Die nachfolgende Trauerrede hielt Helmut Dahmer anlässlich der Beisetzung von Rudolf Segall am 6.4.2006 in Frankfurt (Main)
Helmut Dahmer
Dolf Segall, als dessen Beruf im Telefonbuch „Übersetzer“ angegeben war (und der viele Artikel und ganze Bücher aus dem Englischen und Französischen übersetzt hat), war 1960, als ich nach Frankfurt kam, neben dem „Institut für Sozialforschung“ meine erste Anlauf-Adresse. Ihm verdanke ich den Hinweis auf den damals noch ganz vergessenen „Freudomarxisten“ Wilhelm Reich, dessen Schriften aus den Jahren 1925-1937 er in den Erstausgaben besaß. Ich fand dann bald heraus, dass der Charakteranalytiker und Sexualökonom Reich auf den Schultern eines Riesen gestanden hatte, nämlich denen von Sigmund Freud. In Dolfs Bibliothek bildete aber die „Psychologie“ nur eine Unterabteilung; den Großteil, der sich jetzt in der Bibliothek der Technischen Universität Darmstadt befindet, machte die Literatur der III. und die der IV. Internationale aus: Protokollbände ihrer Kongresse, die erste deutsche Leninausgabe, die mit der Leidenschaft eines Sammlers erworbenen Schriften Trotzkis in deutscher, englischer und französischer Sprache und vollständige, gebundene Ausgaben der internationalen „trotzkistischen“ Zeitschriften seit den dreißiger Jahren.
Dolf, der als Funktionär der damals linken IG Chemie-Papier-Keramik durch die Bundesrepublik reiste und dort vor allem für die Angestellten und für die Bildungsarbeit zuständig war, leitete in Frankfurt eine kleine Gruppe von antistalinistischen Marxisten, deren Kern aus Remigranten bestand, die versuchten, die Tradition der revolutionären deutschen Linken („Spartakusbund“) zu erneuern. Stalin hatte den auf Rätedemokratie und permanente Revolution orientierten Kommunisten und Anarchosyndikalisten schon 1923/24 den Kampf angesagt und sie einige Jahre später aus der KPdSU und aus den Sektionen der Komintern ausschließen lassen. Zehn Jahre später hatte Hitlers Terror die orientierungslos in ihren Untergang taumelnde KPD ebenso wie die reformistische deutsche Arbeiterbewegung überhaupt ausgelöscht. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre organisierte Stalin dann in der Sowjetunion einen „politischen Genozid“ (Isaac Deutscher), dem Zehntausende von „Trotzkisten“ zum Opfer fielen. Die Mordkommandos der GPU machten in Spanien und Frankreich, in der Schweiz und in Mexiko Jagd auf „Abweichler“ und „Volksfeinde“, die sich dem politischen Programm Trotzkis und der von ihm 1938 ins Leben gerufenen, minoritären IV. Internationale verpflichtet fühlten. Die kleine Gruppe der Frankfurter „Trotzkisten“ fühlte sich noch Anfang der sechziger Jahre genötigt, ihr politisches Leben konspirativ zu organisieren, weil sie (was wir heute sehr viel genauer wissen) für den Staatssicherheitsdienst der DDR ebenso interessant war wie für den Verfassungsschutz der BRD. Im Verein mit ihren Genossen in Köln und in Mannheim und den befreundeten Wolfgang Abendroth, Erich Gerlach und Peter von Oertzen brachten sie die Zeitschrift Sozialistische Politik heraus und versuchten, auf die südhessische Sozialdemokratie, die Gewerkschaften und deren Jugendorganisationen Einfluss zu nehmen. Zur Studentenbewegung nahmen sie (als Organisation) leider erst Kontakt auf, als deren beste Zeit schon vorüber war. Was die trotzkistischen Gruppen von den anderen linkssozialistischen unterschied, war ihre Zugehörigkeit zu einer internationalen Organisation und die ständige Beteiligung an deren Debatten über die Möglichkeit, in den kapitalistischen Zentren, im stalinistischen Block und in den Ländern der „Dritten Welt“ demokratisch-egalitäre Tendenzen zu fördern, also dem Projekt einer nachkapitalistischen, demokratisch kontrollierten, weltweiten Überflusswirtschaft näher zu kommen.
„Remigranten“ waren auch meine akademischen Lehrer in Göttingen (Helmuth Plessner) und in Frankfurt (Horkheimer und Adorno), die sich von den Professoren-Kollegien, die in den fünfziger Jahren in ihrer Mehrheit noch aus alten Nazis und Mitläufern bestanden, wohltuend und faszinierend abhoben. In der Schule der politischen und akademischen Hitlerflüchtlinge habe ich gelernt, was es heißt, sich nicht vom Zufall der Geburt und des Milieus diktieren zu lassen, mit wem (und gegen wen) man sich „identifiziert“, – dass es möglich ist, sich aus dem Korsett der nationalen (ethnischen), religiösen, sexuellen und kulturellen Zuschreibungen, deren Sklaven die meisten Menschen lebenslang bleiben, zu lösen und ins Freie zu treten, ohne unsere Herkünfte zu verleugnen.
