Eine Erwiderung der Autor*innen auf die Besprechung ihres Buchs „Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte“ in dieser Zeitschrift.
Thomas Goes und Violetta Bock
Klassenanalytisch unscharf, strategisch nicht ausreichend auf Auseinandersetzungen in Betrieben und von dort eventuell ausgehenden Lernbewegungen bezogen sowie im Ansatz „gradualistisch“, also reformistisch – das ist der Dreiklang einer Kritik, die Jakob Schäfer in der Zeitschrift die internationale Nr. 6/2017 (November/Dezember 2017) an uns richtete. Ernstzunehmende Theoretiker*innen eines linken Populismus seien wir zwar und gut gemeint sei das Ganze in der Sache auch, so seine Botschaft, aber leider doch ein Irrweg.
Wir möchten diese Kritik nutzen, um Unklarheiten aus dem Weg zu räumen, die auch in der allgemeinen Diskussion über unseren Debattenbeitrag aufgetaucht sind. Vermutlich kennen viele Leser*innen unser Buch nicht. Deshalb werden wir zunächst den Gang unserer Argumentation zusammenfassen und unsere strategischen Schlussfolgerungen wiedergeben, die sich um einen „popularen Sozialismus von unten“ drehen.
Erst danach möchten wir auf die Kritik von J. S. näher eingehen. Wo es sinnvoll ist, werden wir auch auf artverwandte bzw. ähnliche Kritiken eingehen, die z.B. bei Buchpräsentationen eine Rolle spielten.
Kommen wir also zunächst zur Gesellschaftsdiagnose, die wir hier in einem Schnappschuss vorstellen: Wir gehen davon aus, dass wir es in Deutschland gegenwärtig mit einer Verschränkung von drei Krisen zu tun haben. Mit einer längeren sozioökonomischen Krisenphase, mit einer globalen ökologischen Krise und mit einer schleichenden organischen Krise (Gramsci).
Organische Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass Klassen bzw. größere Bevölkerungsgruppen sich nicht mehr von ihren angestammten politischen Repräsentanten vertreten fühlen – entweder weil neue Bedürfnisse bzw. Interessen entstanden sind oder weil die politischen Kräfte, die sie einmal vertreten haben, ihre politische Programmatik verändert haben. Eingebettet ist diese schleichende organische Krise in eine tiefere Fragmentierung der Arbeiter*innenklasse (etwa die Spaltung zwischen prekär und nicht prekär Beschäftigten, Hochlohnbeschäftigten und Niedriglohnbeschäftigten).
Herausgebildet hat sich eine „Zweidrittelgesellschaft mit ausgeweiteten Kampfzonen“: Untere Teile der Arbeiter*innenklasse drohen abgehängt zu werden; mittlere Schichten der Klasse und das alte und neue Kleinbürgertum werden verunsichert und können ihre Positionen zwar bewahren, müssen dafür aber mehr leisten; das Oben profitiert. Denkbar ist vor diesem Hintergrund sowohl ein Unten-Mitte-Bündnis als auch ein Oben-Mitte-Bündnis. Es kommt nicht zuletzt auf die Politik der Linken an: Gelingt es Teile des alten und neuen Kleinbürgertums, das sich in seiner Hoffnung oft dem Bürgertum zuwendet, in Krisenphasen aber auch eine Offenheit für eine sozialistische Perspektive entwickeln kann, zu gewinnen?
