Die Buchveröffentlichung von Violetta Bock und Thomas Goes „Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte“ hat eine kontroverse Debatte ausgelöst. Diese dreht sich sowohl um den strategischen Ansatz von Bock/ Goes, also um einen Linkspopulismus, der auf einem „Unten-Mitte-Bündnis“ basiert, als auch um die zugrundeliegenden klassentheoretischen Fragestellungen.
Lutz Getzschmann
In einem im Dezember 2017 im Internet und im Januar 2018 in der letzten Ausgabe der „Internationale“ veröffentlichten Text reagierten die Autor*innen auf einige aufgeworfene Kritikpunkte und konkretisierten einige ihrer, im Buch noch recht schwammig formulierten, Postulate. Auch und gerade nach diesem zweiten Beitrag sehe ich die Notwendigkeit, meine Kritikpunkte an dem Band zu formulieren, um den strategischen Dissens mit den Autoren zu verdeutlichen. Es ist aus meiner Sicht tatsächlich nicht so, wie Thies Gleiss dies in einer Rezension in der SoZ (Juli/August 2017, S. 20) formuliert hatte, dass die Inhalte des Buches schon in Ordnung gehen, nur der Begriff „Populismus“ eigentlich überflüssig sei. Vielmehr ist die strategische Orientierung, die hier vorgeschlagen wird, sehr kritikwürdig. Ja, ich fürchte, sie stellt auch grundlegend die Zielsetzung infrage, die Arbeiter*innenbewegung und ihren revolutionären Flügel durch Stärkung und Verbreiterung der Arbeiter*innen-Avantgarde und des Massenbewusstseins wiederaufzubauen.
Die Basis dieses politischen Paradigmenwechsels ist eine Klassenanalyse, die m. E. produktivistisch verengt und holzschnittartig verkürzt ist. Sie nimmt eine Abgrenzung vor zwischen der vermeintlich durch die Produktion von Mehrwert für das Kapital charakterisierten Arbeiterklasse und einem nicht mehrwertproduzierenden „lohnabhängigen Kleinbürgertum“. Zwischen diesen beiden Klassen müsse ein Bündnis geschmiedet werden, das selbstredend angeführt wird durch „aktive kämpferische Teile der Arbeiterklasse“. Ohne den Beweis der Kohärenz dieser, von den Autor*innen bei Nicos Poulantzas entlehnten, hauptsächlich allerdings ansonsten in stalinistischen und poststalinistischen Denktraditionen beheimateten klassenanalytischen Ansatzes fällt ihre gesamte „linkspopulistische Strategie“ des Klassenbündnisses in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Und da ich diese Klassenzuordnung für höchst problematisch halte, werde ich mich im zweiten Teil des vorliegenden Textes hauptsächlich mit ihr auseinandersetzen.
Mit dieser Dimension vor Augen wird auch deutlich, dass es hier nicht nur um eine Kontroverse um die gewagten Thesen zweier Buchautor*innen geht, sondern um einen Aspekt einer übergreifenden Strategiedebatte, die auch auf der Ebene der Vierten Internationale und in einigen ihrer Sektionen in Gang gekommen ist.
Auf der Oberflächenebene könnte man kritisieren, dass die Autor*innen sich ihren Linkspopulismus so zusammenbacken, wie sie ihn eben haben wollen, ohne sich länger mit der Geschichte populistischer Bewegungen und Ideologien aufzuhalten. Dabei wäre diese ja in mancherlei Hinsicht lehrreich: Angefangen bei der Populist Party in den USA des späten 19. Jahrhunderts über die populistischen Bewegungen in Lateinamerika, u.a. den Peronismus und die APRA in Peru, ließe sich die ganze Ambivalenz der Anrufung des Volkes in dieser Form nachvollziehen, die Klassenbasis dieser Bewegungen und ihre Zeitbedingtheit. Neuere Beispiele für explizit linkspopulistische Bewegungen könnten womöglich dieses Bild noch etwas präzisieren, auch wenn die Diagnose dabei vermutlich uneinheitlich ausfallen dürfte: Chavez in Venezuela, die populistischen Elemente in der Kampagne des Linkssozialdemokraten Bernie Sanders in den USA oder die populistische Wendung des Jean-Luc Mélenchon, wobei letzterer ja der Einzige ist, der explizit eine populistische Strategie entworfen hat, die als solche auch nachlesbar ist. Auf Podemos in Spanien und die Bewegung um Sanders in den USA beziehen sich die Autor*innen durchaus. Nur nehmen sie sich nicht die Zeit, die grundlegenden Widersprüche ihrer Beispiele kritisch zu diskutieren.
Bei einer historisch gründlicheren Gesamtdarstellung dieses Ideen- und Organisationskomplexes wäre womöglich deutlich geworden, dass keine populistische Bewegung in Wirklichkeit auf drei Dinge verzichten kann, die Bock/Goes mit Sicherheit nicht im Sinn hatten:
eine charismatische Führerpersönlichkeit als Kristallisationspunkt und Projektionsfläche;
eine Klassenstruktur, die noch mitten im Prozess der krisenhaften Modernisierung und der Herausbildung entwickelter industrieller Klassenstrukturen ist, die also noch im Fluss befindlich ist, teils noch agrarisch geprägt ist, von vielfältigen Formen echter Kleinselbständigkeit, von Handwerker- und Kleinhändlersubjektivitäten durchzogen (das zumindest war der Hintergrund, vor dem die alten populistischen Bewegungen vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden, die in der Lage waren, die quasi vormodernen Sozialrebellentypen genauso wie den charismatischen Anführer hervorzubringen); und
eine Ambivalenz in ihrem Volk-versus-Eliten-Diskurs, die darin besteht, den Volksbegriff zwar vordergründig mit dem sozialen Inhalt der ausgebeuteten Volksmassen zu füllen, semantisch aber das Volk als National- und Staatsvolk immer auch mit zu bedienen. Dass Mélenchon in seiner Wahlkampagne statt der roten Fahne der Arbeiter*innenbewegung stets die Trikolore von seinen Unterstützer*innen wehen ließ, ist nicht nur eine drollige Besonderheit des politischen Diskurses in Frank reich und des in über 200 Jahren aus der französischen Revolution heraus erwachsenen Nationalgefühls. Es ist eben auch ein bewusster Bruch mit der französischen Arbeiter*innenbewegung und ihrer Linken, die er 2017 nicht mehr – wie noch 2012 – einen, sondern ersetzen will. Pierre Rousset schreibt dazu in einem seiner beiden, in der SoZ (Juli/August 2017, S. 19) erschienenen Artikel:
„Das Netzwerk der organisierten Linken ersetzen, ist ein zentrales Thema bei Mélenchon. Die Zeit der Parteien ist vorbei, ein Hoch auf die Bewegungen! Er begnügt sich nicht damit, den Niedergang der linken Parteien zu konstatieren, er trägt aktiv zu ihrer Marginalisierung bei. Dafür bietet die Gemengelage in Frankreich einen guten Resonanzboden, das hat ja auch Macron mit großem Erfolg betrieben.
