Das Ausmaß des Skandals bei VW, eines der Weltmarktführer, lässt sich an der Bedeutung dieses Industriezweigs messen, sowohl in Hinblick auf das dort investierte Kapital und die Zahl der weltweit Beschäftigten als auch der Folgen dieses Transportmittels für Städtebau und Umwelt. Niemals zuvor sind weltweit so viele Autos produziert und zugelassen worden wie 2015.
Jean-Claude Vessillier
Der bei VW aufgedeckte Betrug, der längst nicht nur diesen Konzern betrifft, fällt auf den gesamten Industriezweig zurück, in dem eine Handvoll Konzerne seit den 70er Jahren den gesamten Weltmarkt beherrschen. Nach dem heftigsten Einbruch, den diese Industrie 2008/9 seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 erlebt hat, tobt die Konkurrenz umso schärfer und am meisten in den Ländern, wo die Verkaufszahlen, von konjunkturellen Schwankungen abgesehen, stagnieren, nämlich in Nordamerika, Europa und Japan.
Der Betrug von VW ist typisch für die kapitalistische Industrie und deren Haltung gegenüber den Beschäftigten wie auch der Bevölkerung, die gezwungen ist, den Dreck einzuschnaufen. Der aufgedeckte Skandal enthüllt gegenüber breitesten Bevölkerungskreisen die umweltzerstörerischen Praktiken kapitalistischer Unternehmen, das dahinter stehende Profitstreben schlägt sich in erster Linie jedoch in der Ausbeutung der Arbeitskraft nieder. Die Transformationsprozesse in den Fabriken, Werkstätten und Entwicklungsabteilungen unter dem Vorzeichen der „Lean Production“ [1] zielen auf die Beschäftigten und ihre in den Jahrzehnten davor erkämpften Rechte. Eine Kritik an den desaströsen Folgen der Automobilindustrie sollte diese beiden Aspekte im Visier haben, um das gesamte kritische Potential der sozialen Bewegungen auszuschöpfen.
Vor sechs Jahren mussten zwei der drei großen Automobilkonzerne der USA (GM und Chrysler) im Rahmen des US-Insolvenzrechts unter die staatlichen Fittiche schlupfen und die beiden französischen Hersteller PSA und Renault vermeldeten Defizite von 1,16 bzw. 1,5 Mrd. Euro. Bis 2015 hatten sich die Profite durchgängig bei allen Herstellern erholt und wurden erst wieder mit dem Wachstumsknick in China und dem VW-Skandal getrübt. Zuvor war Europa zur Achillesferse im weltweiten Absatz der Automobilindustrie nach der Krise von 2008 geworden, aber zuletzt hatten sich die Produktions- und Verkaufsziffern auch dort spürbar erhöht, jedoch im Unterschied zu den übrigen Kontinenten nie wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Wurden 2007 noch 16 Millionen Neufahrzeuge in Europa verkauft, waren es 2014 gerade mal 12,5 Millionen. Mit anderen Worten: Einem Anstieg des weltweiten Absatzes um 20 % zwischen 2007 und 2014 stand ein Rückgang der Verkaufsziffern um 20 % in Europa gegenüber.
Während Produktion und Absatz der Automobile der Globalisierung unterliegen, dominieren noch immer dieselben US-amerikanischen, europäischen und japanischen Hersteller und streichen die weltweit entstehenden Gewinne ein. Innerhalb dieser weltweiten Umwälzungen vollziehen sich weitere Konzentrationsprozesse auf Kapitalseite. Seit 2008 ist China zum weltgrößten Produzenten aufgestiegen. Die dort gefertigten Autos werden vorwiegend im Inland verkauft, was China zum größten Absatzmarkt macht.
Die durchgängige Erholung der Profite ist einerseits Folge der weltweit gestiegenen Absätze, und beruht andererseits auf den Umstrukturierungsmaßnahmen in den klassischen Herstellerländern.
Die Vernichtung von Produktionskapazitäten in der Nachkrisenzeit durch Werksschließungen und Arbeitsplatzvernichtung erwies sich vom Standpunkt der Kapitalisten als durchaus rational, da anschließend ihre Profite wieder stiegen. Hier zeigt sich jedoch, dass Helmut Schmidts Theorem, wonach „die Profite von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“ seien, eine Mär ist, namentlich für die Autoindustrie. Deren gestiegene Profite fließen zunächst in den Dividendentopf der Aktionäre, dann in die neuen Absatzmärkte und zuletzt in die „eigenen“ Länder. Und wenn dort investiert wird, dann in Modernisierungen, in denen die menschliche Arbeitskraft durch immer weiter vernetzte Maschinen ersetzt wird. Da die vorhandene Arbeit nicht auf alle Hände verteilt wird, führen die geringen Investitionen in die europäische Autoindustrie nur zur Vernichtung von Arbeitsplätzen – so die heutige Realität in Westeuropa.
Die Phase, in der Werke umstandslos liquidiert wurden und jeder Hersteller in Europa mit Ausnahme von VW mindestens eine Fabrik mit mehreren Tausend Beschäftigten geschlossen hat, neigt sich inzwischen dem Ende zu – nicht aber die Unternehmerangriffe. Die noch vorhandenen Belegschaften in den Autofabriken, die noch immer zu den weltweit am stärksten geballten gehören, unterliegen immer neuen Zergliederungsprozessen. In ein und denselben Werken finden sich immer mehr Beschäftigte mit unterschiedlichem Status und Lohn.