In Deutschland sind zwei „populistische Lücken“ entstanden. Zum einen eine soziale populistische Lücke, nicht nur, aber insbesondere infolge der neoliberalen Modernisierungspolitik unter Rot-Grün. Zum anderen eine kulturell-identitätspolitische populistische Lücke aufgrund der Modernisierung der Christdemokratie, die Teil einer konservativen Modernisierungspolitik im Land war: Wenngleich mit Reibungen und inneren Widersprüchen werden Homosexualität, alternative Familienkonzepte oder die Idee eines „Einwanderungslands Deutschland“ bis tief in die CDU akzeptiert. Auf diesen und anderen gesellschaftlichen Kampffeldern ist deutliche Unzufriedenheit auf der Rechten entstanden. Während von der sozialen populistischen Lücke zunächst die gesellschaftliche Linke profitieren konnte (Entstehung der WASG, Etablierung der LINKEN), konnte die kulturell-identitätspolitische Lücke jüngst für den Aufstieg des Rechtspopulismus im Gewande der AfD genutzt werden.
Aber: Die soziale Frage spielt auch für die Erfolge der Rechten eine Rolle. Soziale Leiderfahrungen können autoritär, rassistisch und/oder sexistisch verarbeitet werden. Rechtspopulistische Verarbeitungsweisen etwa von Prekarisierung sind jedenfalls wissenschaftlich gut dokumentiert.
Allerdings haben wir es in Deutschland nicht einfach mit einer Rechtsentwicklung zu tun, beobachten lassen sich vielmehr Momente einer politischen Polarisierung. Im Massenbewusstsein – das diskutieren wir in unserem Buch anhand von wissenschaftlichen Befunden zur Bewusstseinsforschung (Goes/Bock 2017, 47ff.) – gibt es neben autoritären, rassistischen und sozialchauvinistischen Verarbeitungsweisen der Neoliberalisierung auch kapitalismuskritische und sozialpopulistische, die Brücken nach links darstellen können. Klar rückschrittliche und klar emanzipatorische Einstellungen bilden lediglich kleine Pole eines breiten Spektrums von Mischformen, von widersprüchlichen Formen des Alltagsbewusstseins.
Fast in allen Ländern des kapitalistischen Zentrums, und „nun“ auch in Deutschland, sind im Schatten der langen sozialen und politischen Krise – gleichsam als Kinder der Neoliberalisierung – postfaschistische und rechtspopulistische Kräfte aufgestiegen. Linke sehen sich seither an zwei Fronten gestellt. Sie müssen gleichzeitig gegen die Parteien der „extremen Mitte“, die die Neoliberalisierung organisiert haben, und gegen die sich radikalisierende Rechte kämpfen, die teilweise selbst neoliberal sind, sich teilweise aber auch nationalistisch-sozial ausrichten.
Was sollten Linke nun also tun? Mit Blick auf die politischen Verarbeitungsweisen in der Bevölkerung bzw. das Massenbewusstsein stehen wir vor der Aufgabe, die verfestigt reaktionären Teile der Bevölkerung zu isolieren. Das gelingt nur, indem wir die aufgeklärten und fortschrittlichen Teile der Arbeiter*innen- und Volksklassen organisieren und eine klare und praktische Vision für eine solidarische Gesellschaft vertreten, um damit um die schwankenden Teile der Bevölkerung zu kämpfen, die ein widersprüchliches und diffuses Alltagsbewusstsein haben. Unser Ziel sollte es – als hegemoniepolitisches Projekt – sein, ein mobilisierungsfähiges Unten-Mitte-Bündnis aus verschiedenen Teilen der Volksklassen zu schmieden.
Linker Populismus muss Teil eines solchen Projektes sein. Nur eine Linke, die einen fortschrittlichen Populismus erfindet, wird dazu in der Lage sein. Er verbindet, was gespalten ist, damit ein buntes Bündnis der „kleinen Leute“ überhaupt entstehen kann. Mehr dazu unten.
Aber linker Populismus allein reicht nicht aus. Wir sollten unsere Politik vielmehr strategisch an der Vision eines „Sozialismus von unten“ ausrichten, der darauf zielt, als organisierende, verbindende und einigende Kraft Laboratorien von Gegenmacht und Hoffnung sowie ein Hinterland der Solidarität zu schaffen. Nur als Teil eines solchen „Sozialismus von unten“ wird uns linker Populismus weiterhelfen – auch um bei der Rekonstruktion von Klassenbewusstsein zu helfen.
