Debatte

Die NPA, ein neuer Ansatz zum Aufbau einer antikapitalistischen Partei

Der folgende Artikel, der im Herbst 2008 geschrieben wurde, erschien zuerst in der von der britischen Socialist Workers Party (SWP) herausgegebenen Vierteljahreszeitschrift International Socialism und ist eine Antwort auf den Beitrag von Alex Callinicos zur Frage „Wohin geht die radikale Linke?“ Eine gekürzte Fassung dieses Artikels ist in dem vorigen Heft von Inprekorr auf Deutsch erschienen.

François Sabado

Alex Callinicos’ Artikel zeigt gut, welche Veränderungen es in den letzten Monaten in der radikalen Linken gegeben hat. Die charakteristischen Merkmale der Situation, insbesondere die Vertiefung der Krise des kapitalistischen Systems und die Entwicklung der Sozialdemokratie zum Sozialliberalismus, bestätigen, dass es „links von der reformistischen Linken“ einen Raum gibt.

Dieser Raum lässt Möglichkeiten für den Aufbau von neuen politischen Formationen oder für Initiativen wie die europäischen Konferenzen der antikapitalistischen Linken entstehen, eines Projekts, bei dem noch weitere Klärungen anstehen. An manchen Erfahrungen sind verschiedene Strömungen beteiligt. Wenn die politischen Grenzlinien zwischen diesen Strömungen nicht immer klar hervortreten, so ist jedoch die Frage der Unterstützung von Mitte-links- oder sozialliberalen Regierungen ein grundlegendes Kriterium für die Bündnispolitik oder Politik der Zusammenführung.

Es geht nicht nur um „auseinander laufende Wege“, sondern unterschiedliche Politik und verschiedene Projekte. Wenn Callinicos Die Linke in Deutschland und die NPA als „positivere Erfahrungen“ anspricht, geht es dabei um unterschiedliche Projekte.

Im Fall Die Linken haben wir es mit einer linksreformistischen Partei zu tun: mit einer in die Institutionen des deutschen Staats integrierten Partei, einer Partei, deren Mitglieder in ihrer großen Mehrheit aus der ehemaligen PDS gekommen sind (die wiederum aus der Partei der Bürokratie der ehemaligen DDR hergegangen war), einer Partei, die sich für eine gemeinsame Regierung mit der SPD ausspricht, einer Partei, deren gesellschaftliches Projekt in der „Rückkehr zum Sozialstaat“ besteht. Gewiss bringt diese Partei im Westen auch einen Prozess der Radikalisierung von Teilen der sozialen Bewegung, einen Schritt der Arbeiterbewegung nach vorn zum Ausdruck. Aber die Revolutionäre und Revolutionärinnen dürften diese Prozesse nicht mit der Führung der Linken, ihrer reformistischen Politik, ihrer Unterordnung unter die kapitalistischen Institutionen und ihrem Ziel der Regierungsbeteiligung zusammen mit der SPD vermischen.

Die NPA tritt als antikapitalistische Partei auf. Eine Partei, deren Schwerpunkt in den Kämpfen und sozialen Bewegungen liegt, nicht in den Institutionen, eine Partei, deren Kennzeichen die Ablehnung jeglichen Bündnisses und jeder Regierungsbeteiligung mit der linken Mitte oder dem Sozialliberalismus ist, eine Partei, die nicht beim Anti-Neoliberalismus stehen bleibt, deren gesamte Politik vielmehr auf den Bruch mit dem Kapitalismus und den Sturz der Macht der herrschenden Klassen gerichtet ist.

In all diesen Fällen haben wir es mit politischen Formationen zu tun: Es gibt Grenzlinien, Programme, Politiken, es sind aber nicht dieselben.


Antikapitalistische Partei oder Einheitsfront besonderer Art


Wir können uns von daher mit Callinicos’ Ansatz bei der Charakterisierung der neuen Formationen der radikalen Linken als „eine Einheitsfront besonderer Art“ nicht einverstanden erklären.

Die Konzeption der SWP ist von John Rees, einem ihrer führenden Mitglieder, folgendermaßen formuliert worden: „,Socialist Alliance‘ [Vorläuferin von Respect] betrachtet man also am besten als eine Einheitsfront besonderer Art, angewendet auf das Feld der Wahlen.“ [1] Diese ursprünglich mit der britischen Erfahrung verbundene Konzeption ist als „die Auffassung der SWP vom Charakter der neuen Formationen der radikalen Linken“ verallgemeinert worden.