Vorreiter waren die USA. Nach Angaben der dortigen Automobilarbeitergewerkschaft UAW haben nur noch 10 % der Beschäftigten in den Big Three – GM, Ford und Chrysler – denselben Status und einen Durchschnittslohn von 29 Dollar wie vor der Krise 2007. Die seither auf denselben Arbeitsplätzen neu eingestellten verdienen gerade noch zwischen 16 und 20 Dollar pro Stunde und machen inzwischen die Hälfte dieser Belegschaften aus. Die Zahl der nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten (weil in nicht tarifgebundenen Werken tätig) liegt mittlerweile bei 81 % der Gesamtheit aller Automobilarbeiter. [2]
Die „Normalität“ in den USA wird inzwischen dadurch bestimmt, dass die Zuliefererfirmen mit traditionell sehr geringem Organisationsgrad zahlenmäßig immer stärker ins Gewicht fallen und Standortverlagerungen der Fabriken vorgenommen werden, vornehmlich von Nissan, Mercedes und VW. Diese Konzerne lassen sich in den Bundesstaaten nieder, wo die gesetzlichen Regelungen am stärksten zuungunsten der Lohnabhängigen ausfallen und folglich die Löhne um die 15 Dollar liegen und damit nicht einmal halb so hoch wie in der historischen Automobilstadt Detroit. In 25 US-Bundesstaaten gilt das „Right-to-work law”, das die gewerkschaftliche Organisierung einschränkt, indem die automatische Mitgliedschaft bei Einstellung unterbunden wird und die Errichtung einer Gewerkschaft in einer Fabrik von der mehrheitlichen Zustimmung der Belegschaft abhängig gemacht wird. Eine solche Regelung öffnet natürlich der Unternehmerwillkür Tür und Tor, da sie entsprechenden Druck ausüben können. Und die Automobilkonzerne wie VW oder Nissan betätigen sich als die Vorreiter in dieser Abwärtsspirale, in der die Rechte und der Schutz der Belegschaften immer weiter ausgehöhlt werden.
In Europa greifen die Konzerne mittlerweile auf dieselben Methoden zurück und zergliedern die Belegschaften oder umgehen die Gewerkschaften, sofern diese die „Umstrukturierungen“ nicht mittragen. Die Nutzung von Werkverträgen oder der Einsatz von Leiharbeitern (mit weniger Rechten und Lohn) ist zur Regel geworden und in Zeiten normaler Auftragslage stellen diese nicht selten das Gros an den Fließbändern. Der Unternehmerwillkür sind sie besonders ausgesetzt und, brechen die Aufträge ein, werden sie als Erste rausgeworfen. Obwohl sie als Fließbandarbeiter besonders davon betroffen sind, dürfen sie nicht an den „Belegschaftsentscheiden“ teilnehmen, auf die sich die Unternehmer neuerdings so gerne stützen. Durch diese Trickserei der Unternehmer werden die Abstimmungsergebnisse verfälscht, da leitende Angestellte und Techniker überproportional vertreten sind.
Die Fiat-Werke in Mirafiori (Turin) waren die ersten, die diese Praxis in großem Maßstab angewandt haben. In dieser historischen Fiat-Hochburg ließ Fiat-Chef Marchionne im Dezember 2011 auf diesem Weg einen neuen Arbeitsvertrag absegnen, der drastische Verschärfungen der Arbeitsbedingungen und den Ausschluss der FIOM aus dem Betriebsrat beinhaltete, weil sich der Metallerverband der Mehrheitsgewerkschaft CGIL dem Diktat widersetzte. Die knappe Zustimmung von 54 % zu den Vorstandsplänen kam nur dank der leitenden Angestellten und des Büropersonals zustande, während die Bandarbeiter mehrheitlich dagegen waren.
Derselbe Schwindel wurde kürzlich im lothringischen Smart-Werk in Hambach/Mosel durchgeführt, wo auf Antrag der Unternehmensleitung die Mehrheit der Beschäftigten eine Verlängerung der Arbeitszeit mit unterproportionaler Anhebung der Löhne akzeptierte. Die in der Produktion Beschäftigten, für die dieser neue Vertrag verbindlich gilt, waren zu 61 % dagegen, während die mittleren und leitenden Angestellten, die individuell den ihnen vorgelegten Änderungsvertrag ablehnen können, zu 74 % dafür stimmten. Auch hier blieben die Leiharbeiter – obwohl genauso betroffen – bei der Abstimmung außen vor. [3]
Bei Renault stellen die Leiharbeiter inzwischen fast 40 % der insgesamt 20.000 in der Produktion Beschäftigten in Frankreich dar, in einzelnen Werken wie Flins und Sandouville sogar bis zu 80 %. Damit bilden sie ein permanentes Druckmittel in der Hand der Unternehmer, die Belegschaften zu spalten, sämtliche Gewerkschaften zu schwächen und sämtliche Tarifrechte und Unternehmensvereinbarungen, die für die unbefristet Beschäftigten gelten, zu umgehen. Damit soll der Personalabbau von einer Zersplitterung der aktiven Belegschaften flankiert werden, weil diese gerade in der Automobilindustrie in der Vergangenheit den Widerstand gegen die Unternehmerwillkür organisiert haben.
Le Monde schrieb anlässlich des VW-Skandals auf der Titelseite über das Klima der Angst, das in dem Konzern herrscht – eine späte, aber wahre Erkenntnis. Denn immerhin gehen sämtliche Modernisierungen im Sinne der „Lean Production“ einher mit Unternehmerwillkür und systematischer Kontrolle aller Belegschaftsangehörigen, um so auch die kleinsten Arbeitsabläufe zeitlich zu erfassen und zu beschleunigen.
Schon lange versteht sich VW darauf, die Gesetze und Auflagen zu umgehen, die den Unternehmerprofiten hinderlich sind. Dortiger Personalchef war einst Peter Hartz, Stichwortgeber von Kanzler Schröder in Sachen Sozialabbau und Namenspatron der berüchtigten Hartz-Gesetze. Unter ihm entstand die Tochtergesellschaft „Auto 5000“, wo 5000 Arbeiter zu 5000 DM Bruttoentgelt – also 20 % unter Tarif – bei zugleich längerer Arbeitszeit eingestellt wurden. Rekrutiert wurden die Beschäftigten über Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit.
