Die Wahlkampagnen zur Präsidentschafts- und zur Parlamentswahl, die Jean-Luc Mélenchon in diesem Jahr führte, unterschieden sich sehr stark von den früheren. Es gab eine tiefe Veränderung seines Verhältnisses zu den politischen Parteien im Allgemeinen und besonders zu denen, die in der Front de Gauche seine Verbündeten waren. Es ist wichtig, die Gründe für diese Entwicklung, deren Folgen und den Rahmen, in dem sie sich in Frankreich vollzogen hat, zu verstehen.
Pierre Rousset
Ich möchte zuerst auf die Frage eingehen: Wer ist Mélenchon? Er hat dazu aufgerufen, das traditionelle politische Personal rauszuschmeißen; dabei ist es ihm gelungen, in Vergessenheit geraten zu lassen, dass er auf geradezu karikaturhafte Weise ein Repräsentant eben dieses Personals ist. Als Mitglied der „lambertistischen“ Strömung (die sich auf den Trotzkismus bezieht und in Symbiose mit den Apparaten der Sozialdemokratie, der Freimaurer und der Gewerkschaft Force Ouvrière existiert) ist er 1976 in die Sozialistische Partei (PS) geschickt worden, darin hat er dann Karriere gemacht. 1983 wurde er in einen Gemeinderat, dann in den Generalrat eines Départements gewählt. Als Berufspolitiker hat er sich nie in einem Wahlkreis verwurzelt, er wurde Senator – die Senator*innen werden nicht von der Bevölkerung in Frankreich gewählt, sondern von Wahlmännern –, danach kam er über eine Liste in das Europaparlament. Unter Ministerpräsident Lionel Jospin (der ebenfalls von den „Lambertisten“ gekommen war) war er Regierungsmitglied. Er zieht jetzt erst ins Parlament ein, nachdem er sich – von außen kommend − in Marseille hat aufstellen lassen. Er war seit eh und je ein Politiker „ohne Bodenhaftung“, stand aber an der Spitze einer linken Strömung innerhalb der Sozialistischen Partei, der „Gauche socialiste“, einer Strömung mit tatsächlich aktiver Mitgliedschaft; dies ermöglichte es ihm, 2008 die Partei zu verlassen und die Parti de Gauche (PG, Linkspartei) zu gründen.
Wie sieht sein politisches Selbstverständnis aus? Ursprünglich kommt er, wie gesagt, von der „lambertistischen“ Strömung – nicht gerade die demokratischste im Spektrum des französischen Trotzkismus. Er hat die Brücken zu dieser Vergangenheit nicht abgebrochen, doch hat er sich vollständig in die Sozialistische Partei integriert. Einer seiner Bezugspunkte in der Gegenwart (vielleicht der wichtigste) ist François Mitterrand, Präsident der Republik von 1981 bis 1995, mit dem er engen Kontakt hatte. Mitterrand ist für ihn ein Lehrmeister in Politik. Mitterrand war ein relativ isoliertes Individuum, dem es gelungen ist, die PS zu kapern, sich mittels des Linksbündnisses „Union de la Gauche“ die Französische Kommunistische Partei (PCF) unterzuordnen, die Präsidentschaft der Republik zu erobern und zwei Amtszeiten von je sieben Jahren zu behalten (ein Rekord an Langlebigkeit, aber keineswegs an Radikalität!).
Mélenchon identifiziert sich absolut nicht mit den Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Es ist ein wenig so, als hätte es sie nie gegeben. Es gibt das Vorher – die Pariser Commune, Jean Jaurès – und das Nachher – Hugo Chávez … Gegenüber den Revolutionär*innen meiner Generation hat er sehr wenig Mitgefühl an den Tag gelegt – und das ist noch sehr milde ausgedrückt. [1]
Er gehört zu einer in Frankreich recht starken Bewegung, die in sozialen Fragen (Öffentlicher Dienst usw.) links und zugleich nationalistisch ist.
An was glaubt Mélenchon seit seinem Austritt aus der PS 2008? An sich selbst. Es ist kein Jux, wenn man das so sagt, sondern ein Leitfaden. Er identifiziert sich mit den Individuen, die eine Veränderung der Macht verkörpern, angefangen bei Hugo Chávez, aber auch Mitterrand 1981 (nach 25 Jahren Regierungszeit der Rechten in Frankreich). Ich habe Zeit gebraucht, um diese Vorstellung ernst zu nehmen, so bizarr ist sie mir vorgekommen, so fremd ist sie mir gewesen – aber Jean-Luc Mélenchon hatte in der Tat die Ambition, über die Wahlen 2012 und 2017 Präsident der Republik zu werden. Wenn man das nicht versteht, versteht man gar nichts. Die zwischen 2012 und 2017 vorgenommenen Verschiebungen in Bezug auf die politische Ausrichtung zeigen vor allem sein Gespür für „Opportunität“. Er hat sich bewusst dafür entschieden, die Persönlichkeit zu sein, die er nun verkörpert, und die Politik zu betreiben, die er entsprechend einer taktischen Analyse ins Werk setzt, also nicht für ein strategisches Projekt. Das hat Jorge Lago, Mitglied des Bürger*innenrats von Podemos, festgestellt, wenn er beschreibt, wie Mélenchon 2017 seine Taktik änderte, nachdem er sich darüber klar geworden war, dass er den Inhalt der Präsidentschaftswahl falsch gesehen hatte (Kandidat der Rechten ist Fillon geworden und nicht Sarkozy, Kandidat der PS ist Hamon geworden – nicht Valls oder Hollande, Bayrou unterstützte Macron usw.).