Nötiger denn je sind lernende Organisationen, mit denen wir am Aufbau popularer Bündnisse arbeiten können und die uns helfen, unsere Interessen durchzusetzen, und uns in unseren Kämpfen stärken. Als „organisierende Linke“ wirken wir mit, soziale, kulturelle und politische Interessen vor Ort zu organisieren. Wir unterstützen möglichst viele Menschen dabei, sich für ihre eigene Sache einzusetzen: etwa die Erzieher*innen, die für bessere Bezahlung und mehr Anerkennung streiten; die Hunderttausende von Frauen, die dieses Jahr am 8. März am internationalen Frauenstreiktag teilgenommen haben, und die Tausende, die ihn organisiert und dafür mobilisiert haben; die Erwerbslosen, die Initiativen und Organisationen gründen; die Geflüchteten, die sich gegen die unwürdigen Zustände in den Aufnahmestellen wehren; die Fabrikarbeiter*innen, die sich gegen Arbeitsstress und Flexibilitätsdruck engagieren.
Wir sollten damit beginnen, unsere Parteien bzw. Organisationen so umzubauen (oder neue zu schaffen), damit sie in dieser Arbeit als „kollektive Intellektuelle“ wirken können. Solche Organisationen entwickeln eine interne Kultur der Diskussion, des Lernens und der Beteiligung, die nicht nur zu einem aktiven Mitgliederleben und einem politischen „Empowerment“ der Mitglieder beiträgt, sondern die zu einer kollektiven politischen Praxis (etwa organisierender Gegenmacht) überhaupt erst befähigt. Sie wirken daran mit, ein kritisches Gesellschaftsbewusstsein zu erzeugen und zu stabilisieren und neue Visionen für ein besseres Zusammenleben auszuarbeiten.
Mit Hilfe solcher Organisationen sollten wir schließlich als „verbindende Linke“ wirken, also daran arbeiten, einen sozialen und politischen Block zwischen den arbeitenden Klassen auf der einen und den sich zu ihnen nicht-antagonistisch verhaltenden Mittelklassen auf der anderen Seite herauszubilden. In diesem Sinne arbeiten populare Sozialist*innen daran mit, einen demokratischen Kollektivwillen und einen „Machtblock von unten“ aus den Volksklassen herauszubilden. Wir versuchen Bewegungen für soziale Gleichheit und gegen Klassenunterdrückung mit dem Streit gegen Rassismus und für gleiche Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen, Homo- und Transsexuellen zu verbinden. Deshalb arbeiten wir daran, soziale Bewegungen, die sich nicht auf sich selbst reduzieren lassen, miteinander zu verketten und ihnen eine gemeinsame Perspektive zu geben – ein Vorgang, der nicht ohne große Mühen, Spannungen und Widersprüche sein kann.
Aber damit wird immer nur eine Minderheit der Menschen erreicht. Um an sozialpopulistische Verarbeitungsweisen in breiteren Bevölkerungskreisen anzuknüpfen und sie für uns zu gewinnen, müssen wir auch „populistisch verdichten“. Das bedeutet zum einen, in der eigenen Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit daran zu arbeiten, einen Gegensatz zwischen Eliten und „denen unten“, zwischen dem 1 % und den 99 %, hervorzukehren. Zum anderen heißt es, den Kampf um demokratische Souveränität und Demokratisierung zu betonen – als Ziel an sich und als Mittel, um unser Leben als arbeitende Familien (ob alleinerziehend oder mit Partner*innen, als Patchwork oder in lesbischer oder schwuler Elternschaft) sowie als Erwerbslose zu verbessern und den Kapitalismus zu überwinden.