Das ist eine Entscheidung, die angesichts der bestehenden politischen Konjunktur folgenreich sein kann. Mit wem will man gegen Macron eine soziale und demokratische Front des Widerstands aufbauen, wenn man den Ehrgeiz hat, alle möglichen in Parteien organisierten Verbündeten zu «ersetzen»? Nachdem er zuerst säuberlich das Terrain der Wahlen (Sache der Politik) und vom Terrain des Sozialen (Sache der Gewerkschaften) voneinander geschieden hat, scheint sich Mélenchon nun mit seiner Parlamentsfraktion als natürlichen parlamentarischen Bündnispartner der Kämpfe anzubieten, die von den Gewerkschaften zu führen sein werden. Doch die Ersetzung linker Parteien ist das Gegenteil von ihrer Zusammenführung.“
Nun sind die real waltenden Kräfte in La France Insoumise möglicherweise hartnäckiger und beharrlicher, vor allem stärker als organisierte Gruppen der radikalen Linken formiert, als Mélenchon das gerne hätte. Der Parlamentsfraktion von La France Insoumise gehören etwa auch zwei Mitglieder von „Ensemble“ und auch Leute wie François Ruff an, deren Diskurs zweifellos in Wirklichkeit nicht um „das Volk“ sondern um Klassen zentriert ist. Aber mit dem Versuch, die alte Linke zu ersetzen, geht seitens Mélenchons und seines Kampagnenstabes eben auch der Versuch einher, den gesellschaftlichen Diskurs und die symbolpolitischen Codes der Widerstandsbewegung gegen die autoritär-neoliberalen Umstrukturierungen von Staat und Akkumulationsregime von ihrem klassenpolitischen Inhalt zu entkernen und diesen durch einen „Volk-versus-Eliten“-Diskurs zu ersetzen. Ge länge dies auf einer realen Massenebene, wäre es allerdings eine gefährliche Entwicklung, die einen Substanzverlust für die französische Arbeiter*innenbewegung zur Folge hätte, von dem sie sich nur schwer wieder erholen könnte. Zurzeit versuchen viele Kräfte, der französischen Linken und der von ihr mitgeprägten Gewerkschaftsbewegung das Genick zu brechen – von Macron bis Mélenchon, wobei letzterer bisher noch angewiesen ist auf seine linke Basis. Zu hoffen ist, dass keine davon sich durchsetzt. Pierre Rousset zitiert in seinem Text Juan Carlos Monederos, ein Gründungsmitglied der von Goes/Bock als Referenz für eine linkspopulistische Strategie herangezogenen spanischen Wahlformation Podemos. Und ich fürchte, was er kritisiert, lässt sich als eines der Grundprobleme linkspopulistischer Kampagnen generalisieren:
„Die Verteidiger der ‹populistischen Hypothese›, allen voran Íñigo Errejón, dachten, man müsse nur die Elemente mobilisieren, die uns siegen helfen, und wir sollten nicht Themen ansprechen, mit denen wir Stimmen verlieren. Also sollten wir nur über abstrakte Dinge reden, um so viel Unterstützung zu bekommen wie möglich: das Vaterland, die Kaste, die Korruption. So wird Bedeutung entsorgt, werden die Möglichkeiten der Veränderung letztlich beseitigt.“
Nun werden die Autor*innen sicherlich argumentieren, diese historische Herleitung und die daraus folgende, den Rahmen des vorliegenden Bandes sicherlich sprengende, Gesamtdarstellung linkspopulistischer Bewegungen hätten sie ja auch gar nicht beabsichtigt, und so sei es irgendwie an der Sache vorbei, ihnen deren Fehlen vorhalten zu wollen. Aber in der hier vorliegenden Form wird der Bezug auf die genannten Beispiele eben mehr oder weniger zum bloßen Name-Dropping. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man feststellt, dass zusätzlich zu den mehr oder weniger „echten“ linkspopulistischen Kampagnen auch noch in einem Satz ohne weitere Erläuterung mal eben ein paar unechte Linkspopulismen als Kronzeugen angeführt werden – nämlich die eurokommunistische PCI der 1960er bis 1980er Jahre und die chilenische Unidad Popularder frühen siebziger Jahre bis zum Pinochet-Putsch. Und hier wird es dann wirklich abenteuerlich, denn natürlich sind diese Parteien keine Beispiele für im eigentlichen Sinne linkspopulistische Bewegungen, sondern auf je unterschiedliche Weise gescheiterte reformistische Projekte, deren Kritik seitens der revolutionären Linken seit Jahrzehnten vorliegt bzw. in den Bücherregalen verstaubt. Zur Kritik der Volksfrontpolitik Allendes ist ja gerade aus der Vierten Internationale theoretisch wie praktisch einiges Zeitgenössisches und m. E. im Kern Richtiges überliefert. Und auch zur Kritik des Eurokommunismus und seiner überlebenden Sprengsel und der historischen Bürde, die er für die west- und vor allem südeuropäische Linke bedeutet, ließe sich viel analysieren und diskutieren. Nur hat das eben eher wenig mit dem Komplex des Populismus bzw. Linkspopulismus zu tun, es sei denn, man hebt ausschließlich auf die klassenpolitische Strategie ab, die da jeweils verfolgt wurde, und hierbei landet man dann letztlich in ganz anderen Gefilden.
Aber letztlich drängt sich der Eindruck auf, dass all diese Beispiele, historische wie aktuelle, letztlich nur der Legitimation des eigenen Ansatzes dienen und schon deshalb nicht weiter kritisch diskutiert werden. Wesentlicher ist da schon die kritische Abarbeitung am vermeintlichen Linkspopulismus Sahra Wagenknechts, denn diese zielt offenbar genau auf die Zielgruppe des Buches. Das ist die Schicht von Aktivist*innen und kleineren bis mittleren Funktionär*innen der deutschen Linkspartei, die einerseits von Wagenknechts Rhetorik begeistert, andererseits ratlos und teilweise entsetzt sind. Begeistert, weil sie feststellen, dass die Rhetorik Wagenknechts offenbar Anknüpfungspunkte ans Massenbewusstsein bietet, an die angeknüpft werden kann und muss. Ratlos und teilweise entsetzt, weil sie die blinden Flecke von Wagenknechts – so Bock/Goes – „scheiterndem Linkspopulismus“ sehen, nämlich vor allem die antirassistischen und internationalistischen Komponenten.
Ginge es wirklich nur darum, dann wäre der kleine Band vor allem verdienstvoll. In der Kritik an Wagenknecht und den aufgezeigten Alternativen finde ich viel Richtiges und Unterstützenswertes. Aber dabei finde ich den Populismus-Begriff eher hinderlich, weil er auf der vulgären Ebene der bürgerlichen Medien und der Argumentation der politischen Gegner völlig schwammig ist , wo er doch eigentlich jede zuspitzende, Verantwortliche benennende und personalisierende (statt strukturalistisch verschleiernde) linke Kritik an den Verhältnissen meint. All das zu ignorieren und sich darauf zu konzentrieren, dem Rechtspopulismus der AfD einen quasi geschichtslosen Linkspopulismus entgegenzuhalten, der dann als strategisches Konzept der Linkspartei angedient wird und in den dann Versatzstücke wie „Sozialismus von unten“, „organisierende Linke“ und ein paar Vorstellungen für Übergangsforderungen eingewoben werden, halte ich für etwas fragwürdig.
Dass es sich aber offenbar tatsächlich um einen Paradigmenwechsel handelt, wurde mir klar, als ich im Buch schon ziemlich am Anfang über den Begriff der Volksklassen und im Glossar dann über die eher dürre Erläuterung stolperte. Und hier scheint wohl der eigentliche Dissens zu liegen – in einem Klassenbegriff den ich für verengt, tendenziell produktivistisch und, gemessen an sowohl Marx’schen als auch marxistischen Kategorien, für schlicht falsch halte. Dieser Klassenbegriff zählt verschwommen zur Arbeiterklasse „die an Mehrwertschöpfung mittel- und unmittelbar beteiligten Industrie- und Dienstleistungsbeschäftigten“; er sondert aber solche Beschäftigtengruppen wie Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen, Lehrer*innen, Verwaltungsangestellte oder gar die Erwerbslosen als „andere lohnabhängige Schichten“ aus ihr aus, gemeinsam mit kleinen Selbständigen, Handwerkern etc. Das erklärt zwar, warum man meint, ein klassenübergreifendes Bündnis der Volksklassen gegen die Eliten zu brauchen. Aber mit der eigentlichen Aufgabe, die revolutionäre Marxist*innen m. E. heute zu bewältigen haben, hat das – mindestens begrifflich – allerdings nur noch wenig zu tun: nämlich die fragmentierten, buntscheckigen, teils bewusstseinsmäßig atomisierten und in Konkurrenz zueinander gesetzten Teile der Lohnarbeiter*innenklasse in echte Solidarisierungsprozesse einzubinden, darüber Klassenbewusstsein und Selbsttätigkeit zu stärken und die schon immer tief gespaltene und fraktionierte Klasse der Lohnarbeiter*innen als Subjekt wenigstens punktuell einiger und handlungsfähiger zu machen.
Zunächst ist anzumerken, dass – eigentlich eine Binsenweisheit – die Arbeiter*innenklasse nie ein homogener monolithischer Block war, und zwar weder politisch noch soziologisch. Sie ist vielmehr über weite Strecken der Geschichte der letzten 200 Jahre tiefgreifend fragmentiert, besteht aus unterschiedlichsten, im Aufstieg oder Niedergang befindlichen Arbeiter*innengruppen und ist teilweise von noch vorindustriellen handwerklichen Traditionen und Bewusstseinsformen durchsetzt, und teilweise von ausgegrenzten und entrechteten deklassierten Elementen des Pauperismus und der Gelegenheitsarbeit durchsetzt. Und immer gab es privilegierte und unterprivilegierte Arbeiter*innengruppen, berufsständische und industrielle Bewusstseinslagen und Organisationsformen.
Der Fordismus und die von ihm mitgeprägte Sichtweise auf Klassen und Arbeiterbewegung haben das mitunter vergessen lassen. Der wichtigste Grund, sich einen umfassenderen Blick auf die Geschichte proletarischer Lebensäußerungen und Widerstandsformen anzueignen, ist vor allem der Notwendigkeit geschuldet, Klassenkampf und Klassenbewusstsein von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten, als der Marxismus des fordistischen Zeitalters dies konnte. Sie sind nämlich nicht als rein soziologische Größen zu betrachten, sondern auch als Orientierungspunkte für eine widerständige politische Praxis. Die Arbeitergeschichtsschreibung und politische Wertung der Linken des gerade untergegangen kapitalistischen Entwicklungsstadiums waren zu sehr fixiert auf Erscheinungs- und Bewusstseinsformen der Arbeiter*innenklasse jenes Stadiums. Sie vergaßen oftmals, dass sich proletarische Regungen und Kämpfe nicht geschichtslos aus den puren ökonomischen Prozessen heraus entwickeln, sondern eine Vorgeschichte in den Kämpfen der sozialen Unterklassen des ausgehenden Feudalismus und ihres Übergangs zu kapitalistischen Produktionsweisen haben und eine kulturelle Dimension, die wesentlich vielschichtiger ist als das, was in gängigen Darstellungen mit dem Begriff „Arbeiterkultur“ identifiziert wird. Sie haben, in bisweilen blindem Geschichtsoptimismus, nur zu oft über die historische Mission der Arbeiter klasse orakelt und dabei den vorwärtsweisenden Charakter der proletarischen Klassenkämpfe so einseitig überbetont, dass die Anlässe, Kampfformen und Bewusstseinslagen der realen Klasse, die oftmals eher rückwärtsgewandt sich an verlorengegangenen Rechten, Standards und moralischen Anforderungen orientierte und gerade dort besonders kämpferisch war, ausgeblendet wurden. Sie haben die Spaltungslinien innerhalb der Klassen, die Fragmentierungen, die immer da waren (und meistens stärker waren als ein wie auch immer geartetes einheitliches „Klasseninteresse“) übersehen, was heute dazu führt, dass etliche von ihnen den Wald vor lauter Bäumen, d. h. im Gewimmel der verschiedenen fragmentierten Lebenslagen, Arbeitsverhältnissen, Sonderinteressen, kulturellen Aufsplitterungen und Individualisierungsprozesse die Lohnarbeiter*innenklasse als solche nicht mehr erkennen können.