Parallel dazu wurden Flexibilisierungsmaßnahmen im gesamten Konzern durchgeführt. Zwar galt weiterhin die 35-Stundenwoche im Jahresdurchschnitt, aber die Tagesarbeitszeit wurde den jeweiligen Betriebsabläufen angepasst. Neueingestellte können auf eine Wochenarbeitszeit bis zu 42 Stunden verpflichtet werden. Festgelegt wurde ein „Zeitkorridor“ von 26 bis 33 statt wie bisher 28,8 Wochenarbeitsstunden, und zwar ohne finanzielle Entschädigung für diese Flexibilisierung und auch ohne Zuschläge für die Stunden 35 bis 40. Zu Beginn dieses Jahrhunderts wurden 20 000 Arbeitsplätze abgebaut, darunter 7 800 in Deutschland, und 13 000 Beschäftigte in Vorruhestand geschickt. So sieht die Wirklichkeit des vermeintlichen Sozialmodells VW aus.
Daneben gibt es auch die Niederungen des Alltags, in denen sich der tugendhafte Konzern der Korruption bedient. So wurde Peter Hartz im Januar 2006 wegen Bestechung zu zwei Jahren auf Bewährung und 576 000 Euro Geldstrafe verurteilt. Er hatte gestanden, zwischen 1995 und 2005 Mitgliedern des Betriebsrats fast 2 Millionen Euro an Sonderprämien zugewendet zu haben, um „Partys, Prostituierte und Reisen für die Vertreter des Personals zu finanzieren“. Hartz hatte damals erklärt, den Sozialfrieden sichern zu wollen. So sieht die westeuropäische „Softversion“ von Korruption aus.
Sehr viel heftiger steht es um die Repression in Brasilien, für die VW als Mittäter verantwortlich ist. Am 22. September 2015 haben mehrere Gewerkschafts- und Menschenrechtsorganisationen sowie Opferverbände Klage gegen den deutschen Automobilhersteller wegen dessen Verwicklung in die Repression während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 eingereicht. Der Vorwurf lautet, dass mehrere Werksangehörige in dieser blutigen Ära unter der Aufsicht und Beteiligung des Sicherheitspersonals im Werk verhaftet und verprügelt worden sind. Außerdem habe VW mutmaßliche Oppositionelle entlassen, schwarze Listen geführt und die Repressionsorgane der Diktatur mit Informationen über die Belegschaft versorgt. Die Klage stützt sich auf Archive und Zeugenaussagen von Opfern bei der Wahrheitskommission, die 2012 zur Untersuchung der während der Diktatur begangenen Verbrechen eingerichtet worden ist.
Mag VW momentan im Rampenlicht stehen, so ist es beispielsweise um Renault-Nissan unter dem Vorstandsvorsitzenden Ghosn nicht viel besser bestellt, wie die Aussagen von Beschäftigten im Nissan-Zweigwerk von Canton in Mississipi belegen. Die dort Beschäftigten, die zu 87 % Schwarze sind, arbeiten unter denselben Bedingungen, wie sie in Indien oder Bangladesch angeprangert werden. „Wir arbeiten an sechs, manche gar an sieben Tagen die Woche über zehn, zwölf Stunden. Die dort herrschenden prekären Bedingungen haben zu zahlreichen Arbeitsunfällen geführt.“ Die Werksleitung nutzt die ganzen einschlägigen Gesetze des Bundesstaates aus, um die Bildung einer Gewerkschaft zu verhindern und die Beschäftigten einzuschüchtern. [4]
Die Zeiten sind vorbei, in denen in der Automobilindustrie alle Arbeitsgänge von der Verarbeitung der Bleche über die Motorenfertigung bis hin zur Innenausstattung an Ort und Stelle geleistet wurden. Immer mehr geht die Produktion in die Hände der Zulieferindustrie über, deren Anteil an der Wertschöpfung zwischen 2000 und 2015 von 70 auf 80 % hochgegangen ist. Der größte Batzen dabei kommt der Elektronik zu, deren Anteil von gegenwärtig 30 % bis 2020 auf 50 % steigen dürfte.
Damit ist eine gewaltige weltweite Umstrukturierung im Gange. Continental ist der weltweit zweitgrößte Zulieferkonzern, während Bosch, der die Software für die VW-Trickserei geliefert hat, seinen Umsatz zwischen 2007 und 2014 von 28 auf 40 Mrd. Euro gesteigert hat. Die drei größten französischen Zulieferer – Valeo, Faurecia und Plastic Omnium – agieren in derselben Liga und erzielen Renditen, die in Europa höher als bei PSA und Renault liegen. Valeo bspw. konnte seine Gewinnmargen zwischen 2007 und 2013 von 3,6 auf 6,6 % steigern. Dasselbe gilt auch für die anderen weltweit tätigen, großen Zulieferer. In dieser Schlacht um die gewinnträchtigsten Anteile bei der Autoherstellung stehen die traditionellen Autokonzerne inzwischen neuen Konkurrenten gegenüber, was zeigt, dass sich die Kräfteverhältnisse zwischen Fahrzeugkonzernen und Zulieferindustrie verschieben.
Dabei schneiden die Automobilkonzerne zunehmend schlechter ab, was angesichts der über hundertjährigen Tradition erstaunen mag. Ein Jahr vor dem VW-Skandal musste GM weltweit 30 Millionen Fahrzeuge zurückrufen. Davor hatte es Toyota, Chrysler und Nissan getroffen. Durch den zunehmenden Einsatz von Auto-Elektronik und immer komplexerer Software steigt das Pannen-Risiko.
Dieses Kräftemessen zwischen den Konzernen wirkt sich auch auf die Organisation der Belegschaften aus. Die ohnehin schon starke Konkurrenz zwischen den Beschäftigten nimmt zu, da die Fertigungsprozesse auf immer mehr Unternehmen und Fabriken mit jeweiligen Besonderheiten und unterschiedlicher Größe verteilt werden und so auch die Beschäftigten immer kleinere Einheiten bilden. Besonders ausgeprägt zeigt sich dies in Frankreich und Italien, wo die traditionelle Autoindustrie und gerade Renault und Fiat ihre Fertigung besonders stark zurückgefahren haben.