Wir sind mit dieser Konzeption nicht einverstanden.

Beim Aufbau einer Partei oder politischen Formation von „Einheitsfront“ zu sprechen, ist wirklich eine Innovation. Die Einheitsfront gibt eine Antwort auf die Probleme, die die Einheit in der Aktion oder die Einigung der Arbeitenden oder der sozialen Bewegung und ihrer Organisation aufwerfen. Die Einheitsfront und der Aufbau einer Partei sind zwei verschiedenartige Angelegenheiten. Eine antikapitalistische und/oder revolutionäre Partei der Arbeitenden ist – gleich wie genau sie sich definiert – eine politische Formation mit festen Umrissen, auf der der Grundlage eines Programms und einer umfassenden Strategie zur Eroberung der Macht durch die und für die Arbeiter. Eine antikapitalistische Partei kann nicht organischer Ausdruck „der gesamten Klasse“ sein. Selbst wenn sie versuchen muss, „eine neue Vertretung der Arbeitenden“ oder die Konvergenz einer Reihe von politischen Strömungen darzustellen, bringt sie die anderen Strömungen der sozialen Bewegung nicht zum Verschwinden, auch nicht die „reformistischen oder ursprünglich reformistischen“ Organisationen, die von bürokratischen Apparaten geführt werden. Die Frage der Einheitsfront stellt sich nach wie vor.

Warum sind die antikapitalistischen Parteien nicht als Einheitsfrontrahmen zu betrachten? Weil es, wenn dies der Fall wäre, darauf hinausliefe, diese Parteien als ein bloßes Bündnis oder einen Einheitsrahmen – und sei es besonderer Art – zu betrachten. Damit würde man deren Aufbau als Rahmen oder Vermittlerorganisation unterschätzen, die zur Herausbildung der revolutionären Führungen von morgen notwendig sind. Die NPA als einen Rahmen der Einheitsfront zu betrachten, würde darauf hinauslaufen, ihre politischen Positionen zu „verflachen“, um sie so zu gestalten, dass sie mit der Verwirklichung dieser Einheitsfront vereinbar wären. Wir machen beispielsweise die Aktionseinheit der Arbeiter- und sozialen Bewegung nicht von der Bedingung einer Übereinstimmung in der Regierungsfrage abhängig. Ist das ein Grund dafür, dass die NPA von dem Kampf um die Regierungsfrage absieht oder ihn auch nur relativiert? Nein, das meinen wir nicht. Die NPA macht die Regierungsfrage – ihre Ablehnung der Beteiligung an Regierungen der Klassenzusammenarbeit – zu einem entscheidenden Merkmal ihres politischen Profils. Dieses Beispiel, wir könnten aber auch andere anführen, belegt, dass die NPA keine Einheitsfront ist. Wir wollen sie so aufbauen, dass darin verschiedene Erfahrungen und AktivistInnen, auch Strömungen zusammengehen, vor allem aber als Partei. Sie als eine „Einheitsfront besonderer Art“ aufzufassen, würde auf eine Unterschätzung der Auseinandersetzungen hinauslaufen, die notwendig sind, um eine politische Alternative aufzubauen.

Diese Auffassung von „einer Einheitsfront besonderer Art auf einem Minimalprogramm“ hat dazu geführt, dass die SWP-Leitung der LCR-Leitung „eine negative und gelegentlich ultimatistische Haltung gegenüber den Kollektiven“ vorgeworfen hat, als sie die Ablehnung einer Beteiligung an einer Regierung unter der Leitung der Sozialistischen Partei (PS) in das Zentrum ihres politischen Kampfs gestellt hat. Denkt die SWP-Leitung mit dem inzwischen gegebenen zeitlichen Abstand immer noch, dass diese Vorwürfe begründet waren?