Für Mélenchon besteht der Aufstand der Bürger*innen in der „Revolution mittels der Urnen“. Er war auf eine rasche Eroberung der Präsidentschaft aus: 2012 mit einem Streich oder wenigstens, indem er „dritter Mann“ wird und sich dann für 2017 rüstet. Er wurde aber nur vierter hinter … Marine Le Pen vom Front National (FN). Damals war er der Kandidat der Front de Gauche, einem Wahlbündnis aus Parti de Gauche, PCF und verschiedenen Gruppierungen und Netzwerken, die zusammen „Ensemble!“ gebildet haben. Er erhielt 11,2 % der Stimmen, damit hatte er den größten Teil der „radikal linken“ Stimmen eingefangen, was schon mal gar nicht so schlecht war, doch in seinen Augen höchst unzureichend.
Die damaligen Auseinandersetzungen waren recht klassisch, sie bezogen sich auf die Politik von Wahlbündnissen mit der PS und führten zu einer Spaltungslinie zwischen PG (Mélenchon) und PCF; diese hatte zahlreiche Abgeordnete, deren Wiederwahl vielfach von einer Vereinbarung mit der PS abhängig war, während die Parti de Gauche sehr wenige Abgeordnete hatte (die – Ironie der Geschichte – ins Parlament noch als Mitglieder der PS gekommen waren).
Als Antwort auf diesen ersten Fehlschlag hat Mélenchon sich entschlossen, sich von jedem Zwang zu befreien, den die bestehenden Parteien, seine Verbündeten von der Front de Gauche und sogar seine eigene Partei, die Parti de Gauche, bedeuteten. Er „bonapartisierte“ sich, indem er seine Präsidentschaftskandidatur ohne vorhergehende Beratung oder Verhandlungen durchsetzte und indem er 2016 seine eigene Bewegungswahlplattform schuf, La France insoumise (Unbeugsames, Nicht unterworfenes Frankreich, FI). Er ist auf diesem Weg sehr weit gegangen. Nicht mehr „Sammlung“ – hinter ihm – ist sein Thema, sondern „Auswechseln“.
Mélenchon konstruiert sich stets „gegen“ etwas, er wählt sich eine Zielscheibe. Mehrere Jahre lang war dies der Front National. Im Präsidentschaftswahlkampf 2012 begab er sich in Duelle mit Marine Le Pen und bei der folgenden Parlamentswahl trat er in [der Kleinstadt] Hénin-Beaumont im Norden an [wo der Front National den Bürgermeister stellt und Marine Le Pen ihren Wahlkreis hat]. Diese Zweikämpfe hat er alle verloren. 2016/17 hat er seinen Ansatz geändert. Nun heißt es: „Schmeißt sie alle raus!“. Die Zielscheibe heißt jetzt PS – und insbesondere die PS-Linke (die „frondeurs“) [2]. Zur Parlamentswahl tritt er dieses Mal in Marseille an, und zwar nicht in einem Wahlkreis, wo der Front National (FN) stark ist, sondern in einem, wo er in der ersten Runde exzellent abgeschnitten hat und wo der frühere Abgeordnete Patrick Mennucci (PS) keinerlei Chance hat, seinen Posten zu behalten, und in der Tat − wie die meisten Mandatsträger*innen der PS − verliert er den Sitz. Am Wirtschaftsprogramm ändert sich nichts Qualitatives; Mélenchon tritt im Großen und Ganzen für eine radikale Variante des Keynesianismus ohne antikapitalistische Inhalte ein und nimmt viel mehr als in der Vergangenheit die ökologische Dimension auf. Mélenchon hat sich viel mit dem beschäftigt, was in anderen Ländern gut funktioniert hat, wie die Nutzung der sozialen Netzwerke durch Obama, danach die Kampagne von Sanders oder die Geschichte von Podemos in Spanien. Er merkt ganz richtig, wie der Einfluss der klassischen Massenmedien zurückgeht. Er arbeitet bis ins Detail an der Präsentation seiner Person (Auswahl der Kleidung usf.). Er ist bemüht, sich ins Gespräch zu bringen – beispielsweise mit der Verdoppelung einer Kundgebung mittels Hologramm, einem sehr kostspieligen Schnickschnack, das (im Gegensatz zu dem, was er zu verstehen gibt) anderswo schon verwendet worden ist, vor allem von Ministerpräsident Modi in Indien. Er arbeitet eng mit Kommunikationsfachleuten zusammen. Mehr denn je ist er professioneller Politiker.