Die wieder zunehmenden Profite bedeuten nicht, dass die Automobilindustrie wieder in eine stabile Expansionsphase eingetreten ist. Die Autokonzerne stehen weiterhin vor strukturellen Problemen und die jüngsten Skandale zeigen, wie sehr in diesen unsicheren Zeiten um Marktanteile und Rentabilitätssteigerung gerungen wird. Auch von anderer Seite weht ihnen der Wind entgegen: Die vom Individualverkehr verursachten Umweltschäden rufen wachsenden Widerstand in der Gesellschaft hervor, der technologische Wandel lässt andere Branchen ihnen die Butter vom Brot nehmen und zuletzt sind auch noch die Arbeiter – hier und da auf der Welt – aufmüpfig.
Die weltweite Automobilerzeugung nimmt weiterhin zu und v.a. setzt sich die weltweite Motorisierung durch mit inzwischen fast einer Milliarde motorisierter Fahrzeuge. Trotzdem können die Absatzsteigerungen in China und den anderen Schwellenländern nicht auf Dauer die Sättigung der Märkte in Nordamerika, Westeuropa und Japan kompensieren. Die kapitalistische Weltwirtschaft hat sich von der systemischen Krise von 2008 (noch) nicht erholt und die Schwellenländer befinden sich (noch) nicht wieder in einer Aufschwungphase, die dauerhafte Absätze für die Autoindustrie gewährleisten könnte. Unter den BRICS-Staaten ist seit 2014 und beschleunigt im ersten Halbjahr 2015 die Autoproduktion in Russland um 27 % und in Brasilien um 18 % zurückgegangen. Auch China hat erstmals im dritten Quartal 2015 rückläufige Produktionsziffern zu verzeichnen, was zwar vermutlich eher eine vorübergehende Erscheinung ist, aber dennoch zeigt, dass die Autoindustrie auch denselben Widersprüchen mit konjunkturellen Schwankungen und einer Tendenz zur Überproduktion unterliegt. Die Auslastung der chinesischen Autofabriken lag in der Tat 2014 nur bei 85,6 % gegenüber 91,5 % in 2013. Und für 2017 sind gar nur 72 % vorhergesagt, was der gegenwärtigen Auslastungsquote in Europa entspricht. [5]
Der Absatz von Autos in den Schwellenländern stößt auf ein zweifaches Hindernis: der wachsenden Ungleichheit in der Bevölkerung und den zunehmenden Problemen aufgrund der Tendenz zur durchgängigen Motorisierung. China bspw. liegt mit 55 Millionen jährlich verkauften Neufahrzeugen doppelt so hoch wie ganz Europa und ist insofern für die dort stark vertretenen westlichen Produzenten ein ganz wesentlicher Absatzmarkt. Trotzdem kann sich dort nur die Minderheit der Reichen ein Auto leisten, so dass mit 109 Fahrzeugen pro 1000 Einwohner und prognostizierten 160 für das Jahr 2020 die Quote weit unterhalb von Europa (500) oder Nordamerika (600) liegt. Ein mit den Industrieländern vergleichbarer Motorisierungsgrad wäre schlichtweg unerträglich, sowohl was das Weltklima angeht als auch für die Gesundheit der dortigen Bevölkerung, die mehrheitlich sich zwar kein Auto leisten kann, aber dennoch der massiven Luftverschmutzung ausgesetzt ist. Nach Angaben von The Lancet sind 1,2 Millionen Menschen in China 2010 an den Folgen der Luftverschmutzung verstorben, was fast 40 %der weltweit aus diesem Grund vorzeitig Verstorbenen entspricht. Deshalb wird der Autoerwerb in sechs der 15 größten Städte Chinas inzwischen behördlich quotiert (Shanghai, Peking, Kanton, Hangzhou, Tianjin, Shenzhen). Die Zulassungsschilder in diesen Städten werden zu einem Preis versteigert, der schlussendlich der Kaufsumme eines Neuwagens entspricht – ungefähr 12 000 Dollar in Shanghai. Trotzdem nimmt die Luftverschmutzung weiter zu. Ein PSA-Manager fasst dies in folgende Worte: „Wir haben noch drei, vier fette Jahre vor uns.“ [6] Das wiederum macht verständlich, warum sich alle Autohersteller momentan so um den dortigen Markt reißen.
Daneben gilt, dass der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit in allen Ländern die gleichen Widersprüche hervorbringt, ob in China oder in den USA. Nach den Streiks von 2010 in der chinesischen Automobilindustrie sind soziale Bewegungen entstanden, die zwar weniger spektakulär verlaufen, nichtsdestotrotz den Behörden Lohnzugeständnisse abringen können. Seit 2010 sind die Industrielöhne in China um jährlich etwa 20 % gewachsen. Insofern verringert sich das Lohngefälle zwischen China und den USA und liegt heute bei ca. 30 %. [7] Hauptnutznießer der darauf folgenden Jagd nach Ländern mit billigeren Löhnen sind momentan Indonesien und Indien.
Auch in den traditionellen Industrieländern stoßen die Unternehmerangriffe auf neuen Widerstand. In den USA, der Heimat des Fordismus, haben die drei großen Autokonzerne im Herbst 2015 Tarifverhandlungen mit der UAW als der einzigen landesweit zugelassenen Gewerkschaft geführt. Die erste Runde fand bei Chrysler statt, der heutigen FCA (Fiat Chrysler Automobile) unter Kontrolle von Fiat und seinem Boss Marchionne. Der erste Entwurf wurde mehrheitlich von den insgesamt 40 000 Gesamtbeschäftigten in der Urabstimmung abgelehnt, indem 65 % der Organisierten gegen die Empfehlung der UAW mit Nein gestimmt haben. Im größten Werk in Toledo/Ohio stimmten sogar 87 % unter den 5 000 abstimmenden ArbeiterInnen dagegen. Der Hauptgrund für die Ablehnung war, dass entgegen den Versprechungen der UAW das Zweistufensystem der Löhne (unterschieden nach Eintrittsdatum) in unveränderter Form beibehalten werden sollte. Die zweite Vertragsversion wurde dann mit 77 % der Stimmen – also noch immer gegen eine beträchtliche Minderheit – angenommen, hauptsächlich weil darin eine Angleichung der Löhne nach achtjähriger Betriebszugehörigkeit in Aussicht gestellt wurde.
Auch in Europa stößt die zunehmende Flexibilisierung der Arbeit auf Widerstand, obwohl die anhaltende Arbeitslosigkeit als Druckmittel gegen die Beschäftigten eingesetzt wird. Insbesondere wird als unerträglich empfunden, dass die Löhne weit hinter den mittlerweile wieder anziehenden Profiten zurückbleiben. Dabei stehen die Belegschaften vor dem Problem, angesichts der zunehmenden Zersplitterung durch den Einsatz von Werkverträgen und Leiharbeit ein gemeinsames Vorgehen der Beschäftigten zu bewerkstelligen. Keinesfalls darf in der Autoindustrie mit einer Friedhofsruhe gerechnet werden.
Im Zuge der Globalisierung verstetigt sich die Strategie der Autokonzerne, auf allen Kontinenten ihre Fahrzeuge produzieren zu lassen und zu verkaufen. Durch den stagnierenden Markt in den klassischen Absatzländern wird dort der Kampf um Marktanteile umso erbitterter geführt. Folglich musste der VW-Konzern – dessen relativ schwache Position auf dem US-Markt dem Bestreben, Weltmarktführer zu werden, entgegenstand – zu solchen Methoden greifen, wie sie im September aufgedeckt wurden. Hierin sind die Methoden des Kapitalismus nicht anders als im Leistungssport, wo Doping als Hilfsmittel eingesetzt wird.
Der Beitrag motorisierter Fahrzeuge zu Umweltverschmutzung und Klimawandel ist bereits heute erheblich und wird – angesichts ständig steigender Absatzzahlen – noch weiter zunehmen. Dabei zeigen die jetzt aufgedeckten Betrugsmanöver, dass die von der Automobilindustrie behaupteten Fortschritte in Benzinverbrauch und Schadstoffausstoß sehr viel geringer sind als angekündigt. Tatsächlich steigt der Anteil des Transportwesens an den CO2-Emissionen ständig weiter, wie die in Europa verfügbaren Zahlen zeigen. Der Anteil des Individualverkehrs hieran beträgt ungefähr die Hälfte des Gesamtausstoßes des Transportsektors und beläuft sich auf 12 % der Gesamtemissionen an CO2 in der EU.
In Frankreich lag 2011 der Anteil des Transportsektors am gesamten Endenergieverbrauch bei 32 % und an den Treibhausgasemissionen bei 27 % und damit an erster Stelle. Hauptverantwortlich dafür ist der Transport auf der Straße, der in besagtem Zeitraum bei fast 94 % der insgesamt 132,5 Millionen Tonnen emittierten CO2-Äquivalenten lag. Der Anteil der Inlandflüge zum Vergleich lag in diesem Zeitraum bei knapp über 3 %.
In Europa sind die Normen zur Festlegung der Grenzwerte für die Schadstoffemissionen motorisierter Fahrzeuge vor über 20 Jahren (1993) festgelegt worden. Seither werden sie zwar periodisch überarbeitet, aber natürlich nicht entlang gesundheitswissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern abhängig von den Möglichkeiten der Autokonzerne, diese Normen in die Fahrzeugproduktion nach und nach zu integrieren. Inzwischen sind wir bei der sechsten Version dieser Abgasnorm angelangt, die den Ausstoß von Stickoxiden, Kohlenmonoxid, Kohlenwasserstoffe und Feinstäuben regelt. Der CO2-Ausstoß hingegen, der als Treibhausgas für die Klimaerwärmung quantitativ verantwortlich ist, gilt den Verfassern nicht als gesundheitsschädigend und unterliegt daher einer anderen europäischen Regelung.
Die Wirkung der Dieselmotoren ist gesondert zu betrachten, weil diese für den Ausstoß von Feinstäuben verantwortlich sind, von denen einige von der WHO seit Juli 2012 als krebserregend eingestuft werden. Seit dem 1. Januar 2011 sind hier Feinstaubfilter für Neufahrzeuge verbindlich vorgeschrieben, wobei allerdings die kleinsten, die sog. Nanopartikel von den meisten dieser Filter nicht zurückgehalten werden. Fakt ist, dass die Hersteller trotz gegenteiliger Behauptungen diese Problematik nicht im Griff haben. Ende der 90er Jahre führte die Verordnung neuer Normen für Dieselfahrzeuge dazu, dass der Ausstoß an Stickoxiden massiv und unerwartet zugenommen hat. Allein in Frankreich stieg der Ausstoß zwischen 1990 und 2012 von 30 000 Tonnen auf über 80 000 Tonnen, mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Treibhauseffekt und die Atemwege.
Inzwischen behaupten die Hersteller, Abhilfe in Form des SCR-Katalysators geschaffen zu haben, der dem Abgas eine wässrige Harnstofflösung beimischt und am Ende aus Stickoxiden Wasser (H2O) und Stickstoff (N2) entstehen lässt. Diese bereits bei bestimmten Schwerlastfahrzeugen angewandte Technologie kostet den Verbraucher zwischen 600 und 1000 Euro. Damit schwinden jedoch die Kostenvorteile des Diesels gegenüber dem Benzin, was die Zukunft der Dieselfahrzeuge – sehr zum Missfallen besonders der französischen Autokonzerne – infrage stellt. Trotzdem halten PSA und Renault stur an der Dieselfahrzeugproduktion fest, weil sie diese besser als die Benziner finden. In ihrer Dickköpfigkeit sind sie genauso wie der führende AKW-Hersteller Areva, der auch nach Fukushima am Bau von AKW festgehalten hat, was mittlerweile konzernweit zum Abbau von Zehntausenden von Arbeitsplätzen geführt hat.