Und heute, wo Jean-Luc Mélenchon, einer der führenden Köpfe der Linken in der Sozialistischen Partei, diese verlassen hat, während er jedoch von seinen reformistischen Konzeptionen, seinen Positionen zur Beteiligung an den Regierungen Mitterrand und Jospin oder deren Unterstützung nicht abrückt und erklärt, er wolle eine französische „Die Linke“ aufbauen, welche Haltung sollten Revolutionärinnen und Revolutionäre dazu einnehmen? [2] Ihn unterstützen und sich seinen Vorschlägen und Projekten für Bündnisse mit der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) anschließen, bei denen die Perspektive verfolgt wird, morgen mit … der PS zu regieren, oder aber seinen Bruch mit der PS in Rechnung stellen und einen positiven Ansatz der Aktionseinheit mit seiner Strömung verfolgen, ohne den Aufbau einer antikapitalistischen Linken mit dem einer linksreformistischen Partei zu verwechseln? Wir wiederholen: Ja zur Aktionseinheit – wie wir es bei der Kampagne für das Nein in der Europafrage gemacht haben – und Ja zur Debatte, aber wohl wissend, dass die Differenzen in Bezug auf das Verhältnis zu den repräsentativen Institutionen und die Haltung zur Regierungsfrage die Alternativen auf Wahlebene und die Parteiaufbauprojekte voneinander trennen.

Der Aufbau einer französischen „Die Linke“ würde in Anbetracht der Geschichte der revolutionären Bewegung und dessen, was die NPA zusammenbringen konnte, für den Aufbau einer antikapitalistischen Alternative einen Rückschlag darstellen. Während ein ganzer Sektor, der von der antikapitalistischen Linken beeinflusst wird, zu den Führungen der traditionellen Linken auf Distanz gegangen ist, würde die Bildung einer neuen linksreformistischen Kraft für die Arbeiterbewegung einen Schritt rückwärts bedeuten. Damit würde dieser Sektor wieder in das „reformistische Räderwerk“ zurück geführt werden. Dabei könnten Konzeptionen vom Typ der „Einheitsfront besonderer Art“ uns bei der Definition einer klaren Politik gegenüber dieser Art von Strömungen entwaffnen.

Diese Konzeption, bei der die strategische Tragweite der Meinungsverschiedenheiten zur Frage der Regierung und der Institutionen unterschätzt wird, wirft ein Licht auf bestimmte internationale Positionen der IST (Internationalen Sozialistischen Tendenz). So ist zu erklären, dass es in der Politik der Genossinnen und Genossen der IST in Deutschland eine Relativierung der Kritik an der Politik der Führung von Die Linke zu den Fragen der Beteiligung an Regierungen mit der SPD gibt. Auch ist eine Nachsicht der Genossinnen und Genossen gegenüber dem neuen Führungsblock von Rifondazione communista in Italien festzustellen. Bei dem letzten Parteitag von Rifondazione [3] hat eine „linke“ Reaktion der Mitglieder dazu geführt, dass die Anhängerschaft von Bertinotti in die Minderheit geraten ist. Die Politik der neuen Führung steht jedoch in der Kontinuität der bisherigen Positionen von Rifondazione, und nach wie vor wird die Politik von Bündnissen mit der Demokratischen Partei in allen regionalen Exekutiven unter der Führung der linken Mitte gebilligt.

Und hat diese Konzeption einer „Einheitsfront besonderer Art um ein Minimalprogramm herum“ nicht zur Entwaffnung der SWP-Leitung gegenüber Galloway beigetragen, der meinte, dass Respect „auf Dauer angelegte Bündnisse mit örtlich Muslim-Notabeln, die Stimmen bringen können, bilden sollte“? [4]

Eine antikapitalistische Partei als einen Rahmen der Einheitsfront aufzufassen, kann auch sektiererische Abweichungen zur Folge haben … Wenn eine Einheitsfront zustande kommt, und sei es auf eine besondere Art, kann man dann nicht versucht sein, alles über die Partei laufen zu lassen und dabei die wirklichen Kämpfe um die Einheit in der Aktion zu unterschätzen? Die antikapitalistische Partei muss die Aktivitäten der Partei und eine Orientierung auf einheitliches Eingreifen miteinander kombinieren…, denn im Gegensatz zu dem was Callinicos nahe legt, haben wir nicht vergessen, dass der Reformismus nach wie vor existiert, dass es in der Arbeiterbewegung Spaltungen und Differenzierungen gibt, dass man intervenieren muss, um sie zusammen zu bringen, um eine Einheit der Arbeitenden und ihrer Organisationen herzustellen.

Noch einmal, die Einheitsfront in allen ihren Varianten ist eines. Der Aufbau einer politischen Alternative ist etwas anderes, dies ist der Weg der NPA.