Daraus ergeben sich allerdings verschiedene Reflexe: Zum einen die von der bürgerlichen Sozialwissenschaft, zumal in Deutschland, betriebene Negierung der Klassen, zum anderen die Relativierung des Klassenparadigmas durch modische Denkströmungen der akademischen Linken. Diese modischen Denkströmungen haben in den 1990er Jahren in ihrer weit überwiegenden Mehrheit den „Abschied vom Proletariat“ eingeläutet und mit der empirisch nachweisbaren Auflösung tradierter Arbeitermilieus zugleich auch die Bedeutung von Klassenzugehörigkeiten für politische Bewusstseinslagen insgesamt als stark rückläufig diagnostiziert. Diese kulturalistische und von allerlei (teils für detailliertere Klassenanalysen durchaus brauchbaren, teils aber auch regelrecht regressiven) Milieu- und Lebensstilanalysen begleitete Wendung wurde zwar in den wirtschafts- und sozialpolitisch dann raueren 2000er Jahren von manchen kritischen Geistern ansatzweise wieder hinterfragt, produzierte jedoch wiederum ihre Reflexe – nämlich die Hinwendung zu scheinbar politisch-praxisfähigen, neo-leninistisch andockfähigen Begründungszusammenhängen von kommunistischer Klassenpolitik, die jedoch letztlich in eine Sackgasse führen. Dieser Versuchung scheinen auch Bock/Goes erlegen zu sein, indem sie sich zur Legitimation ihres klassenpolitischen Ansatzes samt den entsprechenden Mutmaßungen über Bündnisperspektiven und proletarisches vs. kleinbürgerliches Bewusstsein in der Mottenkiste der Modediskurse der 1970er Jahre bedienen.
Der Soziologe Nicos Poulantzas, neben Althussser einer der strukturmarxistischen Stichwortgeber der später entstandenen Regulationstheorie, veröffentlichte 1972 sein Buch „Klassen im Kapitalismus – heute“ (ein Jahr später in deutscher Übersetzung), auf das – bzw. auf einige Versatzstücke daraus – sich Bock/Goes in ihrer Klassenanalyse berufen. Es liegt schon eine gewisse Ironie darin, einen vor 45 Jahren erschienenen Text, dessen empirische Annahmen u.a. auf der kritischen Diskussion von Strukturanalysen des französischen Bildungs- und Ausbildungssystems der 1960er Jahre basiert, als letzten Schrei zu verkaufen. Vor allem aber: Sein klassentheoretischer Ansatz hat einige grundlegende Schwächen, die bereits in der Debatte der 1970er Jahre von seinen Kritikern erbarmungslos offengelegt wurden. Damals allerdings war der antihegelianische strukturalistische Marxismus von Autoren wie Althusser, Poulantzas, Balibar etc. vor allem in Kreisen der akademischen Linken en vogue. Mit ein paar Jahrzehnten Abstand können, nachdem die damals bestehenden Konjunkturen sich deutlich abgeflacht haben, ihre Ansätze vielleicht auch etwas kaltblütiger diskutiert werden, wobei die verdienstvolleren Aspekte ihres Diskurses, wie etwa bestimmte Diskussionsbeiträge zur Funktionsweise des bürgerlichen Staates hier weitgehend unberücksichtigt bleiben müssen.
Andere Ansätze, wie etwa die im Rückblick etwas hysterisch anmutende Behauptung eines Bruchs zwischen dem angeblich noch in dem dialektischen Idealismus Hegels befangenen jungen Marx und seinem – ebenso angeblich von diesen hegelianischen Eierschalen befreiten – Spätwerk, das eigentlich erst die Höhen der Kritik der politischen Ökonomie erklommen hätte, können wir getrost als erledigt betrachten.
Poulantzas’ Klassenanalyse, mit der Bock/Goes ihre Thesen legitimieren, gehört m. E. zu jenen Aspekten seines theoretischen Werks, die heute als überwunden gelten können und die bereits in den 1970er Jahren eher als etwas skurril angesehen wurden. So reduziert er die Arbeiter*innenklasse auf die mehrwertproduzierenden Lohnarbeiter*innen, während er jene Lohnarbeiter*innen, die der Zirkulationssphäre und der Realisierung des Mehrwerts zuzuordnen sind, d.h. dem Handelskapital und dem Bankkapital, anderen Klassen zuordnet, „denn diese Kapitale und die Arbeit, die ihnen zugehört, erzeugen keinen Mehrwert.“ Er bedient sich hier also eines etwas merkwürdigen Kunstgriff, indem er – als Beleg für seine These – schlicht auf seine eigene Behauptung verweist, deren objektive Gültigkeit er voraussetzt (eine Form der „Argumentation“, die auch Goes/Bock beherrschen). Die Bourgeoisie gliedert Poulantzas in industrielles, Bank- und Handelskapital sowie Großgrundeigentümer, neben denen zunehmend „monopolistische Kapitale“ auftreten, die (so Poulantzas im Anschluss an Lenin) aus einer Verschmelzung dieser Klassenfraktionen zum Monopol entstünden.
Um jene nichtproduktiven Arbeiter*innen der Zirkulationssphäre und des staatlichen Sektors klassentheoretisch einzuordnen, erfindet Poulantzas den Begriff des „Neuen Kleinbürgertums“, bei Bock/Goes in ihrem Buch verschwommen als „sonstige lohnabhängige Schichten“ bezeichnet und in ihrem Diskussionsbeitrag 2018 in dieInternationale (1/2018, S. 6) zur Verteidigung ihres Ansatzes dann etwas konkreter mit dem Begriff des „lohnabhängigen Kleinbürgertums“ belegt. Ingenieure und Techniker als „geistige Arbeiter“ weist Poulantzas ebenfalls dem „neuen Kleinbürgertum“ zu und begrenzt den Sektor der Arbeiter*innenklasse damit noch weiter auf die mehrwertproduzierenden „manuellen Arbeiter“, da die Erstgenannten Machtbefugnisse des Kapitals ausübten und ihre Klassenzuordnung somit durch die „Herrschaft der politischen Verhältnisse gekennzeichnet“ sei.
Die drei von Poulantzas identifizierten wesentlichen Fraktionen des neuen Kleinbürgertums betrachtet er vor allem in Hinsicht auf ein potentielles Bündnis mit der Arbeiter*innenklasse:
die Fraktion der einfachen Angestellten im Handel und in den Dienstleistungsbereichen (die, gemessen an der von Poulantzas konstruierten Klassenschranke, der Arbeiter*innenklasse am nächsten stehen);
die Fraktion der „subalternen Agenten der bürokratisierten staatlichen und privaten Sektoren“ (Büroangestellte, kleine Beamte)
und schließlich die Fraktion der „subalternen Techniker und Ingenieure, die unmittelbar in die produktive Arbeit einbezogen sind“, die als Machtapparat des Kapitals in den Unternehmen charakterisiert werden.
Die wesentlichen Vertreter*innen der (immerhin auf Poulantzas fußenden) Regulationstheorie haben im Großen und Ganzen als einzigen bewahrenswerten Aspekt seiner Klassentheorie den „Bruch mit ökonomistischen Fassungen von Klasse“ hervorgehoben – seine teils impliziten, teils expliziten Verweise auf kulturelle Faktoren und Macht. Max Koch, der vor einem entsprechenden theoretischen Hintergrund in einem 1998 erschienenen Band verschiedene klassentheoretische Ansätze einer kritischen Sichtung unterzog, urteilte dazu:
„Der Schluss, alle unproduktiven Arbeiter von der Arbeiterklasse auszuschließen, ist nun keineswegs zwingend und fällt hinter den von uns bereits zur Kenntnis genommenen Forschungsstand in Deutschland zurück. Etwa bei Hübner u.a. 1970 findet sich schon der Hinweis, dass die nichtproduktiven Arbeiter genauso ausgebeutet werden wie die produktiven, auch wenn sie „nur“ an der Realisierung des Mehrwerts beteiligt sind. Wenn man also die ökonomischen Formbestimmungen als Einteilungskriterien heranzieht, sollte, wie im PKA [Projekt Klassenanalyse, d. A.] eher von Fraktionen der Arbeiterklasse gesprochen werden, die sich aus der Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit ergeben. Aber Poulantzas’ Gebrauch des Begriffpaars „Produktive und unproduktive Arbeit“ ist in einem noch umfassenderen Sinne inkonsistent, denn im Falle der Ingenieure und Techniker soll auf einmal nicht mehr ihre produktive Arbeit die entscheidende Kategorie für ihre Klassenstellung sein, sondern ihre Position in den „Machtbefugnissen des Kapitals“, die ihrerseits eng mit der leitenden Funktion im Arbeitsprozess verknüpft ist.“
Auch Poulantzas’ Versuche, sein Theorem empirisch mit verschiedenen Studien zum französischen Schul- und Ausbildungssystem der 1960er Jahre zu belegen, bleiben eher erfolglos. Sie können keine zwingende Beweisführung schaffen, vor allem in Bezug auf die von ihm konstruierten Formen kleinbürgerlichen Bewusstseins, die sich aus der spezifischen Klassenlage etwa der Lehrkräfte und Schüler*innen unterschiedlicher Teilbereiche des Schulsystems ergeben sollen.