Wer um demokratische Souveränität kämpft, um so ein alternatives, demokratisches, soziales und ökologisches Entwicklungsmodell durchzusetzen, muss die Macht übernehmen wollen. Der Kampf um demokratische Souveränität sollte sich also mit dem Versuch verbinden, rebellisch zu regieren. Eine rebellische Regierung weiß, dass sie sich mit den Mächtigen anlegen muss (mehr unten).
J. S. kritisiert, unsere Klassenanalyse sei unscharf. Im Mittelpunkt des Buches steht tatsächliche keine Klassenanalyse, wenngleich sie auch nicht fehlt. Wir argumentieren, dass die Linke daran arbeiten müsste, ein Klassenbündnis zu schmieden zwischen der buntscheckigen Arbeiter*innenklasse und dem Kleinbürgertum. Als Volksklassen werden alle Klassen und Schichten bestimmt, die der Klasse des Mittel- und Großkapitals gegenüberstehen. Groß- und Mittelkapital bilden einen „Block an der Macht“, der versucht, Teile der Volksklassen in ein Verteilungsbündnis einzubinden.
LiteraturBettelheim, Ch. (2016): Die Klassenkämpfe in der UdSSR. Boccara, P. (1973): Der staatsmonopolistische Kapitalismus. Goes, Th/Bock, V. (2017): Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte. Poulantzas, N. (1975): Klassen im Kapitalismus – heute. Sinowjew, G. (1921): Thesen über die Taktik der Komintern. In: http://www.marxismus-online.eu/debatte/programm/einheitsfront/taktik4KI.html Sotiris, P. (2017a): Rethinking Dual Power. https://www.academia.edu/35145688/Rethinking_Dual_Power Ders. (2017b): Ein post-nationales Volk schaffen? In: http://www.zeitschrift-luxemburg.de/ein-post-nationales-volk-schaffen/ |
Wir unterscheiden dabei zwischen zwei Fraktionen des Kleinbürgertums, dem traditionellen Kleinbürgertum und dem lohnabhängigen Kleinbürgertum (Poulantzas 1975, 165ff.). Unter dem traditionellen Kleinbürgertum verstehen wir alte und neue einfache Warenproduzenten, die Waren herstellen oder damit handeln, sich aber nicht der Kapitalverwertungslogik unterwerfen (oder es nicht schaffen). Zum alten traditionellen Kleinbürgertum gehören etwa Handwerker oder Kleinhändler, zum neuen etwa Soloselbständige. Zum lohnabhängigen Kleinbürgertum zählen wir Menschen, die zwar ihre Arbeitskraft verkaufen, dabei aber nicht von Kapital ausgebeutet werden und/oder in der politischen und ideologischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung Herrschaftsfunktionen wahrnehmen. Das sind im Wesentlichen Staatsbedienstete, aber es gehören in den Sektoren, in denen Arbeitskraft durch Kapital ausgebeutet wird, auch diejenigen dazu, die Herrschaft sichern und organisieren – etwa die mittleren und unteren Teile des Managements (politische Arbeitsteilung) oder der Ingenieure und Techniker (ideologische Arbeitsteilung).
Die Arbeiter*innenklasse selbst ist ebenfalls in sich bunt gemischt (umfasst Beschäftigte aus den Dienstleistungssektoren, wie etwa Verkäufer*innen oder Bankangestellte ebenso wie Industriearbeiter*innen) und fragmentiert, etwa zwischen prekär Beschäftigten und nicht-prekär Beschäftigten.
Diese Klassenbestimmungen sind wichtig. Sie betreffen die objektiven Bedingungen der Menschen, ihre Klassenstellung, nicht unbedingt die politische Position, die Menschen in gesellschaftlichen Kampffeldern einnehmen. Verbeamtete Lehrer*innen etwa werden nicht ausgebeutet, sie stehen dem Kapital auch nicht antagonistisch gegenüber – können aber im Rahmen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ein kapitalismuskritisches oder gar sozialistisches und damit antikapitalistisches Bewusstsein entwickeln. Das beruht aber nicht auf einer Ausbeutungserfahrung und speist sich nicht aus Gegenwehr gegen die Erscheinungsformen dieser Ausbeutung.