Dolf war wie Inge, seine gastfreundliche Frau (die ein Jahrzehnt vor ihm starb), ein Freund der Literatur, und zwar nicht nur der erzählend-realistischen. Er konnte ganze Gedichte aus Morgensterns Galgenliedern deklamieren. In seiner Jugend hatte er Bachsche Passions-Chöre mitgesungen. Wenn er uns in den letzten Jahren in Wien besuchte, ging er ebenso gern ins Belvedere, um Klimt und Schiele oder auch eine Monet-Ausstellung zu sehen, wie ins Schönberg-Haus, um neue Kammermusik zu hören. Ich denke, dass schließlich auch die Plastiken Giacomettis ihm etwas sagten. Die Philosophie freilich blieb ihm (wie allzu vielen Marxisten) fremd.
Aus seinem Leben und von seinen Reisen erzählte er nur selten. Das galt sowohl für seine Jugend in Berlin als auch für seine Zeit im Kibbuz oder für seine Arbeit für die internationale Flüchtlingshilfe im Griechenland der Nachkriegszeit. Er war nicht mitteilsam; selten nur öffnete er sein Visier. Den schönen Dingen des Lebens durchaus zugetan, hatte er sich früh einer eher asketischen Lebensform verschrieben. Von der Parole „Arbeit, Disziplin und Ordnung“ hatte man sich in den ersten Jahren nach 1917 die „Rettung“ der Sowjetrepublik versprochen. Dolf fand, das sei auch eine brauchbare Maxime für die Organisation des persönlichen Lebens. Das machte den Umgang mit ihm mitunter nicht eben leicht. Auf strenge Ordnung hielt er auch im Kampf der politischen Meinungen. Er verkörperte eine Art von Orthodoxie in der Heterodoxie. Ich habe mir oft gedacht, dass er in einem neuen „Rat der Volksbeauftragten“ einen guten Volkskommissar für das Finanzwesen abgegeben hätte.
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Gern erinnere ich mich an eine gemeinsame Reise in die Sowjetunion im Sommer 1962 – mit einer „Delegation“ von Frankfurter Volksbildnern, Gewerkschaftern und Journalisten. Über Wien, Prag, Warschau und Brest-Litowsk fuhren wir nach Moskau, Leningrad und Kiew, suchten den Kreml, den Smolny und Eremitage auf, sahen die „Aurora“ und die Lenin-Mumie im Mausoleum am Roten Platz, das Max Hölz so gern in die Luft gejagt hätte, und näherten uns auch dem Zentrum des stalinistischen Terrors, der Lubjanka. Wir versuchten, uns auf die verratene Revolution und die Zukunft der Sowjetunion einen Reim zu machen. Der 22. Parteitag, auf dem Chruschtschow (der selbst der Stalin-Clique angehört hatte) die so genannte „Entstalinisierung“ noch einmal etwas weitertrieb und einen Sieg des „Kommunismus“ in wenigen Jahrzehnten in Aussicht stellte, war erst ein Jahr zuvor über die Bühne gegangen. In den Revolutionsmuseen war schon „Tauwetter“, gefälschte Fotos und solche von allzu diskreditierten Stalinisten wurden aus dem Verkehr gezogen und durch solche von Verfemten und Erschossenen aus dem geheimen Fundus ersetzt … Zwanzig Jahre später haben wir dann unseren eigenen Beitrag zur Entstalinisierung geleistet, indem wir gemeinsam eine große deutschsprachige Ausgabe der Schriften Trotzkis auf den Weg gebracht haben.
Wie Anfang der sechziger Jahre auf Reisen im nachstalinschen Russland haben wir auch in den folgenden Jahrzehnten die politischen Weltereignisse verfolgt und die damit verbundenen Hoffnungen und Enttäuschungen geteilt. Das waren vor allem der Algerienkrieg und der Vietnamkrieg, die chinesische „Kulturrevolution“ und der „Prager Frühling“, die internationale Studentenrevolte und der Kampf gegen die Bonner Notstandsgesetze, der Putsch gegen Allende und die „sandinistische“ Revolution, die Ära Gorbatschow und schließlich noch die Irak- und die Balkankriege. Als ich Dolf vor ein paar Wochen im „Stift am Zoo“ zum letzten Mal besuchte, sah ich, dass er die Frankfurter Rundschau ungelesen liegen ließ. Da wurde mir deutlich, dass er dabei war, sich von der Welt zu verabschieden.
Wir wissen nicht, ob die Sache, der Dolf sich verschrieben hatte, in Jahrzehnten oder erst in Jahrhunderten siegen wird. Wir wissen nur, dass die Verhältnisse, zu denen der Kapitalismus im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts geführt hat, unhaltbar sind und dass diese Organisationsform der Weltgesellschaft keinen Bestand haben wird. Alles, was wir tun können, ist, zu versuchen, das jeweils Schlimmste zu verhindern und dem jeweils Besseren den Weg zu bereiten.
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 416/417 (Juli/August 2006). | Startseite | Impressum | Datenschutz