Es war vor allem die Regulationstheorie im Gefolge der Abarbeitung an Althusser und Poulantzas die eine starke Neigung entwickelte, die politische und sozioökonomische Bedeutung von Klassenzugehörigkeit weitgehend zu negieren. Goes/Bock aber haben durchaus den Anspruch, im Rahmen des von ihnen postulierten „Bündnisses der Volksklassen“ bzw. „Unten-Mitte-Bündnisses“ sozialistische Klassenpolitik gegen den (begrifflich von Poulantzas übernommenen) „Block an der Macht“ entwickeln zu wollen. Da stellt sich schon die Frage, was sie dazu bewogen hat, gerade diesen Theorieansatz auszugraben und als Referenz für ihre Thesen zu wählen. Hier ist der kritische Leser auf Vermutungen angewiesen, weil Goes/Bock ihre Postulate nicht weiter klassentheoretisch erörtern. Kurz gesagt, halte ich die folgenden Gründe für naheliegend:
Poulantzas bietet ein scheinbar weitgehend lückenloses, wenn auch bei näherer Betrachtung inkonsistentes Modell an.
Aus diesem Modell ergeben sich Rückschlüsse auf handhabbare, wenn auch bei genauerem Blick auf die Empirie weitgehend haltlose Rückschlüsse auf die daraus abgeleiteten Bewusstseinslagen der unterschiedlichen Klassen, speziell auf das vermeintlich „kleinbürgerliche Bewusstsein“ (eine Kategorie, die sehr brauchbar ist, wenn es darum geht, politische Führungsansprüche zu untermauern).
Es hat den unbestreitbaren Reiz der scheinbaren Hegemoniefähigkeit von Klassenbündnissen, die am grünen Tisch als Träger des historischen Fortschritts dienen können.
Marx hat zwar keine ausgearbeitete Klassentheorie hinterlassen, aber in den diversen Schriften, in denen Ansätze einer Theorie sozialer Klassen erkennbar sind, taucht der Begriff der „Arbeiterklasse“ in der später üblichen aufgeladenen und gedanklich mit einem kämpfenden Industrieproletariat verknüpften Form kaum auf. Stattdessen spricht er in der Regel von der „Lohnarbeiterklasse“, mitunter auch quasi synonym damit vom Proletariat, wobei dieser Begriff zumeist eher schon die wahrnehmbaren politischen Regungen der Klasse meint. Wal Buchenberg schreibt in seiner Zusammenstellung der entsprechenden überlieferten Textstellen:
„Die Kriterien, nach denen Marx diese gesellschaftlichen Klassen einteilt, sind nichts weiter als ihre jeweiligen Eigentumsverhältnisse und die daraus abgeleiteten Einkommensquellen.
Nach dieser rein ökonomischen Bestimmung gehören zunächst alle zur Lohnarbeiterklasse, die keine Existenzmittel (Produktionsmittel) besitzen außer ihrer Arbeitskraft und daher von ihrer Arbeit leben müssen. Es sind Menschen, die „nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt.“ (Kommunistisches Manifest, MEW Bd. 4, 468)
Von dieser Lohnarbeiterklasse unterscheidet Marx an verschiedenen Stellen die selbstarbeitenden Eigentümer – auch als kleine Meister bezeichnet – und eine im häuslichen Umfeld der Bourgeoisie anzutreffende Bedienstetenklasse. Staatsbedienstete werden bei ihm in der Regel aus der Lohnarbeiterklasse herausgerechnet („Regierung, Pfaffen, Juristen, Militär usw.“), nicht jedoch die unteren Chargen etwa bei der damals staatlich organisierten Post, Eisenbahn etc. Davon, dass durchgängig etwa die Produktion von Mehrwert ein Kriterium für die Zugehörigkeit zur Lohnarbeiterklasse sei, ist bei Marx keine Rede – im Gegenteil. Gegen Ende seines Lebens schrieb er an einer Stelle:
„Endlich erlaubt die außerordentlich erhöhte Produktivkraft in den Sphären der großen Industrie, begleitet, wie sie ist, von intensiv und extensiv gesteigerter Ausbeutung der Arbeitskraft in allen übrigen Produktionssphären, einen stets größeren Teil der Arbeiterklasse unproduktiv zu verwenden ...“
An dieser Stelle kommt man allerdings nicht umhin, die Klassen in ihrem Verhältnis zur Gesamtheit der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse des Kapitals zu betrachten. Denn Marx analysiert, wie Altvater und Huisken betonen, die Klassen nicht als selbständige Einheiten, die sich bekämpfen oder auch zeitweise sich friedlich gegenüberstehen; sie sind auch keine bloß politischen und sozialen Gebilde, also Gegenstände soziologischer Forschung, Objekte von Schichtenmodellen usw., sondern sie werden analysiert als Ausfluss des Kapitalverhältnisses. Dies ist, Altvater/Huisken zufolge, der Grund dafür, dass Marx die Klassen erst im letzten (unvollendeten) Kapitel des dritten Bandes des Kapital systematisch zu behandeln beginnt, nachdem die Kategorien des Kapitals im Allgemeinen und seiner Erscheinungsformen bis hin zu den Distributionsverhältnissen entwickelt worden sind. Die Analyse von Marx beschreibt demnach einen Zirkel: von der begrifflich-historischen Genesis des Kapitalverhältnisses als des Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital über die Produktion der Formen, in denen das Kapital sich in seinem Gesamtprozess entfaltet, bis hin zu den verschiedenen Formen, in denen sich das Wertprodukt in Revenue aufteilt, zur Darlegung des im Kapitalismus grundlegenden Klassenwiderspruchs von Lohnarbeit und Kapital. Dieser Zirkel ist nun, wiederum Altvater/Huisken zufolge, nicht etwa nur von der Darstellung des Stoffs her begründet, sondern von der Struktur des Gegenstandes – der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Erst aus der Verfolgung der Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft könne die Reproduktion der Klassenverhältnisse und all der Formen, die die Konstituierung der Arbeiterklasse als Klasse für sich behindern und auch ermöglichen, nachvollzogen werden.
Auf den Punkt gebracht, heißt dies, dass eine Herleitung der Arbeiter*innenklasse ausschließlich aus der Ausbeutung durch die Produktion von Mehrwert für das Kapital unzureichend ist, weil die Reproduktionsverhältnisse außer Acht gelassen werden und erst die Gesamtheit der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse im Kapitalismus den Blick auf die Klassenverhältnisse freigibt. Und daraus folgt u.a. die unbestreitbare Tatsache, dass unproduktive Arbeiter*innen, etwa in der Reproduktionssphäre, nicht sinnvoll aus der Arbeiter*innenklasse herausdefiniert werden können.
Michael Mauke spitzt es in seiner Darstellung der Klassentheorie von Marx und Engels dergestalt zu:
„Mit dem Fortschritt der kapitalistischen Akkumulation wächst die Zahl der unproduktiven Arbeiter absolut und relativ bis an den Punkt, wo die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals die Arbeiter vollends durch Maschinen ersetzt. Auf dieser Entwicklungsstufe wird auch der an die Mehrwertproduktion gebundene Begriff ‘produktive’ Arbeit hinfällig.“
Zwar ist davon auszugehen, dass dieses den Marx’schen Theorien über den Mehrwert (MEW Bd. 26) entnommene Szenario vor dem Hintergrund der Entwicklungen, die mit dem Schlagwort Industrie 4.0 verbunden sind, eher gewagte Spekulationen sind als valide Prognosen zur Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion. Aber sie unterstreichen doch die historische Veränderlichkeit nicht nur der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern auch der Ware Arbeitskraft. Dass die Arbeiter*innenklasse im ökonomischen Sinne eben nicht nur Produzent*innen von Mehrwert, sondern auch unproduktive Arbeiter*innen umfasst, ist nicht nur eine ziemlich wahrscheinliche Schlussfolgerung aus den Äußerungen von Marx und Engels, sondern, Ernest Mandel zufolge, Gemeinplatz aller ‘orthodoxen’ Nachfolger und deren Auffassungen, von Kautsky, Plechanow, Lenin bis Luxemburg und Trotzki. Mandel schreibt dazu:
„Die bestimmende strukturelle Charakteristik in Marx’ Analyse des Kapitalismus ist der sozialökonomische Zwang, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Damit sind in das Proletariat nicht nur die industriellen Handarbeiter eingeschlossen, sondern auch alle unproduktiven Lohnarbeiter, die Objekt der gleichen fundamentalen Zwänge sind: Nichteigentum an Produktionsmitteln; Fehlen des direkten Zugangs zu der Produktion von Lebensmitteln; ungenügender Geldbesitz, um die Mittel des Lebensunterhalts ohne den mehr oder weniger ständigen Verkauf der Arbeitskraft kaufen zu können.“
Mandel hebt ausdrücklich das Wachstum der unproduktiven Arbeit als bedeutenden Faktor der kapitalistischen Entwicklung und des quantitativen Wachstums der Arbeiter*innenklasse hervor. Abgegrenzt hiervon sind jene formal lohnabhängigen Schichten, deren Einkommensniveau es ihnen gestattet, Kapital zu akkumulieren – vor allem Angehörige des gehobenen Managements, aber auch höhere Staatsbedienstete. Mandel kommt hier zu einem Klassenbegriff der ziemlich genau dem entspricht was Michael Mauke unter Rückgriff auf Marx als die „allgemeine Lohnarbeiterklasse“ bezeichnet. Dieser sachliche an der Kritik der politischen Ökonomie angedockte Begriff ist m. E. geeignet, Verwendung zu finden in bewusster Abgrenzung zu einem vor allem von stalinistischen und poststalinistischen Strömungen historisch und bis heute geprägten Begriff von „Arbeiterklasse“. Zumal dieser nicht nur eine kategoriale oder soziologische Tatsache bezeichnen soll, sondern hochgradig emphatisch-identitär aufgeladen ist und eigentlich eher eine kulturell-politisch imaginäre Einheit meint, das Salz der Erde, diejenigen mit der historischen Mission, selbstredend unter Führung der (jeweils eigenen) kommunistischen Partei.