Anders verhält es sich etwa mit dem unteren Management in Betrieben, das ebenfalls zwischen Kapital und Arbeiter*innenklasse steht. Dessen Arbeitskraft wird zwar ausgebeutet; aber etwa ein Meister im Industriebetrieb ist gleichzeitig Teil des Herrschaftsapparates, durch den Arbeiter*innen beherrscht werden. In Streiks können sie aber durchaus eine eindeutig „proletarische politische Klassenposition“ einnehmen, sich also auf die Seite der Arbeiter*innen stellen.
Diese Beispiele sollen zeigen: Lehrer, Meister oder leitende Ingenieure sind durchaus für ein Bündnis gewinnbar – das hängt aber nicht zuletzt von aktiver Bündnisarbeit und Kämpfen ab. Das Bündnis nennen wir, angelehnt an den in romanischen Ländern üblichen Sprachgebrauch, ein populares Bündnis bzw. ein Volksbündnis. Aufgrund der objektiven Klassenstellung des traditionellen und lohnabhängigen Kleinbürgertums hat dieses Bündnis aber innere Widersprüche und insofern politische Grenzen. Geschmiedet werden kann ein solches populares Bündnis u. E. übrigens nur (nicht allein) durch eine linke Partei, in der aktive kämpferische Teile der Arbeiter*innenklasse organisiert sind und die eine solide Klassenverankerung hat: eine organisierende, verbindende und populistisch verdichtende Klassenpartei.
Abschließend noch ein Hinweis, um weitere Missverständnisse auszuräumen: Wir meinen damit kein antimonopolistisches Bündnis, wie es in der Politik vieler Kommunistischer Parteien nach den 1950/60er Jahren angestrebt wurde. Zu diesem wurden bekanntlich auch Teile des Kapitals gezählt, also namentlich das Mittelkapital. Außerdem müssen, soll ein mobilisierungsfähiges populares Bündnis entstehen, durch Sexismus und Rassismus entstandene (oder drohende) Spaltungslinien überwunden werden. Auch deshalb (aber auch, weil wir grundsätzlich gegen Sexismus und Rassismus sind) sagen wir, dass unsere Klassenpolitik zwingend antirassistisch, feministisch und internationalistisch sein muss.
Jakob Schäfer kritisiert, dass unser Politikansatz zu wenig von harter Organisierungsarbeit, insbesondere in Betrieben, ausgeht und an das erinnert, was führende Köpfe von Podemos vertreten. Vermutlich ist das so, weil wir sagen, dass wir zwingend eine Politik der populistischen Verdichtung brauchen, wenn wir ein populares Bündnis schaffen wollen.
Wenn wir sagen, das Volk der Linken bzw. ein populares Bündnis entstehe im Kampf gegen die Herrschenden, dann heißt es natürlich auch, dass Selbstorganisation eine wichtige Rolle spielt. Das Buch ist deshalb durchzogen von einem Plädoyer für einen Sozialismus von unten. Wir argumentieren ebenfalls, dass es Orte der Gegenseitigkeit (und damit auch der Selbstorganisation) wie etwa Stadtteilläden und soziale Zentren braucht, aus denen so etwas wie ein Hinterland der Solidarität entstehen kann. Ganz zentrale Bedeutung haben für uns politische Organisationen bzw. Parteien, die dazu in der Lage wären, eine Politik mit Massenlinie zu entwickeln. Aber das alles, das allein reicht nicht.