Wenn er durch die Kandidatur des „frondeur“ Benoît Hamon von links bedroht wird, verstärkt er das populistische Profi seiner Kampagne. Jorge Lago betont das zustimmend und bedauert bloß, dass diese Wende spät gekommen ist, mehr aus taktischer Opportunität denn aus strategischer Überzeugung: „Die Kampagne [von Mélenchon] ist sehr gut gemacht. Der Kampagnen-Clip zum Beispiel, der zeigt, wie Frankreich 2018 aussehen wird, ein Jahr, nachdem er gewählt worden ist, ist sehr intelligent, weil er da die Sprache des Staates spricht. (…) Das ist eine Staatsrede, die von den Franzosen gut aufgenommen wird. […] Um zusammenzufassen, die Idee, mit dem Diskurs der klassischen Linken und der linksradikalen Mythologie Schluss zu machen, das Verschwinden der roten Fahnen und der Symbole auf seinen Kundgebungen – das war meiner Meinung nach sehr angebracht, kam allerdings vielleicht ein wenig zu spät.“
Die Sprache des Staats sprechen, mit dem Diskurs der klassischen Linken und der linksradikalen Mythologie Schluss zu machen, die roten Fahnen verschwinden lassen… Mélenchon „konstruiert“ den Nichtunterworfenen ganz systematisch über einen Bruch mit den historischen Bezügen und Symbolen einer Klassenidentität (und nicht einfach der sog. „klassischen Linken“). Während er dafür eintritt, dass eine VI. Republik kommt, reiht er sich voll und ganz in die Tradition der V. ein; der zufolge ist die Präsidentschaftswahl das Zusammentreffen eines Manns (selten mal einer Frau) und des französischen Volks. Er profitiert von der Ablehnung der Parteien, auf dieser Welle hat ja auch Emmanuel Macron gesurft. In diesem Zusammenhang sind das „Profi“ einer Kandidatur und ihre Wiedergabe in den Medien wichtiger als die Details des Programms.
Jean-Luc Mélenchon hat, als er sich von der Enttäuschung bei der Präsidentschaftswahl erholt hatte (und im Stärkegefühl der 19,6 % bei der ersten Runde), dazu aufgerufen, eine Mehrheit von France insoumise ins Parlament zu wählen; das hätte es möglich gemacht, dass er Ministerpräsident wird und eine konfliktorientierte Kohabitation mit Emmanuel Macron durchgesetzt wird. Das Resultat der ersten Runde der Parlamentswahl (11 %) hat zu etwas mehr Nüchternheit gezwungen, selbst wenn Mélenchon sich darüber freuen konnte, dass er persönlich in seinem Wahlkreis in Marseille als Sieger hervorging.
Nachdem er sich um das Amt des Präsidenten der Republik bemüht hatte, gab Jean-Luc Mélenchon sich schließlich damit zufrieden, dass er in die Nationalversammlung gewählt wurde und eine 17-köpfie Parlamentsfraktion von FI bilden konnte (dafür sind mindestens 15 Abgeordnete nötig). Das ist besser, als die Umfragen hatten erwarten lassen. Allen Oppositionsparteien ist eine relative Demobilisierung der Macron-Wählerschaft bei der zweiten Runde der Parlamentswahl zugutegekommen. So hat die PCF 11 Mandate bekommen und der FN 8 (Mélenchon war nicht die Freude einer indirekten Revanche über Marine Le Pen vergönnt, sie ist wie er selber zum ersten Mal in die Nationalversammlung eingezogen).
Die PCF hat über ein Zusammengehen mit fünf Abgeordneten aus Überseegebieten eine eigene, von La France insoumise unabhängige Parlamentsfraktion bilden können.
Die neue Fraktion von FI positioniert sich eindeutig links. Sie macht ebenso wie die PCF die Verteidigung eines schützenden Arbeitsgesetzbuchs zu ihrem wichtigsten Thema. Es ist zu früh, um zu sehen, wie Jean-Luc Mélenchon sein Profi neu bestimmen und was er aus La France insoumise machen wird (die in der gegenwärtigen Form nur eine vorübergehende Funktion hatte, nämlich für die Zeit des Wahlkampfs).
Jean-Luc Mélenchon hat ein scharfes Gespür für den richtigen Zeitpunkt in der Politik unter Beweis gestellt. So war es auch, als er 2008 mit der Sozialistischen Partei brach, um die Linkspartei (PG) und dann mit der PCF die Linksfront (Front de Gauche) zu bilden. Wir selbst haben im gleichen Jahr die Perspektive der neuen antikapitalistischen Partei (NPA) ausgegeben, die auf ein sehr günstiges Echo gestoßen ist, was Mélenchon seinerzeit vermutlich mitbekommen hat. Der Aufbau der NPA konnte nur das Ergebnis eines Prozesses sein; dagegen war die Schaffung der PG etwas, was prompt erfolgte, ausgehend von der bereits innerhalb der PS gebildeten organisatorischen Grundlage.
Der NPA-Prozess ist eingeleitet worden, als es weder die PG und noch die Front de Gauche gab. Die NPA wurde aber erst gebildet, als diese beiden Formationen bereits existierten und in der Offensive waren. Die Dynamik der NPA-Gründung ist dadurch aus dem Gleichgewicht geraten.
Als zu spüren war, dass die Front de Gauche sich erschöpfen würde (als simple Wahlfront ist sie steril geworden), hat Jean-Luc Mélenchon auf mehrere Weise versucht, sich ihr zu entziehen, vor allem durch das Starten einer „Bewegung für die VI. Republik“. Ich fand das damals völlig daneben, da die Anliegen der einfachen Bevölkerung sich hauptsächlich auf soziale Fragen bezogen. Die Bewegung war eine Totgeburt, doch die Idee der VI. Republik hat sich ihren Weg gebahnt. Die institutionelle Krise der V. Republik und der Parteien ist 2017 deutlich zu Tage getreten.
