Die europäische Automobilindustrie stolpert von einer Krise in die nächste. Sie ist aber immer noch die Branche mit den meisten Beschäftigten in der gesamten verarbeitenden Industrie.
Jean-Claude Vessillier
2023 waren in den Ländern der Europäischen Union eine Million Arbeiter:innen in den Automobilwerken und 1,2 Millionen bei den Ausrüstern und Zulieferern beschäftigt. Zählt man alle direkt mit der Automobilproduktion verbundenen Aktivitäten zusammen, kommt der Europäische Verband der Automobilhersteller auf eine Gesamtzahl von 3,4 Millionen Beschäftigte.
Elektro-SUV (VW „ID.5 GTX“) Unökologisch und ohne Subvention zu teuer (Foto: Alexander Migl, 2022) |
Das Ende der Automobilindustrie in Europa ist also noch lange nicht gekommen, auch wenn die Produktion von Autos und Nutzfahrzeugen von fast 17 Millionen Fahrzeugen im Jahr 2000 auf 10 Millionen im Jahr 2023 zurückgegangen ist, ein Rückgang um 40 %. In Deutschland ging die Produktion um 20 % zurück, in Frankreich und Italien im selben Zeitraum um zwei Drittel. Die Pandemie und die anschließende Krise bei der Versorgung mit Bauteilen bildeten einen weiteren Schritt in diesem strukturellen Abwärtstrend.
Der Verkauf von Autos, der aufgrund des internationalen Handels und der Standortverlagerungen von der Produktion abgekoppelt ist, ist ebenfalls rückläufig und ist von 17 Millionen Fahrzeugen im Jahr 2000 auf weniger als 12 Millionen im Jahr 2023 gesunken, was einem Rückgang von 30 % entspricht. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Verbreitung des Automobils in Westeuropa einen Sättigungsgrad erreicht hat, der umso ausgeprägter ist, als in den meisten europäischen Großstädten die Nutzung des Autos immer stärker eingeschränkt wird.
Diese Trends sind in der übrigen Welt nicht zu beobachten. Der Schwerpunkt der globalen Automobilindustrie hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten verschoben. China ist seit 2009 der größte Automarkt der Welt und ein Drittel der Autos weltweit wird dort verkauft. In der globalisierten Automobilindustrie ist Europa ein schwaches Glied, weshalb sich die europäischen Autokonzerne auf anderen Kontinenten nach Geschäftsfeldern und Gewinnquellen umsehen.
Die letzten Jahre nach der Pandemie waren für die Autokonzerne ein Eldorado. Laut der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst Young hat die durchschnittliche Rentabilität der Automobilhersteller im Jahr 2023 mit 8,6 % den höchsten Stand seit der großen Rezession 2008–2009 erreicht. Das Geld ging hauptsächlich an die Aktionäre, weniger in Investitionen und noch weniger in die Löhne und Arbeitsbedingungen derjenigen, die durch ihre Arbeit den Wohlstand produzieren. Umso brutaler ist der Schock heute. Die in Europa angehäuften Schwierigkeiten verleihen in Verbindung mit der Globalisierung der aktuellen Krise ihre ganze Schärfe.
Die Automobilfirmen, mit Ausnahme von PSA (das sich inzwischen mit Fiat zusammengeschlossen und Stellantis gegründet hat), haben den von der Europäischen Union für 2035 beschlossenen Übergang zu Elektroautos mit möglichen Anpassungen verteidigt. Volkswagen, der größte europäische Autohersteller, hatte sich gerade ein wenig von Dieselgate erholt. Der Umstieg auf Elektroautos ist keine ökologische Notwendigkeit, denn die Einsparungen bei den Schadstoffemissionen, die während der Fahrt erzielt werden, heben sich auf, wenn man die gesamte Produktionskette berücksichtigt, von der Gewinnung der für die Herstellung der Batterien benötigten Materialien bis hin zu der noch ungelösten Frage der Entsorgung. Außerdem wird der Strom überwiegend aus umweltschädlichen Quellen oder mithilfe von AKW erzeugt.
Die Gründe für die Entscheidung, auf Elektroautos umzusteigen, liegen also woanders, nämlich in der Notwendigkeit, neue Absatzmärkte für eine Industrie mit Wachstumsschwäche zu finden, wenn nicht gar zu erzwingen, und in der Erkenntnis, dass Erdöl eine Ressource ist, deren Nutzungsdauer zeitlich begrenzt ist.