In der Regel spielen für die radikale Linke (zumindest theoretisch) Organisierung bzw. Selbstorganisierung der Unterdrückten und die politische Organisation/Partei eine große Rolle. Die Mehrheit der Volksklassen wird damit aber nicht erreicht. Deshalb brauchen wir eine Politik der populistischen Verdichtungen, die dabei hilft eine Spaltung zwischen Eliten und Volk, zwischen denen Oben und denen Unten, zwischen dem 1 % und den 99 %, zu schaffen – das „we the people“ gegen die Wallstreet in der Sanderskampagne oder das „for the many, not the few“ der Corbyn-Linken, um zwei jüngere Beispiele zu nennen. Diese Verdichtungen sind zwingend popular-national, sie appellieren an ein kämpfendes und buntes Volk der Linken und sind mit dem Anspruch verbunden, ein eigenes Entwicklungsmodell für das ganze Land, das mit „denen unten“ identifiziert wird, zu haben – insofern führen zu können (Sotiris 2017b).
Populistisch verdichten ist notwendig und populistische Verdichtungen greifen ebenso notwendig Leidenschaften und Gefühle auf: Liebe, Hass oder auch Sehnsucht nach Solidarität. Das bedeutet allerdings auch, eine neue Sprache zu entwickeln, mit der an das Massenbewusstsein angeknüpft werden kann, wir brauchen neue Symbole und Bilder.
Während Kräfte, die mit solchen populistischen Verdichtungen arbeiteten, zu führenden Kräften der radikalen Linken wurden und die Hegemonie des Bürgertums zumindest im Ansatz herausfordern konnten, blieben revolutionär-marxistische Gruppierungen, die einer reinen Klassenpropagandapolitik verhaftet blieben, gänzlich randständig. Beweis: Spanien und Griechenland.
Kommen wir nun zur dritten Kritik. J. S. nimmt an, wir würden davon ausgehen, „der Kapitalismus“ ließe sich Schritt für Schritt überwinden. Er nennt das Gradualismus. Richtig sei aber, dass mit dem Kapital gebrochen werden müsse, als zentrales Mittel nennt er die Strategie der Übergangsforderungen.
Man müsste etwas ausführlicher erklären, was Gradualismus eigentlich ist. Aus Platzgründen kürzen wir ab und nehmen als ein Beispiel die Strategie der „antimonopolistischen Demokratie“, wie sie etwa von der DKP (unter anderen Namen aber auch von anderen europäischen Kommunistischen Parteien) vertreten wurde. In ihr wird mehr oder weniger klar zwischen Etappen oder Phasen einer sozialistischen Transformation unterschieden. In einer Phase, in der ein Bündnis zwischen Arbeiter*innenklasse, Kleinbürgertum und dem Mittelkapital zusammenarbeitet, werden demokratische und soziale Reformen gegen das Monopolkapital erkämpft und danach dann sozialistische Reformen angestrengt (z.B. Boccara u.a. 1973, 640 ff.) – Verweise darauf, dass der kapitalistische Staat überwunden werden muss, fehlen zwar nicht gänzlich, sie werden aber verschiedentlich kombiniert mit positiven Bezugnahmen auf den Rechts- und Sozialstaat, das Grundgesetz usw.
Das ist nicht unsere Strategie. Weder vertreten wir solche Bündnisvorstellungen, noch deuten wir an, sozialistische Transformation würde sich in Etappen oder sauber berechenbaren Phasen vollziehen. Im Gegenteil.
Wir stimmen J. S. zu: Im Zuge des sozialistischen Übergangs muss mit der Macht des Kapitals gebrochen werden, soll sie nicht die Kämpfe der Arbeiter*innenklasse und die politische Linke brechen. Um das zu tun, sind Massenkämpfe – kreative, wilde soziale Bewegungen – nötig und radikale Reformen, die den Weg breiten und mobilisierend wirken. Die „rebellische Regierung“, von der wir schreiben, sollte deshalb solche Reformen auf den Weg bringen – darunter notwendigerweise auch antikapitalistische Strukturreformen. Sie sollte dabei eine Politik entwickeln, die Selbstorganisation fördert und nicht begrenzt, Klassenbewusstsein hebt und nicht senkt. Es wäre ein politisches Programm zu verwirklichen, das Übergänge eröffnet, also Einstiege in den Ausstieg (Mario Candeias) aus „dem“ Kapitalismus bietet – ein Programm, das popular-nationalen Führungsanspruch formuliert und dem zu schmiedenden „Machtblock von unten“ aus verschiedenen Klassenfraktionen und sozialen Bewegungen Ausdruck verleiht.
