigen, selbst darüber zu entscheiden, was produziert wird, und wie es wenigstens in seinen Prioritäten verteilt wird. Und das ist nichts anderes als realisierter Marxismus.

Die wissenschaftliche Vernunft sagt uns, daß dies möglich und notwendig sei. Das Gewissen sagt uns, daß wir jedenfalls in diesem Sinne handeln sollen. Um einen alten jüdischen Philosophen, Hillel, zu zitieren: „Wenn nicht ich, wer? Wenn nicht jetzt, wann?“

Die Autoren der Bergpredigt und Spartacus, Thomas Münzer und die holländischen Geuzen, Rousseau und die Stürmer der Bastille, Marx und die Kämpfer der Pariser Kommune und der russischen Revolution würden dem voll und ganz beipflichten. Wir tun es heute auch.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 259 (Mai 1993). | Startseite | Impressum | Datenschutz