Elektro-Fiat 500 E Verkauft sich auch nicht so recht (Foto: Alexander Migl, 2021) |
Dieser Umstieg auf Elektroautos war bislang durch die Kaufprämien der öffentlichen Hand für reiche Käufer solcher Fahrzeuge mit einem Durchschnittspreis von über 40 000 Euro „angekurbelt“ worden. Doch diese Hilfen für die Reichsten werden nun aufgrund der Sparpolitik eingestellt. Dies begann in Deutschland, wo der Verkauf von Elektroautos im August 2024 um 69 % einbrach, in Europa betrug der Einbruch 44 %. Abgesehen von diesen konjunkturellen Maßnahmen sind Elektroautos heute immer noch viel zu teuer, als dass sie so weit verbreitet sein könnten wie das „Auto“ der 1970er Jahre.
In ganz Europa gibt es bereits Überkapazitäten in der Produktion. In Italien wurde das Werk Mirafiori in Turin, in dem der FIAT 500 E hergestellt wurde, „vorübergehend“ geschlossen. Die Renault-Werke in Douai Maubeuge, die im nächsten Jahr 400 000 Autos produzieren sollen, werden bis 2024 nur 150 000 Elektroautos herstellen. Viele Pläne der europäischen Firmen werden nach unten korrigiert.
Was bei den Autoherstellern passiert, geschieht verstärkt bei den Batterieherstellern. Sie sind ein Schlüsselelement bei der Herstellung eines Elektroautos, denn der Preis der Batterien beträgt bis zur Hälfte des Gesamtpreises eines E-Autos. Ihre „Gigafabriken“ – Gigas wegen der Anzahl der Bytes der Bauteile, nicht wegen der Anzahl der Beschäftigten – wurden durch Subventionen, die von den Regierungen Nordamerikas und Europas angeboten werden, zum Aufbau von Kapazitäten ermuntert. Dies hat zu einem regelrechten Run auf diese neue Profitquelle geführt. Und damit ist – ganz klassischerweise und in Kombination mit den derzeitigen Wachstumsrückständen bei Elektrofahrzeugen – die Überproduktion bereits da.
Die Herstellung von Elektroautos erfordert andere Produktionsketten als die von herkömmlichen Autos mit Verbrennungsmotor, einschließlich Batterieherstellern und Softwareentwicklern, die für die Steuerung des Fahrverhaltens des Autos benötigt werden. Dies bringt das Oligopol ins Wanken, das die Automobilindustrie um die gleichen nordamerikanischen, europäischen und japanischen Firmen herum dominiert.
Der Aufschwung des chinesischen Automobilmarktes seit den 2000er Jahren hatte die bislang dominierenden Automobilfirmen begünstigt. Nach der großen Rezession 2008–2009 konnten die westlichen Automobilkonzerne in China Produktionskapazitäten aufbauen, Millionen Autos verkaufen und die in China erwirtschafteten Gewinne in ihre Konzernzentralen transferieren. Dies gilt insbesondere für die deutschen Automobilkonzerne Volkswagen, BMW und Mercedes. Im Jahr 2023 trug das China-Geschäft von Volkswagen 2,62 Milliarden Euro zum Gesamtbetriebsgewinn des Unternehmens bei, was gegenüber 5 Milliarden Euro im Jahr 2015 ein Rückgang ist. Weltweit werden 4 von 10 Volkswagen-Autos in China verkauft.
Doch heute ändert sich die Situation. Die chinesische Firma BYD wurde Anfang 2024 zur ersten Autofirma, die in China mehr Autos verkauft hat als Volkswagen. Die meisten Beobachter halten dieses Ergebnis für unumkehrbar, da es auf die Wettbewerbsvorteile zurückzuführen ist, die die chinesischen Firmen um ihre neuen Elektroautos herum aufbauen konnten.
Andere nicht-chinesische Autokonzerne haben mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Handelskrieg zwischen den USA und China und jetzt auch der Europäischen Union wird die aktuellen Entwicklungen noch verstärken.
Und gleichzeitig will Tesla in Europa nach der Berliner Fabrik [bei Grünheide] weitere Fabriken bauen. Tesla, das ist die aus Kalifornien stammende Firma mit einer Marktkapitalisierung von 850 Milliarden Dollar und einer Million produzierter Autos, kaum mehr als ein Zehntel der von Volkswagen oder Toyota verkauften Autos.
Volkswagen oder z. B. Stellantis wollen Fabriken schließen. Konkurrenten wollen neue errichten. Das ist das Wesen der kapitalistischen Anarchie, die durch den Wettbewerb angeheizt wird, Überproduktion erzeugt und der Verteilung der verfügbaren Arbeit auf alle, der Verkürzung der Arbeitszeit und der Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung zuwiderläuft.