Unsere Bezugnahme auf ein Volksbündnis – und (im Buch) auf die Unidad Popular in Chile - hat einzelne Leser*innen auch dazu geführt, unseren Ansatz für eine Variante von Volksfrontpolitik zu halten. Das ist falsch. Was war Volksfrontpolitik der 1930er? Der Form nach war es ein Bündnis zwischen linken Arbeiter*innenparteien und bürgerlichen Parteien. Dem politischen Inhalt nach war es eine Unterordnung der Politik der Linken – oder der Arbeiter*innenklasse – unter die Interessen der bürgerlichen Parteien. Wenn man unseren Ansatz unbedingt in eine Traditionslinie stellen will, dann in die von Linksregierungen, die antikapitalistische Reformen auf den Weg bringen, auf Mobilisierungen von unten setzen und mit der Gegenmobilisierung der Rechten und der besitzenden Klassen rechnen. Das aber war – zugegeben: in grauer Vorzeit – das gerade Gegenteil einer Volksfront. Die Altvorderen nannten es Arbeiterregierung (Sinowjew 1921).
In einer Übergangsperiode muss der kapitalistische Staat überwunden werden, u .a. indem er durch Organe der popularen Macht (was man auch gerne mit Volksmacht übersetzen darf) ersetzt wird. Aber durch welche Brüche und in welcher Geschwindigkeit das möglich ist, ist abhängig von der Selbstorganisation, sozialen Bewegungen, dem Kräfteverhältnis zwischen den Gesellschaftsklassen sowie den politischen Kräften, nicht zuletzt der Stärke einer Linken, die diesen Weg gehen will.
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Ist das Gradualismus? Wir glauben nicht. Sicher, es ist eine gradualistischere strategische Vorstellung als die Annahme „eines Bruchs“ nach einem einzelnen frontalen Angriff – aber eben deshalb, weil die Geschichte uns lehrt, dass es Fort- und Rückschritte, Sprünge und Einbrüche geben kann.
Wir greifen deshalb auf Überlegungen zurück, die Panagiotis Sotiris [1] entwickelt hat und die als „Strategie der permanenten Doppelmacht“ bezeichnet werden kann (Sotiris 2017a). Grundlegend ist dafür, dass in Übergangsgesellschaften kommune Arten des Lebens und Produzierens gegen die kapitalistische weiterhin erkämpft werden müssen – und damit auch der Klassenkampf bzw. die sozialen und politischen Kämpfe weitergehen (Bettelheim 2016).
Die sozialistische Transformation ist auf den Aufbau von Bewegungen und neuen Institutionen der direkten Demokratie (Volksmacht) angewiesen, in welcher Geschwindigkeit der kapitalistische Staat aber demokratisiert und überwunden werden kann, ist von den Klassenkämpfen abhängig.
Aber selbst dann, wenn sich Elemente eines nicht-kapitalistischen („sozialistischen“) Staates herausbilden – in der Tradition der Linken: eines Arbeiter*innenstaates – gibt es gute Gründe, weiterhin auf starke autonome Bewegungen, Orte der Gegenmacht etc. zu setzen, die nicht identisch werden und nicht Teil des Staates sind: gegenüber dem kapitalistischen Staat als antagonistisches Gegenüber – gegenüber dem nach-kapitalistischen Staat als treibende und auch kontrollierende Gegenmacht. Mit anderen Worten: Die sozialistische Transformation in der Übergangsgesellschaft braucht zwingend eine „Dualität von Macht“.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2018 (Januar/Februar 2018). | Startseite | Impressum | Datenschutz