Nun hat die stürmische Entwicklung der Produktivität wie auch die Ausweitung und Umstrukturierung des Staates und der diversen Dienstleistungs- und Reproduktionsformen der Klasse und der Produktionsverhältnisse dafür gesorgt, dass in der Tat ein erheblicher Teil der Lohnarbeiter*innenklasse nicht mehr unmittelbar an der Mehrwerterzeugung beteiligt ist, dafür aber ist dieser Teil der Arbeiterklasse daran beteiligt, die Reproduktion der Ware Arbeitskraft zu gewährleisten, namentlich im Erziehungs-, Bildungs- und Sozialbereich sowie in den Gesundheitsberufen. Und selbstverständlich gehören, allen Illusionen der Betroffenen zum Trotz, auch diese Gruppen, wie Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, zwar nicht zum unmittelbar mehrwerterzeugenden Kern der Lohnarbeiter*innenklasse, aber durchaus zur Lohnarbeiter*innenklasse als solcher.
Die Bedingungen, unter denen sie an der Reproduktion der Ware Arbeitskraft arbeiten, unterscheiden sich sicherlich von Land zu Land. Anders als in Deutschland sind etwa die Lehrer*innen in den meisten Ländern weder verbeamtet noch besonders gut bezahlt und stellen in den Arbeiter*innenbewegungen dort häufig einen recht militanten und organisierten Teil der Klassenavantgarde dar. Dass dies in Deutschland (zurzeit noch) überwiegend anders ist, hat mit einer spezifischen Geschichte von nachholender kapitalistischer Entwicklung, Obrigkeitsstaat und dem Bedürfnis des Staates nach einem Heer loyaler Staatsdiener zu tun – einem Modell, das auch in Deutschland seit den 1970er Jahren im Niedergang ist und mittlerweile nur noch in Restbeständen existiert.
Wenn Bock/Goes neben der Tatsache der nur mittelbaren Beteiligung an der Produktion von Mehrwert vor allem die Beschäftigung durch den Staat als zentrales Kriterium für die Nichtzugehörigkeit zur Arbeiter*innenklasse festhalten, übersehen sie zwei wichtige Aspekte: Zum einen ist da die Bedeutung des (in Deutschland immer noch überwiegend der öffentlichen Hand unterliegenden) Gesundheits- und Bildungssektors für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft zu nennen. Das Spektrum reicht von Erzieher*innen und Lehrer*innen, deren Arbeit vor allem darin besteht, diese besondere Ware überhaupt erst heranzubilden, mit sozialen Kompetenzen und fachlichen Fähigkeiten und Qualifikationen auszustatten, die sie für das Kapital verwertbar machen (wobei die Tatsache, dass im bundesweiten Schnitt heute weit über 40 Prozent der Schüler*innen ein Gymnasium besuchen, vor allem ein Ausdruck der enormen Produktivitätssteigerungen durch u. a. Verwissenschaftlichung der Produktion ist).
Dies Spektrum umfasst ferner das Krankenpflgepersonal und das reguläre ärztliche Personal in den Krankenhäusern, die für die gesundheitliche Wiederherstellung der Arbeitskraft zuständig sind. Und es reicht bis hin zu Sozialarbeiter*innen, deren Aufgabe um die soziale und psychologische Einhegung der aus dem teilweise oder ganz, temporär oder dauerhaft, aus dem Verwertungsprozess für das Kapital herausgefallenen Lohnarbeiter*innen kreist. Deren Tätigkeitsfeld zielt zum Teil auf die Wiedereingliederung der Betroffenen in den Arbeitsprozess ab und teilweise auf die Verminderung der sozialen Folgekosten für Staat und Kapital. All diese Beschäftigten sind – mit höchst unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, Qualifikationsprofilen und Arbeitsbedingungen – als unproduktive Arbeiter*innen anzusehen, deren Kosten für Arbeitsmittel, Löhne und benötigte Infrastruktur über Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträge in die Gesamtrechnung des Werts der Ware Arbeitskraft eingehen. In Teilen ist es dem Kapital gelungen – im Rahmen der Entwicklung des bürgerlichen Staates –, diese „Faux Frais“ über den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten zu vergesellschaften und damit indirekt den Lohnabhängigen selbst aufzubürden. Als Lohnnebenkosten, Steuern und Ausbildungskosten betreffen sie allerdings zu anderen Teilen auch relativ direkt die Profiraten der Unternehmen.
Freerk Huisken versuchte in seiner Studie „Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie“ u.a. die Rolle von Lehrer*innen genauer nach den Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie zu untersuchen. Zur grundsätzlichen Bestimmung schreibt er:
„Der Wert der Ware Arbeitskraft wird – dies wurde bereits gezeigt – nicht allein bestimmt durch das zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Quantum Lebensmittel, sondern zugleich durch die zur Erziehung und Ausbildung notwendigen Bildungskosten. (…) Bildungskosten gehen in den Wert der Ware Arbeitskraft ein und bestimmen die Größe ihres Tauschwerts mit.“
Als Lohnteile stellen demnach die Bildungskosten Abzüge von der potentiellen Konsumtionskraft dar. Als vorzuschießendes variables Kapital schmälern sie den Akkumulationsfonds des Kapitals. Verzichtbar sind sie für das Kapital jedoch noch lange nicht, auch wenn, gerade in Krisenperioden, immer wieder versucht wird, diese Kosten zu verringern und wenn dabei auch langfristige Folgekosten eines Zerfalls des Bildungssystems in Kauf genommen werden.
Zum anderen ignorieren Bock/Goes die bereits von ihrem Stichwortgeber Poulantzas betonte Rolle des Staates als Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse – eine Formulierung, die von den sich auf Poulantzas beziehenden Regulationstheoretiker*innen aufgegriffen wurde. Sie beinhaltet letztlich, dass der bürgerliche Staat eben nicht nur einfach ein Herrschaftsinstrument der ausbeutenden Klasse ist, sondern eine umkämpfte Sphäre, in der sich wesentliche gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Regulationsweise des Kapitalismus abspielen und eben auch widerspiegeln. Daraus erfolgt aber auch: Es gibt nicht nur Klassenkämpfe innerhalb der Sphäre des Staates, sondern es existiert im Rahmen des Funktionswandels des bürgerlichen Staates der Gegenwart zum „nationalen Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch) kaum noch eine Ebene von Klassenauseinandersetzungen, die nicht in irgendeiner Weise direkt oder indirekt die Sphäre des Staates berühren. Und selbstverständlich sind damit Staatsbedienstete (ob Lehrer*innen, Krankenpflegepersonal, Müllwerker*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Verwaltungsbedienstete) als unproduktive Arbeiter*innen für den ideellen Gesamtkapitalisten Akteure in Klassen kämpfen.
Ähnlich sieht das u.a. auch Chris Harman, der darauf verweist, dass die Ausdehnung des Bildungssystems historisch mit dem Anstieg der Arbeitsproduktivität einhergeht, was nach seiner Lesart neben einer spürbaren Arbeitsverdichtung vor allem der verbesserten Ausbildung der Arbeitskräfte geschuldet ist. Die kapitalistische Klasse könne ohne wachsenden Bildungssektor nicht sicherstellen, dass ausreichend flexible und anpassungsfähige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Insgesamt wachse die Produktivität der Arbeiter*innen, die unmittelbar Wert produzieren, rasch und habe den Anteil der produktiven Arbeiter*innen an der Gesamtarbeiterklasse der hochindustrialisierten Länder stetig verringert.