Die Zulieferer sind von den laufenden Veränderungen am stärksten betroffen. Die mächtigsten Unternehmen, wie Bosch in Deutschland oder Valeo in Frankreich, passen sich den Veränderungen an, indem sie sich mit der Schließung von Betrieben und der Verlagerung von Aktivitäten umstrukturieren. Die anderen Ausrüstungshersteller und Zulieferer, die oft nur eine einzige Technik anbieten, werden von ihren Auftraggebern, den Automobilherstellern, im Stich gelassen. In Deutschland ist es der Zulieferer ZF, der 14 000 von 54 000 Arbeitsplätzen streicht. Und es ist dieselbe ZF, die die Schließung eines seiner Zulieferer in Straßburg (Frankreich) veranlasst.
Diese Angriffe sind Vorläufer dessen, was sich bei den Automobilherstellern abzeichnet, die sich gerade anschicken, ihre Produktionskapazitäten durch die Schließung von Fabriken und die Entlassung von Arbeiter:innen zu senken. Dies ist die Absicht von Volkswagen, das damit droht, neben dem Audi-Werk in Belgien auch ein Werk in Deutschland zu schließen. Dies ist auch eine Möglichkeit für Stellantis in Bezug auf das Mirafiori-Werk in Turin, das derzeit „vorübergehend“ geschlossen ist.
Da die Autoproduktion rückläufig ist und das Auto zunehmend mit Umweltverschmutzung und Klimaschädigung in Verbindung gebracht wird, könnte die Versuchung bestehen, nicht gegen die Schließung solcher Fabriken zu kämpfen. Franco Turigliatto, Führungsmitglied von Sinistra anticapitalista (Italien), bemerkte dazu: „Im Gegensatz zu dem, was einige unaufmerksame Beobachter, sogar aus der Linken, behaupten, betrifft das mögliche Verschwinden von Mirafiori nicht nur die Zukunft von Zehntausenden von direkt betroffenen Arbeiter:innen, sondern wird sich auch auf die Zukunft der Stadt und ihre soziale Struktur auswirken. In der Vergangenheit haben die Löhne und Einkommen, selbst die bescheidenen, die durch die starke Präsenz des Industriesektors garantiert wurden, eine kollektive Organisation für eine gegenseitige Unterstützung und Solidarität in der Arbeiterklasse ermöglicht, die Perspektiven für eine soziale Alternative eröffnete“.
Deshalb betrifft der Kampf gegen die Werksschließungen die gesamte soziale Bewegung über die Automobilbranche hinaus. Der Widerstand von heute gegen die Umsetzung der Pläne der Arbeitgeber bereitet die notwendigen Offensiven von morgen vor.
Während sich die Angriffe der Konzerne in ganz Europa ausweiten, werden Gegenmaßnahmen der Arbeiter:innen der gesamten Automobilbranche vorbereitet: in Frankreich am 17. Oktober mit einer geplanten Kundgebung von Beschäftigten vor dem Pariser Autosalon, in Italien am 18. Oktober mit einem historischen Tag der Mobilisierung gegen die Pläne von Stellantis-Chef Tavares und in Deutschland mit Aktionen gegen die Pläne von Volkswagen zur Schließung von Werken. „Gleichzeitig“ zu handeln, ist bereits ein positives Signal. Der Weg zu einer Mobilisierung gegen eine immer stärker konzentrierte Autoindustrie ist angesichts der Realität der heutigen zersplitterten Arbeiterbewegung allerdings noch weit.
Im Verlauf der Widerstandsaktivitäten kann Unerwartetes eintreten. Ein Beweis dafür ist der erfolgreiche Streik der Automobilarbeiter vor einem Jahr in den USA. Sie gewannen gegen die „Großen Drei“ General Motors, Ford und Stellantis mit ihrer Gewerkschaft UAW (United Auto Workers), deren Führung erst wenige Monate zuvor erneuert worden war. Es wurden erhebliche Lohnerhöhungen, ein Ende der Lohnunterschiede nach Einstellungsjahren und auch Investitionsverpflichtungen der Konzerne erreicht. Die Zukunft der gegenwärtigen Krise der Automobilindustrie hängt von den sozialen Kräfteverhältnissen ab, die die Arbeiterbewegung durchsetzen kann oder nicht.
8.10.2024 Jean-Claude Vessillier, bis zu seiner Rente Statistiker und Gewerkschafter bei Renault, ist Mitglied der NPA und der IV. Internationale. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2024 (November/Dezember 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz