In der heutigen, vorgeblich „postdemokratischen“ Ära, die durch Globalisierung, Hegemonie des Finanzkapitals und Integration der Sozialdemokratie in das neoliberale System geprägt ist, braucht es ein neues politisches Konzept, einen populistischen Antrieb. Dies meint nicht zuletzt Chantal Mouffe, die neben dem verstorbenen Ernesto Laclau an der Entwicklung dieses Konzepts maßgeblich beteiligt ist und sich in einem öffentlichen Gespräch mit Jean-Luc Mélenchon darüber ausgetauscht hat.
Daniel Tanuro
Das Konzept des „Volks als Souverän“ sei zu einer Leerformel geworden und insofern gäbe es keinen Richtungsstreit mehr zwischen links und rechts. Die Interessen der Finanzoligarchie würden von einer Kaste verfochten, die die politischen Probleme auf bloß technische reduziere, die man Fachleuten überlassen könne. Vor diesem Hintergrund sei das linke Gleichheitsprinzip gegenüber dem rechten Freiheitsprinzip ins Hintertreffen geraten. Das Volk ist für Mouffe keine soziologische Gegebenheit, sondern ein politisches Konstrukt, das sich danach bestimmt, wie die Grenzen zwischen „denen“ und „uns“ verlaufen, dem „sie“ und dem „wir“. Und dieses politische Konstrukt werde durch den Populismus bewerkstelligt.
Der Populismus sei auf dem Vormarsch, da allerorten eine tiefe Frustration und ein breites Verlangen „des Volkes“ nach Demokratie, also nach Souveränität herrschten, in der das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gleichheit wiederhergestellt werden solle. Momentan kapitalisiere hauptsächlich der Rechtspopulismus diese Stimmung für sich, was aber keinesfalls unabänderlich sei. „Der Rechtspopulismus stellt die Volkssouveränität wieder her, aber nicht die Gleichheit“, besonders, weil er die sozialen Probleme zu ethnischen macht. Damit schaff er ein „wir“, das die Demokratie einschränkt, statt sie zu erweitern, und darin liege auch sein Schwachpunkt. Die Linke könne und müsse einen Linkspopulismus entwickeln, weil nur so der Rechtspopulismus bekämpft werden könne. Insofern solle man auch besser nicht von „Faschismus“ oder „Rechtsextremismus“ sprechen, da „dies bloß dazu dient, den Sachverhalt nicht begreifen zu wollen“. Denn man müsse „sich darüber im Klaren sein, das den rechtspopulistischen Bewegungen letztlich demokratische Erwartungshaltungen zugrunde liegen“. Marine Le Pen ginge auf diejenigen zu, die unter den Folgen der „segensreichen Globalisierung“ zu leiden hätten, und dem müsse der Linkspopulismus entgegensetzen, dass der wahre Feind die neoliberale Globalisierung und nicht die Immigration sei.
Marxisten unterscheiden zwischen der „Klasse an sich“ und der „Klasse für sich“, wobei das Bewusstsein den Unterschied macht. Die „Klasse für sich“ entsteht durch die Erfahrungen in Kämpfen, durch die Selbstorganisation und die Ausweitung und das Zusammenführen der Kämpfe, wodurch das Proletariat über die unmittelbaren Forderungen hinausgehen und die Grundlagen für eine vollständige Umwälzung der sozialen Verhältnisse wie auch der Beziehungen zwischen Mensch und Natur schaffen kann.
Mouffe besteht jedoch darauf, dass es bei der Herausbildung eines Volkes nicht um die Schaffung der „Klasse für sich“ gehe, sondern dies ein „viel transversalerer“ Prozess sei, der „heterogene Forderungen“ aus „verschiedenen sozialen Sektoren“ bündele, etwa aus dem Feminismus, der LGBT-Bewegung, der Umweltbewegung etc. Der Kern der Sache sei, dass die Transversalität erforderlich sei, weil wir nicht mehr in den Zeiten eines fordistischen Kapitalismus leben. Mouffe führt aus: „Heute stehen wir alle unter der Herrschaft des Finanzkapitalismus – auch soziologische Schichten, die der Rechten angehören“. Daher gehe es darum, „Sozialismus als Ziel neu zu definieren, und zwar als eine Radikalisierung der Demokratie“. Daher müssten Forderungen – auch aus der Unternehmerecke – politisch zugespitzt werden, und dafür bräuchte es einen charismatischen Führer, der auch Emotionen und Affekte mobilisieren könne, denn diese seien in der Politik genauso wichtig wie Argumente. Der Rechtspopulismus habe dies verstanden, und jetzt müsse der Linkspopulismus dies auch verstehen und anwenden.
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Dies ist in verkürzter Form die politische Theorie, für die sich Teile der Linken heute begeistern. Was nach außen hin modern und radikal erscheint, ist nur alter Wein in neuen Schläuchen. Schon der Ausgangspunkt ist verkehrt, nämlich „Finanzkapital“ und „Kapital im Allgemeinen“ gegenüber zu stellen, denn beide sind unauflösbar miteinander verwoben. Für Mouffe und ihre Anhänger ist nicht der Kapitalismus der Feind, der die Arbeit ausbeutet und die Umwelt zerstört, sondern das globalisierte Finanzkapital, das die „Volkssouveränität“ aushöhle. Die Strategie, die sich daraus ergibt, ist der „Aufstand der Bürger“ – für die Herstellung von „Demokratie“ und „Souveränität“, wie sie vor der neoliberalen Wende bestanden – im „Gleichgewicht“ zwischen links und rechts (und dies im Rahmen der Nation). In der Politik wird Mouffe konkret und bezieht sich auf Syriza und Podemos. Man müsse in die Institutionen gehen, um sie zu verändern, so interpretiert sie Gramscis Analyse von der Erringung der Hegemonie. Dabei würde sich dieser im Grabe rumdrehen, weil Mouffe genau das propagiert, was die Sozialdemokratie angeblich erreichen wollte und wobei sie zwangsläufig beim Neoliberalismus gelandet ist.
Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2017 (September/Oktober 2017). | Startseite | Impressum | Datenschutz