Die jüngsten Normen gelten natürlich nur für Neufahrzeuge. Alle anderen sind nach wie vor im Verkehr und verpesten die Luft wie eh und je. In Frankreich bspw. beläuft sich die Zahl der Dieselfahrzeuge, die vor 2000 zugelassen wurden und nicht mit einem Rußfilter ausgestattet sind, auf 1,6 Millionen. Die Emissionen von CO2, Stickoxid und Feinstaub führen alle und in unterschiedlicher Weise zur Belastung der Umwelt und der Gesundheit, unabhängig davon, ob sie von Dieselfahrzeugen oder Benzinern stammen.
Im September 2015 wurde bekannt, dass VW seit mehreren Jahren eine manipulierte Software in seinen Autos installiert hat, die die offiziellen Abgastests der US-Behörden austricksen sollte. Alsbald stellte sich heraus, dass dieselbe Manipulation auch in Europa vorgenommen worden ist. Von diesem weltweiten Skandal sind elf Millionen Fahrzeuge betroffen und das erwartete Strafmaß beläuft sich auf 18 Milliarden Dollar. Damit veranschaulicht der Fall aufs Trefflichste die Praktiken der Automobilindustrie bzw. einer ihrer weltweit größten Konzerne, wie Daniel Tanuro aufzeigt. [8]
Dass die Autos in Europa und den USA nicht die offiziellen Abgasnormen einhalten, war ein offenes Geheimnis. Bereits vor einem Jahr veröffentlichte die Nichtregierungsorganisation (NGO) Transport & Environment (T&E) einen Bericht: „Das Testsystem zur Erfassung des Kraftstoffverbrauchs und der CO2-Emissionen ist nicht mehr geeignet. Der Abstand zwischen den Testergebnissen und der Realität ist bei den PKW zwischen 2001 und 2013 von 8 auf 31 % gestiegen.“ [9] [Für 2014 wird sogar ein Wert von 40 % angegeben, AdÜ.] Diese am 5. November 2014 veröffentlichte Meldung verhallte ungehört bei den zuständigen Stellen. Es bedurfte einer Überführung des VW-Konzerns in flagranti, um diesen Betrugsskandal auffliegen zu lassen. Eine Softwaremanipulation wiegt also schwerer als die Verpestung der Umwelt!
Mit dem Skandal kommen jetzt auch die weiteren Informationen ans Licht, so z. B., dass nur eines von zehn Fahrzeugen die Abgasnormen einhält. „Es ist hochwahrscheinlich, dass auch andere Hersteller Software verwenden, die die Tests auf dem Prüfstand austricksen, insbesondere bei Dieselfahrzeugen“, erklärte eine Expertin von T&E, dem eigentlichen Paten der Enthüllung dieser Tatsachen. Beteiligt ist die gesamte europäische Automobilindustrie. Wenn Mélenchon von der französischen Linkspartei PdG das „Ende der Straflosigkeit für made in Germany“ einfordert, ignoriert er die engen Verbindungen zwischen den Autokonzernen, die sehr wohl untereinander über die Praktiken und die Bestandteile der Autos Bescheid wissen. Das Auto verpestet die Umwelt, ganz gleich, wo es hergestellt wird.
Schon vor der Aufdeckung des VW-Skandals waren die europäischen Autokonzerne gegen die als zu streng erachteten Normen Sturm gelaufen. Ihre Lobby, der europäische Automobilherstellerverband ACEA, schellte im Juli 2015 die Alarmglocken: „Noch 2007 war die europäische Automobilindustrie mit 15 Milliarden Euro Gewinn die weltweit profitabelste. Inzwischen aber sind aufgrund der immer schärferen Normen die Gewinne geschmolzen, sodass 2012 sogar ein Verlust in Höhe von einer Mrd. Euro angefallen ist. […] Wir brauchen eine bessere Lastenverteilung zwischen allen Industriebranchen.“ [10] Prompt wurden auch – entgegen den vor ein paar Jahren getroffenen Beschlüssen – die Schadstoffnormen durch die EU [auf Druck von Kanzlerin Merkel] de facto wieder revidiert. Die Obergrenze liegt bei 80 mg Stickoxid pro Kilometer, aber bis 2020 dürfen diese Werte um das 2,1-fache überschritten werden und anschließend noch um über 50 %, wohlgemerkt auf dem Prüfstand „unter realistischen Bedingungen“. Kurzum dürfen die Konzerne fröhlich weiter die Umwelt verpesten und genießen dabei noch den Segen aller europäischen Regierungen.
Lässt man sie frei gewähren, dann werden die Autokonzerne weiterhin die Umwelt verpesten. Allerdings kommen sie nicht umhin, auf eine mögliche Verknappung der Ölreserven und wachsende Proteste gegen die Umweltschäden durch den Autoverkehr zu reagieren und alternative Antriebsmöglichkeiten zu Benzin- und Dieselmotoren zu entwickeln. Der Absatz der Elektroautos entwickelt sich im Schneckentempo, zudem stammt der Strom vorwiegend aus Kohlekraftwerken, sodass das Elektroauto genauso viel Energie verbraucht wie ein Verbrennungsmotor. [11] Die Brennstoffzellen-Fahrzeuge, wo die Antriebsenergie über eine chemische Reaktion von Sauerstoff und Wasserstoff erzeugt wird, stehen kurz vor der Serienreife, was aufgrund der geringen Verkaufszahlen der Elektrofahrzeuge und deren geringer Reichweite (ca. 100 km) auch vergleichsweise plausibler erscheint. Toyota und Daimler-Benz entwickeln auch vorrangig in diese Richtung. Wie dem auch sei: Selbst wenn dadurch die Abgasemissionen während des Betriebs großenteils vermieden werden, so verbrauchen diese Fahrzeuge dennoch im Vorfeld Energie und knappe Ressourcen. Und nichts kann darüber hinweg täuschen, dass es Verschwendung ist und bleibt, wenn eine oder zwei Personen ein Schlachtross von mehr als einer Tonne Gewicht für ein paar Kilometer in Bewegung setzen.