Jean-Luc Mélenchon ist auf der Lauer nach Neuem, das ist eine seiner Qualitäten. Er ist auch ein Mann der Bühne, das macht er sich zunutze (bzw. übertreibt es damit). In einem Präsidialsystem, wie wir es in Frankreich haben, ist das eine Trumpfkarte. Die PCF war nicht in der Lage, eine Kandidatur auf die Beine zu stellen, die ihm in dieser Hinsicht hätte Konkurrenz machen können; das ermöglicht es ihm, zunächst die Front de Gauche zu hegemonisieren und sie dann aufzugeben.
Hier findet sich die Frage der Verkörperung einer politischen Zukunft in einem Individuum wieder, in der Identifikation seines Projekts mit seinem eigenen Schicksal. Eine Hypothese: Dies ist der Punkt, an dem sich Jean-Luc Mélenchon und die Akteure und Akteurinnen oder Theoretiker*innen des Linkspopulismus treffen: Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, Pablo Iglesias und Íñigo Errejón …
Chantal Mouffe selbst hat sich in einem Beitrag auf der Website von Verso Books für Mélenchon eingesetzt, den sie als „radikalen Reformisten gegen eine aufsteigende Oligarchie“ bezeichnet. Sie nimmt vorsichtigerweise eine Unterscheidung zwischen dem lateinamerikanischen Kontext (mit ultra-oligarchisierten Gesellschaften) und dem europäischen Kontext (wo man die Spaltungslinie Links/ Rechts nicht ignorieren kann) vor; doch auch hier geht es darum, mit dem oligarchischen System Schluss zu machen und mit einem demokratischen Prozess neue Grundlagen zu bilden.
Raquel Garrido, eine Sprecherin von Mélenchon, die zu dem engen Kreis der Vertrauten gehört, hat sich in einem Interview für Jacobin unverblümter ausgedrückt. Die Schlüsselbegriffe der Kampagne in diesem Jahr sind Humanismus, Populismus, Patriotismus und Verfassung. La France insoumise ist „eine Bürgerbasisbewegung, wir haben eine humanistische Ideologie. Auf vielfache Weise haben wir die populistische Strategie von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau übernommen. [Der Populismus] ist ein Programm. Das ist eine Trennlinie zwischen dem ‚sie‘ [denen da oben, der Oligarchie] und dem ,wir‘ [dem Volk]. (…) Unsere Bewegung hat das Ziel, etwas jenseits der Parteien aufzubauen. Sie hat sich vom Ansatz her ganz absichtlich als etwas anderes als das Parteienkartell aufgebaut, das wir 2012 gehabt haben.“
Die Lage ist „reif“ für „unsere Vorschläge, wir brauchen eine friedliche Lösung“ für die zahlreichen Spannungen in der französischen Gesellschaft. 2012 ist Mélenchon womöglich als „zu radikal, zu subversiv“ erschienen. „Jetzt erscheint er als ein Weiser“.
Mélenchon wird immer ein Anhänger der Ideen von Jean Jaurès bleiben, den Bezug auf die Klasse wird er behalten, jedoch eingebettet in den Rahmen der Republik. Während der Wahlkampagne sind allerdings die Symbole der Arbeiterbewegung absichtlich getilgt worden. Im Laufe der Wochen sind die roten Fahnen verschwunden, geblieben sind die Fahnen mit der Trikolore, die Internationale kam nicht mehr zum Zug, es gab nur noch die Marseillaise. Das Wort „Humanist“ genügt sich selbst. Nach Hammer und Sichel muss auch die erhobene Faust weg, sie wird durch den griechischen Buchstaben φ („phi“) ersetzt.
Das „phi“ ist von jetzt an das Logo der Bewegung, es ist allgegenwärtig, es steht auch auf den Wahlzetteln. Es geht um ein Wortspiel („phi“ für FI, wie EM – Emmanuel Macron – in „En Marche“), doch es symbolisiert noch weit mehr. „Phi“ erinnert an Philosophie, Harmonie, Liebe – und hat keine politische Vergangenheit. Dieses Symbol ist weder rechts noch links. Was Harmonie betriff – die durchbricht Mélenchon oft mit seinen Äußerungen voller Arroganz und Verachtung. Dennoch ist „Phi“ eine neutrale Kennung.
Das Thema Arbeit stand im Zentrum der Mélenchon-Kampagne (gegen die Umkehrung der Normen im Arbeitskodex, bei der Gehaltsabrechnung oder der Steuererklärung usw.), nicht aber die sozialen Klassen. Die „99 %“, das heißt: das Volk gegen die Oligarchen. Mélenchon ist es gelungen, wiederholt die größten Kundgebungen in dem Wahlkampf zustande zu bringen. Für die Zehntausende, die daran teilgenommen haben, war die Klassenidentität unsichtbar gemacht worden. Das wird Folgen haben, da Frankreich eines der Länder in Westeuropa ist, in denen diese Identität, die hier früher zentral war, heute stark an den Rand gedrängt und fragmentiert ist – viel mehr, so scheint mir, als etwa in Belgien oder in Großbritannien. Das ist ein Sieg der neoliberalen Ideologie. Obschon sie beide aus einer linkssozialdemokratischen Tradition kommen, stellt Mélenchon in dieser Hinsicht die Antithese zu Jeremy Corbyn dar.