Aber dieses Produktivitätswachstum hänge zum Teil von einer wachsenden Anzahl von Arbeiter*innen ab, deren Arbeit die Produktivität jener warenproduzierenden Arbeiter*innen erhöht. Waren in Deutschland 1991 noch 12 Prozent der Arbeiter*innen im Bildungs- und Gesundheitssektor beschäftigt, waren es 1999 bereits 15 Prozent. Auf der anderen Seite versucht das Kapital, die Bildungs- und Gesundheitskosten unter dem Druck von Konkurrenz und Standortwettbewerb soweit wie möglich zu verringern. Deswegen werden diese Beschäftigten immer stärker in Arbeitsbedingungen gezwängt, die man aus der Industrie oder standardisierter Büroarbeit kenne: Ressourcenverknappung, rigide Arbeitszeitmessung, Ergebnisorientierung (im deutschen Schulsektor ausgedrückt durch den Paradigmenwechsel von der Input- zur Outputsteuerung), verstärkte Leistungskontrollen und Evaluierungen. Zusammenfassend schreibt Harman:
„Tatsächlich gibt es zwei zusammenhängende Entwicklungen in allen entwickelten Volkswirtschaften und in vielen ‘Entwicklungsländern’: Die herkömmliche gewerbliche Arbeiterklasse unterliegt einem immer stärkeren Druck in dem Maße, wie das Kapital versucht, ihre Arbeitskraft direkt auszubeuten, um mehr Profi aus ihr zu schlagen. Gleichzeitig unterliegt die neue ‘nicht warenproduzierende’ Arbeiterklasse im ‘Dienstleistungsbereich’ der Proletarisierung in dem Maße, wie das Kapital bemüht ist, die Kosten einer wachsenden Masse von ‘mittelbarer’ Arbeit zu senken.“
Tatsächlich gibt es auch für Harman eine „neue Mittelklasse“, da auch Schulen, Krankenhäuser und Universitäten hierarchisch gegliedert sind. Zu ihr rechnet er das Leitungspersonal dieser Institutionen, was er allerdings etwas schwammig zum einen mit den Kontroll- und Disziplinarfunktionen, über die sie verfügt, zum anderen mit den Gehältern dieser Leitungspersonen begründet. Der Großteil der Beschäftigten dieser Institutionen jedoch wird von ihm als überwiegend unproduktive Arbeiter*innen zur Weltarbeiterklasse gezählt.
Zweifellos bringt die Situation von Lohnabhängigen in der Sphäre des Staates allerlei Widersprüche mit sich, besonders, wenn sie den ideologischen Staatsapparaten zugehörig sind. Lehrer*innen etwa sind in Deutschland einerseits lohnabhängig, teilweise heute auch nicht mehr verbeamtet, von Dequalifizierung, in Teilen auch von Prekarisierung betroffen; andererseits sind sie Teil einer anachronistischen aus dem Spätfeudalismus übriggebliebenen Dienst- und Verpflichtungsstruktur. Und sie tragen nicht nur zur Reproduktion der Arbeiter*innenklasse bei, entsprechend den Qualifikationsanforderungen des Kapitals, sondern auch zur Verinnerlichung der ökonomischen Zwänge des Kapitalismus.
Dennoch sind sie nicht ohne Weiteres aus der Lohnarbeiter*innenklasse herauszurechnen, ebenso wenig wie Sozialarbeiter*innen (Reparaturwerkstatt des Systems), Erzieher*innen, städtische Reinigungskräfte und Müllwerker etc. Zumal sie Teil eines Modernisierungsprozesses sind, in dem der nationale Wettbewerbsstaat längst immer mehr Bereiche der kapitalistischen Verwertung und Konkurrenz geöffnet hat (Post, Telekomunikation, Eisen bahn) und auch die Teilprivatisierung des Schulsystems deutlich voranschreitet. So sind etwa im rot-rot regierten Brandenburg inzwischen ca. 25 % aller Schulen, vor allem in strukturschwachen Gebieten, Privatschulen. Und damit sind nicht etwa großbürgerliche Edelinternate gemeint, sondern Schulen, die dort in staatlichem Auftrag, aber zu privatwirtschaftlichen Konditionen die Unterrichtsversorgung sicherstellen, wo sich der Staat in der Fläche längst zurückgezogen hat. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Die Beschäftigten in einem privatisierten Krankenhaus, etwa des Asklepius-Konzerns, mit deren Arbeit Mehrwert erzeugt wird und die der direkten Marktkonkurrenz unterworfen sind, sind in keiner anderen Weise lohnabhängig als die Beschäftigten eines öffentlich-rechtlichen Kreiskrankenhauses und auch klassenmäßig nicht anders zu fassen. Alles andere wäre absurd.
In Wirklichkeit ist es doch so, dass es von relativ kurzfristigen Konjunkturen in der Entwicklung des Bildungssektors abhängt, ob Lehrer*innen heute in Deutschland verbeamtet oder als Angestellte beschäftigt werden, ob letztere unbefristete Verträge haben oder befristet und prekär beschäftigt sind. Vor wenigen Jahren noch gab es die Tendenz in immer mehr Bundesländern, den Beamtenstatus von Lehrkräften infrage zu stellen bzw. diese einfach gar nicht mehr zu verbeamten, vor allem in Ostdeutschland. Die überraschende Erkenntnis, dass Migration und höhere Geburtenraten zur Folge haben, dass in den nächsten Jahren über eine Million Schüler*innen mehr als geplant das deutsche Bildungssystem durchlaufen werden und, wie eine neue Studie ergab, und dass demnächst allein etwa 35 000 Grundschullehrer*innen fehlen, hat diesen Trend anscheinend erstmal gestoppt. Sie führt aber zu zwei gegenläufigen Tendenzen: Einerseits gibt es einen verstärkten Wettbewerb der Bundesländer um die fertig ausgebildeten, qualifizierten und examinierten Lehrkräfte, der dazu führt, dass Arbeitskräfte z.B. durch das hessische Kultusministerium u.a. mit der Aussicht auf Verbeamtung (und damit auf einen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz) angelockt werden, wobei dann Bundesländer, die nicht verbeamten (z.B. Sachsen oder Berlin), das Nachsehen haben. Andererseits werden jedoch immer mehr Quereinsteiger ohne Staatsexamen über Schmalspurfortbildungen (oder teilweise gar völlig unvorbereitet) an die Schulen geworfen; sie sind überwiegend mit befristeten Angestelltenverträgen beschäftigt und haben aufgrund ihrer unzureichenden formalen Qualifikation keinerlei Chance, jemals verbeamtet zu werden. Diese Tendenz zur Dequalifizierung und Entrechtung der Arbeitskräfte im Schulsystem (hier kommt inzwischen das didaktisch weit gehend durchgesetzte Dogma der Kompetenzorientierung zum Ausdruck) könnte sich als die langfristigere und durchgreifendere erweisen. In jedem Fall erhöht die zunehmende Spaltung der Kollegien den Druck, irgendwann den Beamtenstatus für Lehrkräfte ganz abzuschaffen.
Vor diesem Hintergrund müssen sich Bock/Goes (die sich in ihrem Erwiderungspapier zu den Kritiken an ihren Thesen besonders auf die verbeamteten Lehrer*innen als lohnabhängige Kleinbürger*innen kapriziert haben) fragen lassen: Worin soll eigentlich – hinsichtlich des Arbeitsinhaltes und ihrer Funktion für das Kapital und den ideellen Gesamtkapitalisten – der Unterschied zwischen einer verbeamteten und einer angestellten Lehrkraft, einer prekären Honorarlehrkraft des Staates und einer solchen bei einem privaten Bildungsträger bestehen? In den meisten Fällen werden sie eingestehen müssen, dass es schlicht keinen gibt. Die Frage, ob man in theoretischer Hinsicht von Ausbeutung sprechen kann, wenn es um den Arbeitsprozess unproduktiver Arbeiter*innen geht – und solche sind Lehrkräfte zweifellos –, ist unter Marxist*innen grundsätzlich umstritten, zumal die betreffenden Lohnarbeiter*innen nur mittelbar an der Mehrwertproduktion beteiligt sind. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen: Die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems in Deutschland ist ein Teil des Versuchs, die „Faux Frais“ für das Kapital soweit wie möglich herunterzufahren – auch im Bestreben, den tendenziellen Fall der Profirate im Spätkapitalismus zu verlangsamen und die Ausbeutungsrate zu erhöhen. Diese „Faux Frais“ sind aber im Kern unvermeidlich, weil die damit bezahlten Funktionen bei der Reproduktion der Ware Arbeitskraft unverzichtbar sind.
Die Konsequenzen, die dieser Ressourcenmangel für die Beschäftigten des Bildungssektors hat (zerfallende Schulgebäude, übergroße Klassen, unbrauchbare Arbeitsmittel, entgrenzte Arbeitszeiten) ähneln sehr stark denen einer Krankenschwester im Nachtdienst, die alleine 30 Patienten zu versorgen hat, oder vergleichbaren Symptomen des Pflegenotstandes. Dass die Lehrkraft wie die Krankenschwester ihre Arbeitssituation durchaus als Ausbeutung empfinden kann und nicht selten auch empfindet, auch wenn beide häufig noch für staatliche Träger arbeiten, ist, keine völlig subjektiv aus der Luft gegriffene Gefühlsaufwallung, sondern hat einen realen Kern, der in eben diesem Prozess wurzelt. Wir dürfen nur die kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse nicht voneinander getrennt betrachten, sondern als sich wechselseitig bedingende Teile eines Gesamtprozesses.