Die kapitalistischen Konzerne müssen ihre produzierten Fahrzeuge absetzen, und zwar zu einem Preis, der den erwarteten Profit abwirft. Angesichts stagnierender Massenkaufkraft ist dies eine komplizierte Herausforderung. Man könnte meinen, dass daher die Automobilindustrie, die ja für langlebige Gebrauchsgüter schlechthin steht, sich dieser Situation anzupassen versucht, indem sie billigere Autos herstellt und verkauft. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die Autos werden immer teurer und zielen auf den wohlhabenden Teil der Gesellschaft, der durch die zunehmende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen prosperiert.
Die Losung also lautet: teurere Autos für die Reichsten! Seit 30 Jahren schwanken in Frankreich die Absatzzahlen zwischen 1,8 und 2,2 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, während die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 13 Millionen gewachsen ist. Die Hälfte der verkauften Neuwagen sind Firmenfahrzeuge oder Mietwagen. [12] In Frankreich ist die Anschaffung eines Neuwagens inzwischen ein Luxus, der weniger als einem Viertel der Bevölkerung vorbehalten ist und durchschnittlich 22 100 Euro (nach Abzug der Rabatte) verschlingt. Damit sind die Preise seit 2007 um über 20 % gestiegen gegenüber 10 % bei den sonstigen Verbrauchsgütern. Und auch das Alter der Klientel in Frankreich hat zugenommen: zwischen 1991 und 2014 von 43 auf 55 Jahre. Um auf dem kapitalistischen Markt verkauft werden zu können, müssen die Waren für die Käufer einen Gebrauchswert haben. Aber in den meisten europäischen Ländern interessiert sich die Autoindustrie hauptsächlich nur für den Gebrauchswert, den die Reichen ihren Autos zumessen.
Dass die Industrie an diesem Weg festhält, liegt daran, dass sie ihren Profit zunehmend im Luxussegment erwirtschaften. Als Beispiel hierfür dient der VW-Konzern, der mit seinen verschiedenen Marken die gesamte Bandbreite des Automarktes abdeckt. Die VAG-Gruppe hat 2014 mit 10,2 Millionen weltweit verkauften Autos einen Umsatz von 200 Milliarden Euro und einen Gewinn von 15 Milliarden Euro erzielt. Davon entfielen auf die Marke VW 4,6 Millionen Fahrzeuge mit einem Umsatz von 100 Mrd. Euro und einem Gewinn von 2,5 Milliarden. Von der Marke Porsche wurden 187 000 Fahrzeuge verkauft und der Umsatz lag bei 17 Mrd. Euro und der Gewinn bei 2,72 Milliarden. Damit hat Porsche mit weniger als 2 % der konzernweit verkauften Fahrzeuge und einem Durchschnittspreis von 92 000 Euro 21 % des Gesamtgewinns beigesteuert. Die auffälligsten und verbrauchsintensivsten Luxusschlitten sind somit zu einer der wichtigsten Profitquellen von VW geworden. Alle anderen Hersteller liebäugeln mit diesem Vorbild, auch wenn sie vom sozialen Nutzen ihrer eigenen Modelle faseln. Denn sie wissen sehr wohl, wie man sich die wachsende Ungleichheit in den kapitalistischen Ländern zunutze macht.
Die Autoindustrie hat in einigen europäischen Ländern einen heftigen Umstrukturierungsprozess hinter sich. In zehn Jahren sind die Produktionsziffern in Frankreich um über 45 %, in Belgien um 50 % und in Italien gar um 60 % zurückgegangen. Zahlreiche Werke wurden stillgelegt und landeten auf dem Markt der Immobilienspekulation, statt für andere Fertigungszwecke umgerüstet zu werden. In der gleichen Zeit hat der Autoverkehr immer mehr zugenommen. Damit sind diejenigen, die ihre Stelle dort verloren haben, doppelt gestraft, weil sie mangels geeigneter öffentlicher Verkehrsmittel weiterhin Auto fahren müssen.
Die paar wenigen Beispiele für eine Produktkonversion im Transportsektor auf Betreiben der Unternehmer sind gescheitert und dadurch weitere Arbeitsplätze verlorengegangen. Der Autozulieferer Bosch bspw. wollte 2010 eigentlich sein Werk in Vénissieux bei Lyon schließen, da das Geschäft mit den Einspritzpumpen für Dieselfahrzeuge nicht mehr lief. Bosch stellte auf die Produktion von Solarzellen um und behielt 150 von 500 Beschäftigten. Nach bloß vier Jahren verkaufte Bosch das Werk an ein bretonisches Unternehmen, das mittlerweile allerdings vom Konkurs bedroht ist. Ebenso Schiffbruch erlitt der Autohersteller Heuliez in Westfrankreich, den die spätere Umweltministerin Ségolène Royal vor der Insolvenz bewahren wollte, indem sie auf die Produktion von Elektroautos umstellte. Diese Beispiele zeigen, dass Konversion mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen nicht mit einer kapitalistischen Wirtschaft vereinbar sind, bei der es nur um Profite und Aktionärsdividenden geht.
Obwohl der Absatz von Neufahrzeugen in Europa tendenziell nicht mehr zunimmt und die Produktion in Frankreich, Italien und Belgien rückläufig ist, nimmt der Autoverkehr weiter zu. Zwischen 2005 und 2013 ist die Zahl der zugelassenen PKW in der EU von 230 auf 250 Millionen gestiegen. Diese Diskrepanz liegt an der längeren Lebensdauer der Fahrzeuge, da seit etwa 20 Jahren und besonders seit Beginn der Krise 2008 die Verbraucher ihr Auto immer länger nutzen. Gab es in Frankreich 1985 kaum Autos, die älter als 15 Jahre waren, so ist die Zahl bis 1994 auf 1,6, 2008 auf 4,6 und 2011 auf 7 Millionen gestiegen. Europaweit ist das Durchschnittsalter der Fahrzeuge zwischen 2006 und 2014 von 8,4 auf 9,7 Jahre gestiegen.
Die Mehrheit der Bevölkerung benutzt gezwungenermaßen ein Auto, da Arbeitsstätten und Wohnorte immer weiter auseinanderliegen und öffentliche Verkehrsmittel nicht ausreichend vorhanden sind. Dies gilt sowohl für den Verkehr aus abgelegenen Vororten in die Städte als auch für das flache Land, wohin immer mehr Menschen ziehen, die dann täglich Dutzende von Kilometern zu ihren Arbeitsstätten zurücklegen müssen. Die Wege werden immer weiter und zu 75 % per Auto zurückgelegt, während der Anteil der öffentlichen Verkehrsmittel immer weiter sinkt, in Frankreich bspw. zwischen 1998 und 2010 von 15 % auf 11 %. [13] Ursächlich sind der Verfall der öffentlichen Verkehrsmittel und die Verknappung bezahlbarer Wohnräume unter dem Primat der Profite.
Man kann also festhalten, dass Neufahrzeuge zunehmend nur für die Reichen hergestellt werden, während das Gros der Bevölkerung immer ältere Autos fährt. Zugleich versucht die Autoindustrie, über ihre Werbung und die Einflussnahme auf die Regierungen zu vermitteln, dass es ihr nur darum geht, Autos für den täglichen Gebrauch zu produzieren. Diese Behauptung wird zunehmend unglaubhaft, zugleich aber stimmen die Gewerkschaften den Unternehmenswünschen zu.
Auf der anderen Seite gerät der Autoverkehr zunehmend in die Kritik. Immer lauter werden die Forderungen, den innerstädtischen Verkehr zu beschränken, und dies stößt auch auf zunehmende Akzeptanz bei den Autofahrern selbst. In Städten wie Paris oder London gibt es bereits Verkehrsbeschränkungen in bestimmten Stadtteilen und in Oslo soll bis 2019 die gesamte Innenstadt autofreie Zone werden. Um dies umzusetzen, sollen dort die Bus- und Straßenbahnnetze ausgebaut und 60 km neue Radwege geschaffen werden und besondere Lösungen für Behinderte und den Frachtverkehr gefunden werden, kurzum: Die Beschränkung des motorisierten Individualverkehrs soll einhergehen mit dem gezielten Ausbau des ÖPNV.
Es gibt also – lokale – Beispiele, wie das Transportwesen ohne die Dominanz des Autos beschaffen sein müsste. Grundsätzlich aber gilt, dass eine Umstellung auf ein menschengerechtes Beförderungssystem und weg von der Autogesellschaft nur möglich ist, wenn das Privateigentum an den Produktionsmitteln infrage gestellt wird. Nur so kann ein Transportwesen entstehen, das einerseits den Bedürfnissen der Bevölkerung entspricht und andererseits den in der Autoindustrie Beschäftigten gerecht wird und ihr Know-how nutzt.
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Da es immer stärkere finanzielle und technologische Verflechtungen zwischen den weltweit agierenden Autokonzernen gibt, kann die Enteignung einzelner Unternehmen nur die Vorstufe zu einer Umstellung auf eine gesellschaftlich nützliche Produktion sein. Alles Weitere muss erst noch „erfunden“ werden: die Einbeziehung der Beschäftigten, die Aufhebung des weltweiten Konkurrenzdenkens und die Entwicklung und Erzeugung energiesparender Transportmittel.
Der Volvo-Beschäftigte Lars Henriksson drückt es so aus: „Die Autoindustrie ist kein Kohlebergwerk, sondern ein flexibler Produktionsmechanismus, der gesellschaftlichgenutzt werden könnte, um nahezu jede beliebige technische Ausrüstung in großem Umfang herzustellen. Gebt uns die Pläne für sozial nützliche Dinge und wir werden es machen!“ [14]
Die Kapitalisten zerstören Fabriken, Maschinen und Menschen, sobald sie ihnen keinen Profit mehr bringen. Die Industriebrachen in Detroit, Turin, Billancourt oder Aulnay zeugen davon, wie Maschinenparks und Belegschaften zerschlagen werden. Dabei geht es doch darum, die Erfahrung und das Know-how von Millionen von ArbeiterInnen dieser Branche für das gesellschaftliche Gemeinwohl zu nutzen.
Es ist an der Zeit, den Widerstand in der Autoindustrie zu entfachen: gegen Arbeitsplatzabbau, gegen stagnierende Löhne bei gleichzeitig steigenden Profiten und Dividenden und gegen eine Umstrukturierung und Flexibilisierung der Arbeit, die die Beschäftigten mehr denn je den Vorgesetzten und Maschinen unterordnet und jeden Handgriff zeitlich erfassen. Die Drohung mit der Arbeitslosigkeit wird von den Unternehmern als Rechtfertigung der Autogesellschaft genutzt und findet dabei den Zuspruch der Gewerkschaften. Unser Widerstand gegen die Pläne der Kapitalisten kann aber nicht darauf gründen, der Autoindustrie ihren verlorenen Platz wieder zu erobern. Als Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung dürfen wir es auch nicht allein den Naturschützern überlassen, die Umweltschäden durch die Praktiken der Autohersteller anzuprangern. Schadstoffzertifikate, um sich freizukaufen, und Ausbeutung der Beschäftigten zur Bereicherung sind zwei Seiten derselben Medaille, daher darf die Arbeiterbewegung auf beiden Seiten nicht abseitsstehen.
Die Autogesellschaft muss zum Wohl der Bevölkerung und der Wahrung des ökologischen Gleichgewichts infrage gestellt werden. Dies lässt sich aber nur bewerkstelligen, wenn die gesamte Gesellschaft geändert und von den Erfordernissen der kapitalistischen Profitgier befreit wird.
Jean-Claude Vessillier, ehemaliger Statistiker und Gewerkschafter bei Renault, ist Mitglied des französischen Nouveau parti anticapitaliste (NPA) und der IV. Internationale und arbeitet an der dortigen Website über das Automobilwesen mit: https://www.npa-auto-critique.org/ Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 1/2016 (Januar/Februar 2016). | Startseite | Impressum | Datenschutz