Ist der Linkspopulismus eine Taktik für eine gewisse Zeit? Laut Juan Carlos Monedero, einem der Gründer von Podemos, darf er nur zeitweise verwendet werden, und zwar in der „destituierenden“ Phase der Bewegung (wenn es also darum gehe, die Oligarchie zu entmachten), doch in der „konstituierenden“ Phase sollte man über ihn hinausgehen. Er kritisiert die Konzeptionen von Íñigo Errejón ausdrücklich:
„Diejenigen, die für die ,populistische Hypothese‘ eintreten, vor allem Íñigo Errejón, dachten, man müsse nur die Elemente mobilisieren, die uns zum Sieg verhelfen können, und wir dürften nicht über Themen sprechen, die uns Stimmen kosten könnten, das heißt, man dürfe nur über abstrakte Dinge sprechen, damit es die breitest mögliche Zustimmung gibt: das Vaterland, die Kaste, die Korruption. [Diese Konzeption] sieht vor, dass die Begriff leer bleiben, am Ende entleert sie die wirklichen Möglichkeiten der Veränderung. (…) Wenn Laclau sagt, Politik und Ökonomie seien das Gleiche, lässt er die materiellen Bedingungen des Klassenkampfs beiseite. Ich denke, das ist ein Irrtum.“
Jean-Luc Mélenchon könnte sich sehr wohl dafür entscheiden, vom Parlament aus einen „Klassen“-Diskurs wieder aufzugreifen und ihn nicht der PCF alleine zu überlassen. Allerdings – und diese Frage richtet sich auch an Monedero: Ist es so einfach, etwas zu rekonstruieren, was man zunächst einmal wirkungsvoll dekonstruiert hat?
Das Auswechseln ist ein zentrales Thema im Diskurs von Mélenchon und seiner politischen Entscheidungen geworden. Wir werden der PS (die schon seit langer Zeit keine „Arbeiterpartei“ mehr ist) nicht nachtrauern und ihr auch kein neues Leben wünschen. Ginge es nur darum – dann könnten wir voll zustimmen: Es lebe das Auswechseln!
Für Mélenchon ist jedoch das Zeitalter der Parteien vorüber, die Bewegungen sollen leben! Er begnügt sich nicht damit, den Niedergang der Parteien zur Kenntnis zu nehmen, er trägt aktiv zu deren Marginalisierung bei. Das steht im Einklang mit der gegenwärtigen Situation in Frankreich, denn das ist auch Macron und seiner Bewegung „En Marche“ gelungen (aus der „La République en Marche“, LRM, geworden ist).
Dies ist eine Entscheidung, deren Folgen in Anbetracht der gegenwärtigen Lage ganz besonders schwerwiegend sein können. Mit wem zusammen soll man gegen Macron eine Front des sozialen und demokratischen Widerstands aufbauen, wenn man die Absicht hat, alle infrage kommenden parteiähnlichen Verbündeten zu „ersetzen“? Nachdem er die Ebene der Wahlen (die sei eine Angelegenheit der Politiker*innen) sorgsam von der sozialen Ebene (die sei die Angelegenheit der Gewerkschaften) abgeschieden hat, scheint Mélenchon sich selbst (und seine Parlamentsfraktion) nun als den natürlichen parlamentarischen Ansprechpartner der Kämpfe ausgeben zu wollen, die die Gewerkschaftsbewegung aufnehmen wird.
Alle Kräfte des Widerstands müssen dringend zusammengebracht werden, ansonsten wird es in Anbetracht der Offensive, die Macron zu einer ganzen Palette von Fragen (von der Macht, die die Unternehmen in den Betrieben bekommen sollen, bis hin zur Verankerung des Notstandsregimes in der normalen Gesetzgebung) rasch eine Niederlage geben.
Problem: Das Auswechseln ist eine Antithese zur Sammlung und zum Zusammenführen.
Frage: Was wird aus La France insoumise werden? Was soll es heißen, man habe mit den (traditionellen?) Parteien Schluss gemacht?
Mélenchon spielt mit der Idee, die Parteien ließen sich umschiffen, völlig an den Rand drängen, auflösen. Er hat aber noch nicht erklärt, zugunsten von was sie eigentlich ausgewechselt werden sollen. La France insoumise ist in der Tat nicht als Formation konzipiert worden, die auf Dauerhaftigkeit angelegt ist, sondern als zeitweiliges Instrument für die Dauer einer Wahl. Sie ist im Februar 2016 gebildet worden. Man konnte ihr nicht beitreten, es war nicht möglich, Mitgliedsbeitrag zu zahlen, man konnte nur Spenden für den Wahlkampf geben. Beitragszahlung – das bedeutet ja Mitgliedschaft, mit Rechten und Pflichten. Sich in den Ansatz von FI hineinbegeben, das lief ohne Rechte und Pflichten. Man verlangt nichts von dir, und du hast keinerlei formelle Befugnisse.