Die Zuschreibung „kleinbürgerlich“ ist in marxistischen Diskursen nicht als moralische, sondern als klassenanalytische Kategorie gemeint. Allerdings wurde damit in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung und ihrer Theoriebildung ziemlich viel Schindluder getrieben. Gerade in stalinistischen und poststalinistischen Denktraditionen findet sich in aller Regel die theoretische Konstruktion eines emphatisch-identitär aufgeladenen Begriff von „Arbeiterklasse“. Diese Arbeiterklasse hat durch ihre (nicht selten auf die materielle Produktion fokussierte) Ausbeutung durch die kapitalistische Mehrwertproduktion eine Schlüsselrolle bei der möglichen revolutionären Überwindung des Kapitalismus inne und hat eine historische Mission zu erfüllen. Und ihr wird – resultierend aus den spezifischen Ausbeutungserfahrungen als Klasse – idealtypisch eine besondere Form von Klassenbewusst sein quasi-naturgesetzlich zugeschrieben. Als organisierte Avantgarde der bewusstesten Teile dieser „Arbeiterklasse“ rückt sodann die Kommunistische Partei ins Zentrum, deren führende Rolle im revolutionären Prozess als Voraussetzung der gesellschaftlichen Umwälzung und des sozialistischen Aufbaus angesehen wird.
Abgegrenzt hiervon findet sich in aller Regel ein Kleinbürgertum, das sich in seinen verschiedenen Segmenten aus aufgestiegenen Elementen der Arbeiterklasse (vor allem der Arbeiteraristokratie) wie auch aus im Niedergang begriffenen Elementen der Bourgeoisie zusammensetzt. Bei diesem Kleinbürgertum handelt es sich um ein Konglomerat von Zwischenschichten. Diese Zwischenschichten sind – je nach politischer Konjunktur und strategischer Ausrichtung – von der „Arbeiterklasse“ und ihrer imaginären politischen Führung in Gestalt der jeweiligen kommunistischen Partei entweder im Rahmen eines historischen Fortschrittsblocks zu gewinnen oder sie sind – sofern ihr schädlicher ideologischer Einfluss in der Partei deren politische Klarheit zu trüben droht – aus dem Kaderkern der kommunistischen Partei zu entfernen. Denn so wie die „Arbeiterklasse“ – gespeist aus der Verbindung von elementarem Klassenbewusstsein und wissenschaftlichem Sozialismus – ein proletarisches Bewusstsein entwickelt, ist in dieser Lesart das Bewusstsein des Kleinbürgertums naturgemäß schwankend, defätistisch, von Illusionen und falschen Aufstiegserwartungen geprägt.
Diese idealtypischen Annahmen einer bestimmten, sich aus ihrer vermeintlichen Klassenposition ergebenden Bewusstseinsentwicklung (basierend auf einem produktivistisch verengten, holzschnittartigen und exklusiven Klassenbegriff sind – gemessen an der Klassenwirklichkeit und den ernsthafteren marxistischen Versuchen ihrer theoretisch-politischen Erfassung – nichts weiter als Esoterik. Insbesondere gilt dies für die MLPD, die die Lehre vom Kampf zwischen der proletarischen und der kleinbürgerlichen Denkweise zu einem der Grundpfeiler ihres organisationspolitischen Katechismus gemacht hat. Aber auch die DKP ist – wenn auch meist weniger explizit – traditionell in der einen oder anderen Form von Versatzstücken dieser Sektenideologie erfasst, und das umso mehr, seit eine neostalinistische Fraktion in dieser Partei das Ruder übernommen hat.
Organisationspolitisch hat dies gravierende Konsequenzen. Denn die Lehre von der Klassengrenze zwischen der „Arbeiterklasse“ und dem (neuen) Kleinbürgertum und den daraus resultierenden idealtypischen Zuschreibungen von Klassenbewusstsein war schon immer ein beliebtes Legitimationsinstrument für Führungsansprüche vermeintlich „proletarischer“ und besonders prinzipienfester Fraktionen und Gruppen innerhalb der kommunistischen Partei; und sie war zugleich eine beliebtes Legitimationsinstrument für Säuberungen, Degradierungen und Ausschlusswellen von vermeintlich „kleinbürgerlich“ schwankenden Elementen. Noch relativ verklausuliert deutet sich eine solche Stoßrichtung z.B. in einem Papier der neuen DKP-Mehrheit an, in dem zuvor ein „Eindringen kleinbürgerlichen Einflusses in unsere Partei“ konstatiert wurde:
LiteraturAigner, Sepp: DKP und Kleinbürgertum. Online-Quelle, URL: https://theoriepraxis.wordpress.com/2011/11/02/dkp-und-kleinburgertum/ Altvater, Elmar u. Freerk Huisken: Produktive und unproduktive Arbeit als Kampfbegriff, als Kategorien zur Analyse der Klassenverhältnisse und der Reproduktionsbedingungen des Kapitals; in: Sozialistische Politik, 1970, S. 47-92 Bock, Violetta u. Thomas Goes: Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte; Köln 2017 Bock, Violetta u. Thomas Goes: Links und popular. Eine Erwiderung der Autor*innen auf die Besprechung ihres Buches „Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte; in: die internationale Nr. 1/2018 (Januar/Februar 2018). Online-Quelle, URL: https://www.inprekorr.de/554-linkspop.htm Buchenberg, Wal: Die Klassentheorie von Karl Marx; Online-Quelle, URL: http://theoriepraxislokal.org/kdpoe/buchen-b.php Harman, Chris: Workers of the World. Die Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert; Frankfurt/M 2003 Huisken: Freerk: Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie; München 1972 Koch, Max: Vom Strukturwandel einer Klassengesellschaft. Theoretische Diskussion und empirische Analyse; Münster 1998 Mandel, Ernest: Kontroversen um „Das Kapital“; Berlin 1991 Marx, Karl: Das Kapital; MEW Bd. 25 Mauke, Michael: Die Klassentheorie von Marx und Engels; Frankfurt/M 1973 Poulantzas, Nicos: Klassen im Kapitalismus – heute; Westberlin 1975 Rousset, Pierre: Die Linke zum Sieg führen auf den Trümmern der Parteien? Theorie und Praxis des Linkspopulismus; Sozialistische Zeitung Nr. 7/2017, Online-Quelle, URL: http://www.sozonline.de/2017/07/die-linke-zum-sieg-fuehren-auf-den-truemmern-der-parteien/ Rousset, Pierre: Mélenchon, France Insoumise, Populismus. Erschienen in: die internationale Nr. 5/2017 (September/Oktober 2017), S. 5–12; Online-Quelle, URL: https://www.inprekorr.de/550-melen.htm |
„Für die Wiedergewinnung einer eigenständigen politischen Rolle der Arbeiterklasse und die Ausprägung eines klaren Klassenbewusstseins ist der kleinbürgerliche Einfluss ein erhebliches Hindernis. Eine ihrer selbst bewusste Arbeiterklasse kann es nicht geben ohne die Zurückdrängung dieses Einflusses.“
In den von Bock/Goes vorgetragenen klassenpolitischen Thesen findet sich im Kern – wenn auch verschwommen formuliert – genau dieser holzschnittartige, produktivistisch verengte und exklusive Klassenbegriff Neben dem (inzwischen recht marginalen) traditionellen Kleinbürgertum wird in Abgrenzung zur Arbeiterklasse ein „lohnabhängiges Kleinbürgertum“ konstruiert, das zum einen aus Staatsbediensteten (also demnach Lehrer*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Beschäftigten kommunaler Unternehmen etc.) und zum anderen aus dem unteren Management in Betrieben sowie aus Meistern, Technikern und Ingenieuren besteht. Wozu dient diese klassenpolitische Abgrenzung? Zur differenzierteren Analyse? Wohl kaum, das dürfte aus der simplen Aufzählung der verschiedenen Berufsgruppen im öffentlichen Dienst hervorgehen. Näher kommen wir der Sache, wenn wir versuchen, die spärlichen und äußerst vagen Andeutungen hinsichtlich der bewusstseinsmäßigen Konsequenzen zu interpretieren. Denn diese Andeutungen implizieren letztlich tatsächlich eine entsprechende Zuschreibung von Bewusstseinsformen. So heißt es in ihrem Erwiderungspapier großzügig:
„Verbeamtete Lehrer*innen etwa werden nicht ausgebeutet, sie stehen dem Kapital auch nicht antagonistisch gegenüber – können aber im Rahmen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ein kapitalismuskritisches oder gar sozialistisches und damit antikapitalistisches Bewusstsein entwickeln. Das beruht aber nicht auf einer Ausbeutungserfahrung und speist sich nicht aus Gegenwehr gegen die Erscheinungsformen dieser Ausbeutung.“
Von den – bereits benannten – Ambivalenzen des Ausbeutungsbegriff abgesehen, kann diese Passage entweder bedeuten, dass es bestimmte Bedingungen gibt, unter denen sogar lohnabhängige Kleinbürger ein proletarisches Klassenbewusstsein entwickeln können und damit ihre gegebene ideologische Beherrschtheit durch die Ideologie der Bourgeoisie überwinden. Oder sie bedeutet schlicht gar nichts, weil z. B. die – durchaus relativ privilegierten – Beschäftigten im Facharbeiterkern des VW-Konzerns zwar im engeren Sinne ausgebeutet werden und dem entsprechend in der Theorie dem Kapital antagonistisch gegenüberstehen, in ihrer übergroßen Mehrheit jedoch in der Praxis meist kein kapitalismuskritisches oder gar sozialistisches Bewusstsein aufweisen.