Welche Art von revolutionärer Partei?


Alex Callinicos versucht, uns von der Flanke her anzugehen, indem er uns erklärt, wenn die NPA auch eine antikapitalistische Partei ist, „so ist sie keine revolutionäre Partei in dem spezifischen Sinn, wie das in der klassischen marxistischen Tradition verstanden worden ist“. Nun lässt sich über die klassische marxistische Tradition diskutieren, die in ihrer Vielfalt ausgesprochen reichhaltig ist.

Entsprechend der Geschichte, dem Grad an strategischer Klärung, den Organisationsprinzipien und -taktiken, und – nicht zu vergessen – den verschiedenen Interpretationen dieser oder jener revolutionären Strömung, gibt es mehrere Modelle. Richtig ist, dass die NPA keine Wiederholung der revolutionären Organisationen aus der Phase nach dem Mai 68 ist.

Antikapitalistische Parteien wie die NPA gehen nicht von allgemeinen historischen oder ideologischen Definitionen aus. Ihr Ausgangspunkt ist „ein gemeinsames Verständnis der Ereignisse und der Aufgaben“ zu zentralen Fragen des Eingreifens in den Klassenkampf. Nicht eine Summe von taktischen Fragen, sondern zentrale politische Fragen wie ein Programm zum politischen Eingreifen mit einer Orientierung auf Klasseneinheit und -unabhängigkeit.

In dieser Bewegung gibt es Raum für verschiedene Geschichten und Bezugspunkte mit unterschiedlichster Herkunft, dies ist sogar notwendig. Macht sie das zu einer Partei ohne Geschichte, ohne Programm, ohne feste Umrisse? Nein.

Es gibt eine Geschichte, eine Kontinuität: die der Klassenkämpfe, das Beste aus den sozialistischen, kommunistischen, libertären, revolutionär-marxistischen Traditionen. Sie stellt sich in die revolutionären Traditionen der heutigen Welt und stützt sich, genauer gesagt, auf die lange Kette der französischen Revolutionen von 1793 bis Mai 68, über 1848, die Pariser Commune und den Generalstreik 1936.

Die NPA stellt auch einen Parteitypus dar, der auf die Notwendigkeiten einer neuen historischen Periode, die am Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts eingesetzt hat, sowie auf den Bedarf der Neufundierung eines sozialistischen Programms in Anbetracht der kombinierten historischen Krise des Kapitalismus und der Umwelt unseres Planeten zu antworten versucht.

In Anbetracht dieser Herausforderungen versteht die NPA sich als eine revolutionäre Partei eher in dem Sinn, wie Ernest Mandel es formuliert hat:

„Was ist eine Revolution? Eine Revolution ist der radikale und rasche Umsturz der ökonomischen und/oder politischen Machtstrukturen durch die tumultartige Aktivität von breiten Massen. Es ist auch die plötzliche Verwandlung der Masse des Volks aus einem mehr oder minder passiven Objekt in den entscheidenden Akteur des politischen Lebens.

Eine Revolution bricht aus, wenn diese Massen sich entschließen, mit den Existenzbedingungen, die ihnen unerträglich erscheinen, Schluss zu machen. Sie bringt also immer eine tiefe Krise der jeweiligen Gesellschaft zum Ausdruck. Diese Krise hat ihre Wurzeln in den Herrschaftsstrukturen. Sie bringt aber auch einen Legitimitätsverlust der Regierenden und ein Ende der Geduld bei breiten Schichten des Volks zum Vorschein.

Die Revolutionen sind auf lange Sicht unvermeidlich – die wahren Lokomotiven des geschichtlichen Fortschritts –, weil eine Klassenherrschaft eben nicht auf dem Weg von Reformen beseitigt werden kann. Diese können sie nur abmildern, nicht aufheben. Die Sklaverei ist nicht durch Reformen abgeschafft worden. Die absolutistische Monarchie des Ancien Régime ist nicht durch Reformen abgeschafft worden. Es waren Revolutionen nötig, um sie zu beseitigen.“ [5]

Richtig ist, dass diese Definition allgemeiner ist als die strategischen bzw. politisch-militärischen Hypothesen, die sich durch die Debatten der 1970er Jahre gezogen haben, die damals im Licht der revolutionären Krisen des 20. Jahrhunderts geführt worden sind.