Es hat vielleicht wirklich an die 500 000 Klicks im Internet gegeben, mit denen ein Mitmachen-Wollen bei La France insoumise zum Ausdruck gebracht worden ist. Das ist beträchtlich. Die Internetnutzer*innen haben im Netz Ideen beigesteuert. Eine „Synthese“, ein Programm, nämlich „Gemeinsame Zukunft“, ist zur Billigung unterbreitet worden und hat beim Anklicken rund 97 % Zustimmung bekommen. Es waren restriktive Regeln vorgegeben worden: Die Unterstützungsgruppen für La France insoumise durften nicht mehr als 15 Mitglieder haben, sich nicht auf mehr als einen Wahlkreis erstrecken, sich nicht territorial koordinieren. Es gab keinen Kongress, keine Vollversammlung, um die Kandidaturen zu den Wahlen zu bestimmen. Diese ausgesprochen ungewöhnliche Art des Funktionierens (die örtlich nicht immer eingehalten worden ist) verstärkt selbstredend die Autorität der Spitze, ohne dass damit zwangsläufig Verhandlungen über Vereinbarungen mit unterschiedlichen konkurrierenden parteiförmigen Gruppierungen ausgeschlossen wären. Insgesamt war die horizontale Struktur sehr informell oder „eingepfercht“ und die vertikale Kontrolle durch den führenden Kern sehr strikt.
Es wurden aktive Teams gebildet, vielfach sind sie von der Spitze ins Leben gerufen worden, sie haben verschiedene Aufgaben übernommen und vor allem brillant für die Bedienung der sozialen Netzwerke gesorgt. Es gibt Parallelen zu Podemos, aber wir haben es nicht mit einer Kopie zu tun. In Frankreich hatten wir keine vergleichbare Massenbewegung, und im FI-Prozess gab es keinen Platz für eine Organisation, die sich an der Gründung beteiligt hätte, wie das bei Anticapitalistas der Fall gewesen ist
Der führende Kern kommt aus der Parti de Gauche. Es ist gewissermaßen ein familiäres Team, das auf eine lange gemeinsame Geschichte zurückblickt. Sie sind nun zum Teil Abgeordnete von FI, darunter finden sich auch ex-LCR- bzw. ex-NPA-Genoss*innen, die über „Ensemble“ dazu gekommen sind.
Die Identifikation mit dem Chef hat ausgesprochen sektiererische Verhaltensweisen des Fanclubs befördert. Dieser betätigt sich als Mob, macht im Internet jegliche Kritik herunter und geht gelegentlich so weit, dass er den Account derjenigen blockiert, auf die man sich eingeschossen hat. Mélenchon selbst mag Abweichungen überhaupt nicht. Ich betone das, weil dies Teil einer sehr negativen Entwicklung in der „gauche de la gauche“ [linken Linken] ist; deren Grundsatzdebatten bewegen sich auf einem sehr niedrigen Niveau, nicht selten verbunden mit „Diabolisierungen“. Eine Meinungsverschiedenheit gilt als illegitim, sobald es um einen „wunden Punkt“ geht.
Das ist der heutige Stand, und es stellt sich die Frage: Wohin soll’s gehen? Mélenchon und die ihm Nahestehenden müssen jetzt genauer angeben, welche dauerhafte Bewegung sie ins Leben rufen wollen – und wie der Pluralismus der Gesellschaft zum Ausdruck kommen soll, wenn nicht auch und gerade durch eine Pluralität von Parteien.
Es gibt sehr gute Gründe, weshalb die Parteien so diskreditiert sind. Weder Macron noch Mélenchon sind dafür verantwortlich. Insbesondere die Sozialistische Partei hat sich in der fünfjährigen Amtszeit von Hollande selbst zerstört. Die PCF und die revolutionäre Linke dürfen keinen Sündenbock für ihr eigenes Scheitern suchen. Das Gleiche gilt für die Rechte. Aber was soll neu aufgebaut werden?
Die soziale Verankerung von La France insoumise ist sehr oberflächlich. Es wäre eine regelrechte Ironie, würde FI mit der gleichen hegemonialen Überheblichkeit auftreten wie die PCF in der Zeit des Stalinismus. Diese Frage hat Roger Martelli, der lange in der kommunistischen Partei gewesen ist und Mélenchon beharrlich unterstützt hat, in sehr zurückhaltenden Worten aufgeworfen: „La France insoumise könnte im Grunde wie die PCF der großen Epoche sehr gut erklären, dass es außerhalb von ihr keinen Platz für eine Praxis gebe, die zugleich realistisch und revolutionär ist. Doch wäre dies in einem Moment der Krise und der Neuzusammensetzung, in der es darum geht, breit zusammenzukommen und gemeinsam zu erfinden, eine Logik, die mehr oder weniger als Aufforderung zum bloßen Beitritt erscheinen würde und gewiss nicht die am ehesten angebrachte wäre.“
Jean-Luc Mélenchon stimmt Loblieder auf Frankreich an, was nicht neu ist. Er stimmt Loblieder an auf Frankreich als Macht, die auf allen Ozeanen präsent ist. Er will aus der NATO raus, aber „auf gaullistische Manier“, damit das Land seine Interessen und seinen Nimbus in der Welt besser vertreten kann. All dies hat mit den realen Kräfteverhältnissen nichts zu tun, hat sich aber durch die Kampagne von La France insoumise gezogen. Als Anwärter auf das Präsidentenamt hat Mélenchon gerne als (künftiger) Chef der Armee gesprochen, deren Stärke erhöht werden müsse (und deren atomare Bewaffnung beizubehalten sei).
