Am 6. April wird unser Genosse Rudolf („Rudi“) Segall 90 Jahre alt. Vor 10 Jahren schrieb die Inprekorr: „Rudi gehört einer aussterbenden Generation an, die als Angehörige des jüdischen Volkes auf Unterdrückung, Antisemitismus, Rassismus nicht der Verführung des Zionismus erlagen, der glaubt, die „Judenfrage“ auf Kosten des palästinensischen Volkes lösen zu können. Sein Internationalismus blieb ebenso unerschütterlich wie seine Treue zur Vierten Internationale....“
Für die Inprekorr-Redaktion sprach Daniel Berger mit Rudi und stellte ihm anlässlich seines erneuten runden Geburtstages ein paar weitere Fragen.
Du bist 1934 vor den Nazis geflohen und nach Palästina ausgewandert. Dort hast Du Dich von der zionistischen Bewegung getrennt, weil Du den Widerspruch zu Deinem sozialistischen Anspruch nicht ausgehalten hast. Was hat Dich überhaupt zum Sozialisten gemacht? |
Sozialist werden ist wirklich ein Problem. Bei mir hat sich dies sicher aus einer gewissen Opposition - zum Elternhaus und zur Schule - entwickelt. In meiner persönlichen Umgebung gab es keine Sozialistinnen und Sozialisten. Ich habe mich stark in die Jugendbewegung integriert, in die Wanderbewegung, die sich auch intensiv mit den kulturellen Erscheinungen der damaligen Zeit auseinandersetzte.
Hier gab es die Anfänge politischer Diskussionen, auf den großen Treffen sangen einige Gruppen revolutionäre Lieder; wir besuchten Ausstellungen, das Theater (Brecht wurde in Berlin viel gespielt). So bin ich wohl langsam von meinem „Vorbild“ Walter Rathenau zu Landauer (Aufruf zum Sozialismus) umgeschwenkt. Ich studierte ein Jahr in Königsberg, wo ich 1930 Mein Leben von Trotzki las: Das hat mich stark beeinflusst.
Noch war ich mir über meinen zukünftigen Weg nicht im Klaren, als der Aufstieg und schließlich Sieg Hitlers alles über den Haufen war. Durch meinen Anschluss an eine zionistische Gruppe verschmolz mein Bild einer anderen Gesellschaft mit den Vorstellungen, die allen Bewegungen der Arbeiterschaft gemeinsam waren: mit dem Bild einer sozialistischen Gesellschaft, das sich mit meinen früheren Vorstellungen sehr weitgehend deckte.
Als Sozialist ging diese Gruppe, der Haschomer Hatzair („Der junge Wächter“) davon aus, dass die jüdischen Arbeiterinnen ihren zionistischen Auftrag in Palästina nur zusammen mit ihren sozialistischen Zielsetzungen einlösen dürften: Der zionistische Staat müsste ein sozialistischer sein. Zu dieser Auffassung passte es auch, dass uns mein Freund und späterer trotzkistischer Genosse Martin Monath (er wurde 1944 von der Gestapo ermordet) dadurch Anstöße geben konnte, dass er uns 1934 in unserem Vorbereitungsland Dänemark Artikel von Trotzki (aus unsrer in Warschau erscheinenden hebräischen Zeitung) übersetzte - in einer Zeit, in der sonst kein Artikel von Trotzki in Deutschland erhältlich war.
Du hast vor wenigen Jahren Israel besucht. Was ist aus diesem Land geworden? Ist das, was der zionistische Staat heute macht, nämlich die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung, schon in der zionistischen Ideologie der 30er Jahre angelegt gewesen? War denn die Staatsgründung mit der Vertreibung der Palästinenserinnen aus den Teilen, die man später das 48-er Gebiet nannte, schon im Kern in der politischen Philosophie des Zionismus angelegt? |
Der Plan der jüdischen Besiedlung Palästinas, ohne Rücksicht auf die dort lebenden Bevölkerung, hat dafür gesorgt, dass sich grundsätzlich zwischen dem Beginn des Zionismus und dem heutigen Tag nichts geändert hat. Der Aufstand der Araber in den 30er Jahren gegen Juden (und Briten) fand unter einer arabischen Führung statt, die aus machtpolitischen Gründen zu jedem Verrat bereit war. Heute, oder bereits seit der Machtübernahme durch den jüdischen Staat, entwickelte sich ein viel bewussteres Handeln der arabischen Massen. Das Protektorat Englands ist von der Weltmacht USA abgelöst worden.
Die Anfänge des Zionismus gehen nahtlos in den heutigen Zustand über. Von 1935 bis 1939 lebte ich in einem Kibbuz des Haschomer Hatzair, in einer Zeit, in der sich diese „sozialistische Insel“ als Pionier der zionistischen Gesellschaft verstand. Diese Vorstellung ist heute völlig überholt, aber schon damals war der Kibbuz in Wirklichkeit eine Bastion zur Durchsetzung der zionistischen Kolonisation gegen die Interessen der palästinensischen Bevölkerung. So nimmt es nicht Wunder, dass eine Zeitlang ein hoher Prozentsatz der militärischen Elite aus dem Kibbuz kam. Im Kibbuz wurden für einige von uns der Widerspruch zwischen den sozialistischen Idealen und dem Verhalten gegenüber der ansässigen Bevölkerung immer größer, so dass eine größere Gruppe den Kibbuz verließ, um politische Arbeit zu leisten.
Die Schwierigkeit, heute in Israel wirkliche sozialistische Arbeit zu leisten, ist gegenüber den 30er Jahren keinesfalls geringer geworden. Gegen die politische Zusammenarbeit zwischen Juden und Arabern haben sich immer größere* Hindernisse aufgetürmt.
Wie begegnest Du den Vorwürfen, die zumindest in Deutschland eine gewisse Verbreitung haben: „Wer gegen den Staat Israel ist und wer den Zionismus grundsätzlich kritisiert, ist ein Antisemit“? Ist es wirklich so, dass man den Antizionismus nicht vom Antisemitismus trennen kann, mit ihm verwandt ist? |
Hier haben wir es mit grundverschiedenen Erscheinungen zu tun: Der Antizionismus ist ein Kampf gegen imperialistische Unterdrückung, Ausbeutung und Vertreibung, also ein Kampf gegen einen Nationalismus der übelsten Sorte. Der Antisemitismus dagegen ist die Ausnutzung nationalistischer Gefühle zur Aufrechterhaltung imperialistischer Ziele. Diese beiden Haltungen sind also absolut konträr.
Du bist 1938 in Palästina der Bewegung für die IV. Internationale beigetreten. 1947 in Deutschland angekommen hast Du dort nur sehr wenige Genossinnen der IV. Internationale angetroffen. Sie waren entweder in den KZs umgekommen, emigriert und nicht bereit zurückzukommen oder sie waren durch Stalins Mörderbanden umgebracht worden. Es gab also hier zunächst nur eine sehr schwache Organisation der IV. Internationale. Was hat Dich - in der Zeit des größten Triumphs des Stalinismus auf der einen Seite und des aufkommenden kalten Krieges auf der anderen - bewogen, trotzdem revolutionärer Marxist zu bleiben? |
In Palästina haben wir fest an die kommende Revolution in Deutschland (und in Europa) geglaubt, und zwar auf die Prognose Trotzkis hin, dass der Krieg damit enden würde. Wir haben zwar in den letzten Monaten des Krieges wahrgenommen, dass der Krieg anders lief als vorausgesagt. Aber es dauerte eine ganze Weile, bis wir endgültig den wahren Zustand der Dinge erfassten. Dennoch war mir bewusst, dass unsere revolutionären Hoffnungen nicht auf immer verschüttet sein würden: Wir hofften fest darauf, dass wir mit der Zeit unsere Bewegung so weit stärken würden, dass sie in den kommenden Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle spielen wird. Einen sehr großen Einfluss wird zweifellos der unbeugsame Optimismus von Ernest Mandel uns gehabt haben. Überhaupt hat der Internationalismus unserer Bewegung mir am meisten geholfen, an die zukünftigen Erfolge zu glauben.
Wie entwickelte sich der Aufbau der deutschen Sektion nach dem Krieg? Wer waren diese Menschen, wo kamen sie her, was habt Ihr damals gemacht? Musstet Ihr noch Angst vor den Stalinisten haben? |
Man muss zunächst einmal sagen, dass nur wenige Genossinnen und Genossen die Nazizeit überlebt haben, und die, die ausgewandert sind, sind nicht zurückgekommen. Mit uns kam allerdings eine Reihe von österreichischen Genossen aus Palästina zurück, die dann auch eine ganze Zeit lang in Österreich weitergemacht haben.
Der einzige Genosse, der von den früher in Deutschland arbeitenden Genossen zurückgekommen ist, war Georg Jungclas (Er war in der Nazizeit in Dänemark. Ich selbst war in meiner Zeit bis 1933 noch nicht in der trotzkistischen Bewegung).
Später kam noch Wolf Salus hinzu, 1909 in Prag geborgen, in der Jugend Mitglied der KP. 1929 (mit 20 Jahren) Mitbegründer der trotzkistischen Bewegung dieses Landes, war im KZ. Nach dem Krieg half er bei dem Aufbau der Bewegung in der CSSR, floh dann in die Bundesrepublik, wo wir aktiv zusammengearbeitet haben. 1953 wurde er in einem Münchner Krankenhaus von einem GPU-Agenten ermordet.
Auch Ernst Scholz, (geb. 1904) vertrieben aus dem Sudetenland, hat von Augsburg aus seit den frühen 50er Jahren bis zu seinem Tod 1997 immer mitgearbeitet. Aus Palästina kamen Sigi und Ruth Rothschild und später Berthold Scheller und Jakob Moneta.
Die übrigen Genossinnen und Genossen wurden von Schorsch (Georg) Jungclas geworben. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir aus anderen sozialistischen Kreisen (ehemalige Mitglieder vor 1933) Verstärkung gewonnen haben.
In den 50er Jahren konnten wir auch den Kontakt zu einer Gruppe aufnehmen, die sich in besonderer Weise mit der Gruppe d.j.1.11 (Deutsche Jungenschaft vom 1.11.) und den Geschwistern Scholl verbunden fühlte: Viele von ihnen traten der Sektion bei.
In den letzten Jahren war zumindest bei uns viel von der Unmöglichkeit des Sozialismus die Rede. Politisch ideologisch sind wir seit 1989 in der Defensive mit dem großen Unterschied zur Nachkriegszeit, dass es heute keine Arbeitermassenpartei mehr gibt. Wo siehst du die Parallelen zu der Zeit Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre und was kannst Du uns aus Deiner langen politischen Tätigkeit, v. a. aus den Aktivitäten im Nachkriegsdeutschland, als Lehren weitergeben? |
Wir haben unsere Aktivität, wenn auch vielleicht nicht jederzeit bewusst, in zwei Richtungen geteilt: Zum einen kam es uns darauf an, individuell neue Mitglieder zu gewinnen, sie durch Diskussion zu überzeugen, dass sie in unsrer Organisation den richtigen Platz für ihre Ziele finden würden.
Zum anderen aber haben wir uns immer bemüht, nach Organisationen Ausschau zu halten, die uns in der Zielsetzung nahe stehen, wo wir durch einen Gesamteinsatz die Möglichkeit haben würden, nicht nur Einzelne, sondern ganze Gruppen zu uns herüberzuziehen.
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Im Nachkriegsdeutschland haben wir bis zur Zeit des Entrismus nur in der ersten Form gearbeitet. Bei größeren Bewegungen und Demonstrationen (Anti- Atom-Bewegung, Wiederaufrüstung) haben wir mitgemacht, um Verbindungen anzuknüpfen - aber wir waren zu schwach, um ihnen dabei unsere weitergehenden Vorstellungen soweit zu vermitteln, dass sie zum Ziel der Gesamtbewegung (oder zumindest eines wirklich bemerkenswerten Teils) wurden.
Im Grundsatz haben sich unsere Aktivitäten gegenwärtig nicht geändert. Die Nichtexistenz von Arbeitermassenparteien hat uns jedoch ein lebenswichtiges Arbeitsfeld genommen.
Der Versuch, mit uns nahestehenden Organisationen zusammenzuarbeiten, ist weiterhin unbedingt notwendig, aber wir haben aus dem Fusionsprozess mit der [maoistischen] KPD, einer „Einheit der revolutionären Sozialistlnnen in einer Partei“, die Schlussfolgerung gezogen, dass jede derartige Zusammenarbeit - mit dem Ziel der Fusion - nur mit besonders gründlicher Vorbereitung Aussicht auf Erfolg hat. Gegenüber der Nachkriegszeit haben wir viel Erfahrung gesammelt, Illusionen verloren.
Persönlich hat mir meine Erfahrung gezeigt, dass das einzig Beständige die dauernde Veränderung ist: Ich hoffe fest darauf, dass Ansätze, die sich gerade jetzt wieder bei Massenbewegungen in der ganzen Welt zeigen, von uns und uns nahestehenden Bewegungen so aufgegriffen werden können, dass der Weg zum Sozialismus möglich bleibt.
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 354 (April 2001). | Startseite | Impressum | Datenschutz