Antikapitalistische Parteien wie die NPA sind in dem Sinn „revolutionär“, wie sie mit dem Kapitalismus Schluss machen, wie sie einen „Umsturz der ökonomischen und/oder politischen (also staatlichen) Machtstrukturen“ wollen, und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft verläuft über Revolutionen, bei denen die unten die oben davonjagen und „die Macht übernehmen, um die Welt zu verändern“.

Sie haben ein Programm und strategische Umrisse. Diese sind jedoch nicht vollständig. Es sei daran erinnert, dass Lenin im April 1917, mitten in der revolutionären Krise, seinen strategischen Rahmen geändert oder substantiell modifiziert hat, auch gegen einen Teil der Führung der bolschewistischen Partei. Von der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ wechselte er zur Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution und der Arbeiterrätemacht … Gewiss, Lenin hatte über Jahre hinweg eine Partei solide auf das Ziel eines radikalen Sturzes des Zarismus, auf die Ablehnung jedes Bündnisses mit der demokratischen Bourgeoisie und die Unabhängigkeit der Kräfte der Arbeiter im Bündnis mit der Bauernschaft ausgerichtet. Und diese Vorbereitungszeit war entscheidend. Doch sind viele Fragen im Verlaufe des revolutionären Prozesses selber entschieden worden.

Im Verhältnis zu der Zeit nach dem Mai 68 hat sich vieles verändert, allgemeiner im Verhältnis zu einer ganzen historischen Periode, die von der Schubkraft der russischen Revolution geprägt war.

Seit über dreißig Jahren hat es in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern keine vorrevolutionären oder revolutionären Situationen mehr gegeben. Die Beispiele, auf die wir uns stützen, gehen auf Revolutionen der Vergangenheit zurück. Wir wissen aber nicht, wie die Revolutionen des 21. Jahrhunderts aussehen werden. Die neuen Generationen werden viel aus der Erfahrung lernen, und viele Fragen bleiben offen.

Wir können und müssen die Parteien, die wir aufbauen, an einer Reihe von „starken“ Bezugspunkten verankern, die aus der Erfahrung und der Intervention in den letzten Jahren beruhen; dieses Punkte stellen eine programmatische und strategische Basis dar, an der wir uns orientieren.

Ich möchte sie benennen: ein Programm des antikapitalistischen Übergangs, das unmittelbare und Übergangsforderungen miteinander verbindet, eine Umverteilung des Reichtums, die Infragestellung des kapitalistischen Eigentums, gesellschaftliche Aneignung der Ökonomie, Klasseneinheit und Klassenunabhängigkeit, Bruch mit der kapitalistischen Ökonomie und mit den zentralen Institutionen des kapitalistischen Staats, Ablehnung jedweder Politik der Klassenzusammenarbeit, Aufgreifen der ökosozialistischen Perspektive, revolutionäre Gesellschaftsveränderung …

Neuere Debatten haben uns veranlasst, unsere Auffassung der Gewalt präziser zu fassen. Wir haben dabei bekräftigt, dass „nicht die Revolutionen gewalttätig waren, sondern die Gegenrevolutionen“, wie 1936 in Spanien oder 1973 in Chile, und dass die Anwendung der Gewalt auf den Schutz eines revolutionären Prozesses gegen die Gewalt der herrschenden Klassen abzielte.

Inwiefern muss die neue Partei also gegenüber der LCR eine Änderung darstellen? Es muss eine breitere Partei sein als die LCR. Eine Partei, die sich nicht die gesamte Geschichte des Trotzkismus zueigen macht und deren Ambition darin besteht, neue revolutionäre Synthesen möglich zu machen. Eine Partei, die mehr ist als die Einheit der RevolutionärInnen. Eine Partei, die mit Millionen von Arbeitenden und Jugendlichen im Dialog steht. Eine Partei, die ihre grundlegenden programmatischen Bezugspunkte in allgemeinverständliche Erklärungen, agitatorische Aussagen und Formulierungen übersetzt. So gesehen stellen die Wahlkämpfe von Olivier Besancenot einen außerordentlichen Pluspunkt dar. Eine Partei, die dazu in der Lage ist, breite Debatten zu grundlegenden Fragen zu führen, mit denen die Gesellschaft sich beschäftigt: Krise des Kapitalismus, Erderwärmung, Bioethik usf. Eine Partei von AktivistInnen und von Mitgliedern, die Tausende von Jugendlichen und abhängig Beschäftigten mit ihrer sozialen und politischen Erfahrung integrieren kann und die ihre Verbindungen in das Milieu ihrer sozialen Herkunft bewahren. Eine pluralistische Partei, die eine ganze Reihe von antikapitalistischen Strömungen zusammenbringt.