Das Volk ist ein Nationalvolk, die Grundlage für den Patriotismus. Patriotismus in einem imperialistischen Land – das ist nicht gerade ein linker Wert. Doch ist Frankreich in den Augen von Mélenchon nicht imperialistisch. FI bekämpft den französischen Imperialismus nicht, dieser Kampf muss nämlich gar nicht geführt werden. Der Blick auf die Außenpolitik kommt nicht aus einer internationalistischen Sichtweise, sondern aus einer geostrategischen. So bleibt die Interpretation der Lage im Nahen Osten bei den Beziehungen zwischen den Mächten stehen, daher die Aufforderungen zur Zusammenarbeit mit Russland, und halb so schlimm, wenn man mit Assad klarkommen muss. Diese Logik von miteinander rivalisierenden Mächten kann auch auf Europa selber angewendet werden, Zielscheibe ist dann das Deutschland von Angela Merkel (Mélenchons Äußerungen streifen gelegentlich die Deutschfeindlichkeit).
Mélenchon macht auch aus der Einheit der Republik, dem Charakter des „einen und unteilbaren“ Frankreich etwas geradezu Sakrales, er „zieht über die Charta der Regionalsprachen her“, er stellte Hollande an den Pranger, als der die Stärkung der regionalen Befugnisse auf Korsika vorgeschlagen hatte, und das ist noch nicht alles. Dies hat Mélenchon kritische Fragen von Philippe Pierre-Charles von der Groupe Révolution Socialiste (GRS) [3]aus Martinique eingebracht, der dann die Schlussfolgerung gezogen hat: „Die Moral der Geschichte ist, dass die fortschrittlichen Menschen auf den beiden Seiten des Atlantischen Ozeans einer ernsthaften und solidarischen Debatte über die Wege und die Mittel zu einer vollständigen Beseitigung des Kolonialismus nicht ausweichen können.“
Man muss konstatieren, dass die Positionierung von Mélenchon auf diesem Gebiet innerhalb der französischen „radikalen“ Linken wenige Reaktionen ausgelöst hat. Das ist ein besorgniserregendes und ausgesprochen demoralisierendes Symptom.
Es ist gut verständlich, wenn im Erfolg von La France insoumise – vor allem im Ausland – nur eine Hoffnung auf Erneuerung der radikalen Linken gesehen wird – und die Stimmen für FI sind großenteils linke Stimmen gewesen. Die andere Seite der Medaille ist, dass der Erfolg auch auf einer Politik des Zerfalls der historischen Identifikationen, Symbole und Leitlinien der Linken (im echten Sinn des Worts „Linke“) aufbaut. […]
Natürlich ist La France insoumise ein heterogenes Phänomen. Viele erfahrene Aktivist*innen der radikalen Linken haben sich da mit einem gewichtigen Argument reingehängt: Man muss da sein, wo sich die Dinge abspielen. Leider ist dies ohne eine in die Tiefe gehende Debatte gelaufen (abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen wie Samy Johsua). Auf jeden Fall ist jetzt ein Kapitel abgeschlossen. Die lange Wahlperiode 2016/17 ist vorüber. Die Entscheidungen, die ab jetzt zählen, sind jene, die in den kommenden Tagen und Wochen getroffen werden.
Man kommt nicht um eine in die Tiefe gehende Debatte über den Begriff des „Linkspopulismus“, dessen Zweideutigkeiten und die darin enthaltenen Gefahren umhin. Wie Samy Johsua und Roger Martelli angemerkt haben, ist „popular“ nicht gleich „populistisch“: „Sicherlich ist die Versuchung eines Linkspopulismus keine Schandtat, er hat solide Argumente für sich, er kann aber auch in eine Sackgasse führen. Er versteht sich als kämpferisch, es besteht aber das Risiko, dass die nächsten Niederlagen schon vorbereitet werden. Wir machen der extremen Rechten nicht die Nation streitig, sondern wir öffnen die populare Souveränität für sämtliche politischen Räume ohne Unterscheidung. Wir machen der extremen Rechten nicht die kollektive Identität streitig, weder die nationale noch eine andere, sondern machen uns stark für freie Identifikationen, für das freie Spiel der Zugehörigkeiten und für die massive Aufwertung der Gleichheit, der einzigen Grundlage für eine Gemeinschaft. Wir machen der extremen Rechten nicht den Populismus streitig, sondern entziehen ihm die Grundlage, indem wir ihm die Bildung eines popularen Pols der Emanzipation gegenüberstellen. Und ‚popular‘ ist nicht ‚populistisch‘. Und auf diesen Pol der popularen Würde müssen sich die Anstrengungen konzentrieren.“
Unter dem Strich sind die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl sehr besorgniserregend. Am Abend der ersten Runde standen an vorderster Stelle drei Kandidaten der Rechten oder extremen Rechten. Emmanuel Macron ist in jeder Hinsicht ein Mann der Rechten: wirtschaftlich, aber auch „philosophisch“ (seine Auffassung vom Individuum in der Gesellschaft), er gehört einfach zu einer modernen Rechten – im Gegensatz zu dem ausgesprochen katholisch-konservativen François Fillon, der an dritter Stelle lag. Und an zweiter Stelle lag Marine Le Pen, die Frontfrau der FN, die nun in der Partei angegriffen wird, nachdem sie den Schluss ihrer Wahlkampagne in den Sand gesetzt hat und beim zweiten Wahlgang eine Ablehnungsfront gegen sich hatte.