Wir wollen keine LCR 2.0 oder eine erweiterte Version der LCR. Wenn wir unsere Wette gewinnen wollen, muss diese Partei eine neue politische Realität repräsentieren, in der Tradition der revolutionären Bewegung stehen und einen Beitrag dazu leisten, die Revolutionen und den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu erfinden.


Reformistischen Versuchungen widerstehen – wirklich eine antikapitalistische Partei aufbauen!


Callinicos bleibt trotz dieser Bestimmungen skeptisch: „Die LCR scheint in einer Art programmatischem Vorhängeschloss eine Lösung zu sehen: die Selbstverpflichtung zum Antikapitalismus und Ablehnung von Mitte-Links-Regierungen. Das wird aber so kaum funktionieren. Denn je erfolgreicher die NPA ist, desto wahrscheinlicher wird sie unter reformistischen Druck und in Versuchung geraten.“

Warum solch ein Fatalismus? Warum soll die Entwicklung der NPA mechanisch reformistische Versuchungen mit sich bringen? Es gilt hierbei einen Unterschied zwischen einem, um eine Formel von Lenin aufzugreifen, „spontanen Trade-Unionismus“ [6] und dem Reformismus als einem politischen Projekt einer Organisation bzw. eines Apparats zu machen. Dieser „spontane Trade-Unionismus“, der zwar einen fruchtbaren Nährboden für reformistische Ideen abgeben kann, vermag sich jedoch, wenn er mit der immer bedingungsloseren Ausrichtung der reformistischen Apparate auf die kapitalistische Politik konfrontiert ist, auch auf radikale, antikapitalistische bzw. revolutionäre Positionen orientieren, vor allem wenn das kapitalistische System in eine Phase hineinkommt, wo es an seine historischen Grenzen stößt. Es ist logisch, dass die Partei, wenn wir eine volkstümliche, pluralistische, breite, offene Partei aufbauen, dem Druck aller denkbaren Art ausgesetzt sein wird. Anomal wäre das Gegenteil. Warum aber sollte dieser Druck sich in kristallisierte reformistische Positionen umsetzen? Es existiert jetzt und möglicherweise hin und wieder einmal eine Spannung zwischen dem antikapitalistischen Charakter der neuen Partei und dem Umstand, dass abhängig Beschäftigte, Jugendliche oder auch eine Reihe von Persönlichkeiten sich der neuen Partei ganz einfach deswegen anschließen, weil sie eine wirkliche Linkspartei suchen und vor allem weil sie von den Reden von Olivier Besancenot angetan sind.

Diese neuen Mitglieder können in der Tat kämpferisch, aber voller Illusionen sein. Das ist das Schicksal jeder Massenpartei, auch einer kleineren.

Da wird es nichts anderes geben als Diskussionen und politische Bildung. Das bedeutet umso mehr, dass die politischen Antworten der NPA „starke“ Inhalte bekommen müssen und dass man auf den radikalen Charakter und die Unabhängigkeit der Partei acht geben muss.

Wenn diese Parteien bei der Reorganisation der sozialen Bewegungen eine Rolle spielen wollen, müssen sie pluralistisch sein. Eine ganze Reihe von verschiedenen Ansätzen müssen sich darin wiederfinden können, auch „konsequent reformistische“ AktivistInnen und Strömungen. Das hat jedoch nicht mechanisch zur Folge, dass das Problem sich so stellt, dass es Kämpfe zwischen einer revolutionären Strömung und kristallisierten reformistischen Strömungen, die man bekämpfen muss, geben wird. Die Schlüsselfrage besteht darin, dass alle Strömungen und AktivistInnen der NPA über ihre Positionen zur „Reform und Revolution“ hinaus den „Klassenkampf“ in den Mittelpunkt rücken und diesem Ziel ihre Positionen in den Institutionen und den sozialen Bewegungen unterordnen. Selbstverständlich können wir die Hypothese eines Zusammenstoßes zwischen ReformistInnen und RevolutionärInnen nicht ausschließen. Bei den gegenwärtigen politischen Umrissen der NPA ist es jedoch wenig wahrscheinlich, dass bürokratische, reformistische Strömungen ihr beitreten oder sich in ihr kristallisieren … In einer ersten historischen Phase des Parteiaufbaus ist es die Rolle der RevolutionärInnen, alles zu tun, damit aus dem Prozess der Parteibildung wirklich eine neue politische Realität entsteht. Das hat zur Folge, dass sie es vermeiden, die Auseinandersetzung der alten revolutionären Organisation in die neue Partei hinein zu projizieren.

Es wird natürlich Diskussionen, Differenzierungen, Strömungen geben, sobald die NPA Fahrt aufgenommen haben wird. Manche Debatten werden sich vielleicht mit der Kluft zwischen revolutionärer Perspektive und mehr oder minder konsequentem Reformismus decken. Aber selbst in diesen Fällen heißt das nicht, dass es einen politischen Kampf geben wird, bei dem sich ein reformistischer, bürokratischer Block und die RevolutionärInnen gegenüber stehen. Aufgrund der eigenen Erfahrung der neuen Partei werden die Dinge stärker gemischt liegen.


Bedarf es einer separaten revolutionären Strömung in der NPA?


Auch hier gibt es kein Modell. In vielen antikapitalistischen Parteien gibt es eine oder mehrere revolutionäre Strömungen, wenn diese Parteien in Wirklichkeit Fronten oder Föderationen von Strömungen sind. Dies ist bei den Mitgliedern der IV. Internationale in Brasilien der Fall, die [in der „Partido Socialismo e Liberdade“ (PSoL)] die Strömung „Enlace“ bilden. Ohne sich in Strömungen zu organisieren, die auf das nationale politische Leben dieser Parteien bezogen sind, organisieren sich andere Sektionen der IV. Internationale als Assoziationen oder ideologische Zusammenhänge. Das ist beispielsweise bei der APSR innerhalb des Linksblocks in Portugal oder der SAP innerhalb von „Enhedslisten“ in Dänemark der Fall. Diese Art von Strömungen ist auch in anderen Organisationen oder breiteren Parteien zu finden.

Dieses Schema funktioniert bei der NPA nicht. Zuerst einmal aus grundlegenden Ursachen, nämlich wegen des antikapitalistischen und „im weiteren Sinne“ revolutionären Charakters der NPA und wegen der allgemeinen Identität der Ansichten von LCR und NPA. Es gibt natürlich politische Unterschiede zwischen der LCR und der NPA, und es wird sie geben (eine größere Heterogenität und Verschiedenartigkeit der Positionen innerhalb der NPA), doch zeigen die politischen Grundlagen für den Gründungskongress der neuen Partei bereits die politischen Konvergenzen zwischen der ehemaligen LCR und der künftigen NPA.

Selbst wenn die NPA bereits eine andere Realität darstellt als die LCR, selbst wenn sie möglicherweise einen antikapitalistischen Pluralismus hervorbringen wird, so ist doch heute der Aufbau einer getrennten revolutionären Strömung in der NPA nicht gerechtfertigt.

      
Mehr dazu
Alex Callinicos: Wohin treibt die radikale Linke?, Inprekorr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009)
Alan Thornett: Eine Antwort auf Alex Callinicos zu Respect, Inprekorr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009)
Guillaume Liégard: Neue Antikapitalistische Partei – ein vielversprechender Anfang, Inprekorr Nr. 450/451 (Mai/Juni 2009)
Ursi Urech: Die Gründung der NPA, Inprekorr Nr. 448/449 (März/April 2009)
Pierre Rousset: Auf dem Weg zu einer Neuen Antikapitalistischen Partei, Inprekorr Nr. 446/447 (Januar/Februar 2009)
Ingrid Hayes: Ein großer Schritt zur Neuen Antikapitalistischen Partei, Inprekorr Nr. 442/443 (September/Oktober 2008)
 

Auch gibt es ein spezifisches Verhältnis zwischen der ehemaligen LCR und der NPA. Die ehemalige LCR ist die einzige nationale Organisation, die sich an der Bildung der NPA beteiligt. Es gibt andere Strömungen wie die Fraktion von LO [7], „Gauche Révolutionnaire“ [8], kommunistische AktivistInnen [ehemalige Mitglieder der PCF], Libertäre, aber zur Zeit gibt es leider keine Organisationen mit einem Gewicht, das dem der LCR gleich käme. Wäre dies der Fall, würde sich das Problem unter anderen Vorzeichen stellen.

Bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen würde die getrennte Organisierung der ehemaligen LCR in der NPA den Prozess des Aufbaus der neuen Partei blockieren. Sie würde ein System der russischen Puppen einführen, das nichts als Misstrauen und Funktionsstörungen schaffen würde.

Und schließlich kommt die NPA nicht aus dem Nichts. Sie ist das Resultat einer Vielzahl von Erfahrungen von AktivistInnen der ehemaligen LCR, aber auch Tausender anderer, die sich im Kampf zur Verteidigung einer Linie der Unabhängigkeit vom Sozialliberalismus und vom Reformismus eine Meinung gebildet haben.

Innerhalb der NPA gibt es also eine politische Synergie, bei der sich revolutionäre Positionen mit anderen politischen Positionen durchmischen, die anderen Ursprung haben, eine andere Geschichte haben, auf anderen Erfahrungen beruhen. Allein neue politische Tests werden die Karten innerhalb der NPA neu mischen, nicht die alten Zugehörigkeiten …

Das ist eine Wette, wie sie in der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung noch nicht da gewesen ist, aber sie ist der Mühe wert. Wir kommen voran, wenn wir uns in Gang setzen.

François Sabado ist Mitglied des Büros der IV. Internationale und des „Conseil politique national“ (Nationalen Politischen Rats) der NPA. Als er diesen Beitrag schrieb, war er Mitglied der „Direction nationale“ und des Politischen Büros der LCR.

Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Dorn.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 456/457 (November/Dezember 2009). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] J. Rees, „Anti-Capitalism, Reformism and Socialism“, in: International Socialism, 2. Folge, Nr. 90, Frühjahr 2001, S. 32.
http://pubs.socialistreviewindex.org.uk/isj90/rees.htm

[2] J.-L. Mélenchon erklärte Anfang November 2008 seinen Austritt aus der Sozialistischen Partei und kündigte kurz darauf die Gründung der „Parti de Gauche“ (PG, Linkspartei) an. (Anm. d. Übers.)

[3] Gemeint ist der Parteitag vom Juli 2008; siehe hierzu: Js., „Rolle rückwärts. Bei Rifondazione Comunista sind jetzt die TraditionalistInnen in der Mehrheit“, in: analyse & kritik, Nr. 530, 15.8.2008, S. 19; vgl. auch Cinzia Arruzza, „An ,invertebrate left‘ approaches the European elections“, Mai 2009, http://internationalviewpoint.org/spip.php?article1664. (Anm. d. Übers.)

[4] Zitat aus dem vollständigen Artikel von Alex Callinicos (http://www.isj.org.uk/index.php4?id=484&issue=120), in der in Inprekorr veröffentlichten gekürzten Fassung nicht enthalten. (Anm. d. Übers.)

[5] Ernest Mandel, „Pourquoi sommes-nous révolutionnaires aujourd’hui?“, in: La Gauche, 10. Januar 1989.
http://www.ernestmandel.org/fr/ecrits/txt/1989/pourquoi_revolutionnaire_aujourdhui.htm

[6] Mit dieser Formulierung sprach Lenin die spontane gewerkschaftliche Reaktion oder Empfindung der Arbeitenden an, die sich für ihre Arbeitsbedingungen, Lebensbedingungen und Forderungen einsetzen.

[7] Die „Fraction L’Etincelle de Lutte Ouvrière“ bestand ab 1996 in der Organisation „Lutte Ouvrière“ (LO) und wurde im Januar 2008 wegen ihrer Ablehnung der Wahlabkommen von LO mit PS und PCF zu den Kommunalwahlen vom März 2008 und ihrer Beteiligung am Prozess der Herausbildung der NPA ausgeschlossen. (Anm. d. Übers.)

[8] Gauche Révolutionnaire (Revolutionäre Linke), 1992 entstandene französische Sektion der Kommunistischen Arbeiterinternationale, bekannter als „Committee for a Workers’ International“ (CWI). (Anm. d. Übers.)