Die Präsidentschaftswahl hat auch die Anfälligkeit des bürgerlichen Regierungssystems in Frankreich ans Licht treten lassen; siehe das Ausmaß der „Missgeschicke“. Nach den Vorwahlen der Rechten galt François Fillon als der sichere Gewinner der Präsidentschaftswahl. Doch wurde er von einer ganzen Reihe unerhörter Finanzskandale eingeholt. Markant war, dass seine Partei nicht imstande war, ihn zu ersetzen und sich damit selbst die Schlinge um den Hals gelegt hat. Ohne diesen Umstand hätte Macron 2017 nicht gesiegt.
Benoît Hamon, ein „frondeur“, hat seine Chance gehabt, nachdem er aus der Vorwahl der PS als Kandidat hervorgegangen war. Eine Zeitlang lag er in den Umfragen vorne, doch hat er es nicht verstanden, mit der PS zu brechen, und der Apparat der im Sterben liegenden Partei hat ihm die Flügel gestutzt. Wäre dem nicht so gewesen, ist es nicht sicher, dass Mélenchon beizeiten hätte abheben und die 19,6 % hätte erreichen können.
Mélenchon hat die Glaubwürdigkeitsschwelle nach kurzer Zeit und über einige wenige Stationen überschritten: Wähler*innen, die von Hamon enttäuscht waren, sind zu ihm übergegangen, Ein Auftritt im Fernsehen, bei dem er vier anderen Kandidat*innen überlegen war, stärkte den Eindruck, er werde die zweite Runde der Präsidentschaftswahl erreichen können.
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Macron und Mélenchon waren geschickt, insofern sie die Chance zu nutzen verstanden, die sich ihnen mit der Lähmung der beiden Regierungsparteien geboten hat. Das Ergebnis ist, dass die institutionelle Bühne auf der Rechten (in großem Maßstab) wie auf der Linken (in kleinerem) von zwei Bewegungen dominiert wird, die „im Aufbau“ sind. Die Nationalversammlung ist zu 75 % neu besetzt, was es noch nie gegeben hat. Wir sind in eine – sagen wir mal – massiv von Zufällen bestimmte Periode hineingekommen.
Das Verhältnis von Präsidentschafts- und Parlamentswahl scheint mir dagegen zu zeigen, wo die Grenzen der Veränderung liegen. Eine Präsidentenmehrheit im Parlament ist sichergestellt, sie ist nicht triumphal ausgefallen, die Oppositionslisten haben wie gewöhnlich niedrigere Ergebnisse als die jeweiligen Präsidentschaftskandidaturen erhalten; in der zweiten Runde haben sie nur deswegen ein wenig aufholen können, weil ein Teil der Macron-Wählerschaft weggebröckelt ist: diese Wähler*innen dürften wegen der erneuten „Affären“ desorientiert gewesen sein, nachdem gerade erst nominierte Minister schon im Sumpf lagen (Richard Ferrand, François Bayrou). Die Enthaltungen haben bei allen Wahlgängen alle früheren Rekorde übertroffen (über 57 % bei der zweiten Runde der Parlamentswahl!).
Mélenchon hat wahrscheinlich einen gewissen Preis dafür gezahlt, dass er sich geweigert hat, eindeutig dafür aufzurufen, bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl Marine Le Pen zu verhindern (im Bemühen, die Stimmen, die er im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl von überall her bekommen hatte, auch bei den Parlamentswahlen einzuheimsen), und weil er es in jedem Stadium mit seinen Ambitionen übertrieben hat. Macron hat ebenfalls einen gewissen Preis gezahlt, und zwar wegen der Skandale, die Mitglieder seiner ersten Regierung betroffen haben. Es hat weder ein „Aufstand über die Wahlurnen“ auf der Linken noch ein Plebiszit auf der Rechten stattgefunden. Selbst in einer Situation großen Tohuwabohus herrscht Politikverdrossenheit vor. Die Krise der Demokratie hält an und vertieft sich.
Emmanuel Macron weiß, dass er kein Plebiszit bekommen hat. Er weiß auch, wie sehr seine Gegner*innen zurzeit geschwächt sind. Er kann also trotzdem handeln – und er wird es auf üble Weise tun. Wir befinden uns in einer sehr defensiven Position. Wahrscheinlich wird Zeit nötig sein, um eine breit angelegte Front des sozialen und demokratischen Widerstands aufzubauen (es gibt bereits Widerstände, doch sind sie noch sehr minoritär). Das wird nicht ohne Einheit und nicht ohne eine Erneuerung der Praktiken der „Linken der Linken“ und in der sozialen Bewegung zu bewerkstelligen sein.
28. Juni 2017 Pierre Rousset ist Mitglied des Büros der Vierten Internationale und der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), er ist für den Verein „Europe solidaire sans frontières“ (ESSF) mit der gleichnamigen Website aktiv. Aus dem Französischen übersetzt und bearbeitet von Friedrich Dorn |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2017 (September/Oktober 2017). | Startseite | Impressum | Datenschutz