Die reale Entwicklung von Klassenbewusstsein bei unterschiedlichen Beschäftigtengruppen ist ein wesentlich komplexerer Prozess und die unterschiedlichen Reaktionsmuster verlaufen empirisch nachweisbar nicht entlang einer Grenze zwischen manueller/nichtmanueller oder produktiver/unproduktiver Arbeit. Sowohl die Sozialgeschichte rebellischer Klassenbewegungen auf verschiedenen Kontinenten als auch diverse vorliegende empirische Untersuchungen zeigen vielmehr, dass in bestimmten historischen Situationen gerade bestimmte vermeintlich oder real privilegierte Beschäftigtengruppen unproduktiver Arbeiter*innen eine hervorgehobene Rolle innerhalb der Arbeiter*innen-Avantgarde spielten. Welche Muster sich hier herauslesen lassen, wäre eine spannende Frage, die aber von der Annahme einer quasi-natürlichen Bewusstseinsentwicklung bei mehrwertproduzierenden Arbeiter*innen wie auch vermeintlich natürlicher Bewusstseinsschranken bei den angeblichen lohnabhängigen Kleinbürger*innen verstellt und ausgeblendet wird.
Die Zusammensetzung der Lohnarbeiter*innenklasse verändert sich aufgrund von Wandlungen der Produktionsstrukturen des Kapitals, im Rahmen von Qualifizierungs- und Dequalifizierungsprozessen, technologischen Veränderungen usw. Die innere Struktur der Lohnarbeiterklasse gleicht einem Flickenteppich. Das Gesamtinteresse der Lohnarbeiterklasse an der Aufhebung des Kapitalverhältnisses und der Überwindung der Warenproduktion (und damit nicht nur Sprengung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation als solcher, sondern speziell auch der Überwindung ihres eigenen prekären Status als Lohnarbeiter*innenklasse) wird in der Regel überlagert durch die Widersprüche innerhalb der eigenen Klasse – durch das Konkurrenzverhältnis, in das die einzelnen Lohnarbeiter*innen zueinander gesetzt sind, und durch die verschiedenen Handlungsformen der Klassensegmente. In verschiedenen Phasen der Entwicklung der Arbeiterbewegung spielten die klasseninternen Auseinandersetzungen zwischen qualifizierten Facharbeitern und ungelernten Massenarbeitern ohne nennenswerte gewerkschaftliche Interessenvertretung eine nicht unwichtige Rolle. Denn diese verschiedenen Klassensegmente entwickelten eben unterschiedliche Bewusstseins- und Organisationsformen, sie waren unterschiedlich politisch eingebunden und waren in ihren Kampfformen zeitweilig kaum miteinander vermittelbar. Beispiele hierfür gäbe es viele. An dieser Stelle dürfte es genügen, an den Ford-Streik von 1973 zu erinnern, der als „wilder“ Arbeitskampf in erster Linie von den „ausländischen“ Massenarbeitern geführt wurde und von einer breiten Koalition aus Werkschutz, Staatsapparat und IG-Metall mit Unterstützung durch die Mehrheit der »deutschen« Facharbeiter mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde.
Wer aber vertritt das oben genannte Gesamtinteresse der Lohnarbeiterklasse? Der ideelle Gesamtkapitalist ist der bürgerliche Staat, der als Staat der herrschenden Klasse die sozialen Auseinandersetzungen bis zu einem gewissen Grad regulieren und integrieren kann und den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ihren Ausdruck verleiht. Sein Charakter war historisch auch von der Funktion geprägt, jenes Gesamtinteresse an der Reproduktion der Verwertungsbedingungen des Kapitals auch gegen die Einzelkapitale durchzusetzen. Denn deren despotische und destruktive Exzesse von Überausbeutung und gnadenloser Konkurrenz hätten ansonsten der kapitalistischen Ökonomie innerhalb von weniger als zwei Generationen die Grundlagen entzogen. Aber welche Instanz ist in der Lage, über die teils zersplitterten, teils auch (etwa bei Facharbeitersegmenten, die gegen ihren sozialen Abstieg kämpfen) chauvinistischen und rassistischen Einzelinteressen hinaus – und im Zweifelsfall auch gegen sie – die gemeinsamen Interessen des Proletariats als Klasse zum Ausdruck zu bringen? Wenn man Marx und Engels im Kommunistischen Manifest folgen mag, so ist es die kommunistische Partei – das ist hier kein bloßer Name, sondern eine inhaltliche Kennzeichnung, deshalb klein geschrieben –, die das elementare Klassenbewusstsein aufnimmt und aufhebt, die auch den wissenschaftlichen Kommunismus in seiner reinen Gestalt als Theorie aufhebt und aus der Verschmelzung von beidem einen revolutionären Ansatz von Theorie und Praxis schafft. Aber dieser Ansatz kann niemals widerspruchslos und konfliktfrei sein, weil Widersprüche nun einmal nicht miteinander versöhnbar, sondern allenfalls dialektisch aufhebbar sind. Der Idealtypus vom Proletariat als einheitlich kämpfender Klasse, der im Vulgärmarxismus für bare Münze genommen und kurzerhand zum höchst imaginären „revolutionären Subjekt“ als quasi überhistorischem Träger des gesellschaftlichen Fortschritts erklärt wurde, übersetzt sich nicht eins zu eins in die Realität der Klassenkämpfe.
Das Proletariat als Klasse hat nie als solches einheitlich gekämpft und der Prozess der politischen Konstituierung des Proletariats als Klasse umfasste auch nie mehr als eine Minderheit der Lohnarbeiter*innen. Wie auch mit der kommunistischen Partei bei Marx nicht eine historisch konkrete, auf die „wissenschaftliche Weltanschauung“ eingeschworene homogene Organisation – weder von Arbeiterfunktionären noch von Berufsrevolutionären – gemeint ist, sondern ein imaginäres „Kraftzentrum“ der Klasse, das, wenn überhaupt, in sehr unterschiedlichen historisch-konkreten Formen als reale Organisationsstruktur entsteht und nicht daran erkennbar ist, dass es eine bestimmte politische Form aufweist oder bestimmte Slogans verwendet. Die erste Organisation, die in diesem Sinne kommunistische Partei war, war der Bund der Kommunisten, in dem neben der Strömung um Marx und Engels noch recht viele Überbleibsel seiner Vorläuferorganisation, des Bundes der Gerechten fortexistierten. In ihm tummelten sich auch „wahre“ Sozialisten wie Moses Heß, utopische und „Arbeiterkommunisten“. Davon, dass der wissenschaftliche Sozialismus die einheitliche Grundlage der Organisation gewesen sei, wie etwa viele DDR-Historiker behaupteten, kann kaum die Rede sein. Eine ausschließlich auf den Marx’schen und Engels’schen Theorien basierende Organisation wäre zu dieser Zeit nur als kleiner Intellektuellenzirkel mit Einfluss auf bestimmte Brüsseler und Berliner Salons, aber kaum mit nennenswerter Resonanz innerhalb der eigentlichen elementaren Arbeiterbewegung denkbar gewesen. Was es aber gab, waren bestimmte Übereinkünfte über die Organisationsform, eine von Marx und Engels maßgeblich geprägte Zielbestimmung und Aufgabenstellung des Bundes der Kommunisten.
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Eines unserer wichtigsten Ziele in der gegenwärtigen Situation ist es, Strukturen zu entwickeln, in denen es, auch aus der Defensive heraus, möglich ist, einen Beitrag zum ideologischen Klassenkampf zu leisten. Das bedeutet auch, uns auf den gegenwärtigen Stand kapitalistischer Vergesellschaftung zu stellen, uns als Bestandteil und Objekt der Proletarisierungstendenzen zu begreifen, alte, unbrauchbare und entleerte Formen proletarischer Bewusstseinsäußerungen abzustreifen und nach neuen, zeitgemäßen Formen zu suchen, in denen sich elementares Klassenbewusstsein artikulieren kann. Und selbstverständlich heißt dies auch, auf der Ebene, die uns zur Zeit ermöglicht ist, sofern wir uns als Kommunist*innen im Marx’schen Sinne verstehen, theoretisch wie auch in verschiedenen Praxis formen das Gesamtinteresse des Proletariats zu formulieren und damit einen Beitrag zur Überwindung der Zersplitterung, der Ohnmacht und der Orientierungslosigkeit innerhalb der Lohnarbeiter*innenklasse zu leisten. Dies kann wohl als ein wesentlicher Bestandteil dessen verstanden werden, was Marx als revolutionären Parteibildungsprozess des Proletariats – fern jeglicher Satzungsdiskussion, konkreten Parteiform oder des bürgerlichen Parteienstatus – verstand.
In diesem Zusammenhang kann man innerhalb der fragmentierten und fraktionierten Lohnarbeiter*innenklasse zwar durchaus einen mehr wertproduzierenden Kern der Klasse ausmachen und diesem eine bestimmte strategische Relevanz zuweisen. Das entbindet die Kommunist*innen allerdings nicht von der Aufgabe, eine verbindende – Solidarität innerhalb der Gesamtarbeiter*innenklasse schaffende, die Fraktionierungen und Konkurrenzverhältnisse, kulturellen Distinktionen und identitären Abgrenzungen überwindende – Klassenpolitik zu entwickeln. Bock/Goes leisten mit ihren klassenpolitischen Annahmen und der darauf aufgebauten „linkspopulistischen“ Konzeption dieser Aufgabe – zumindest in theoretischer Hinsicht – einen Bärendienst. Sie sitzen einem halbesoterischen poststalinistischen Klassenbegriff auf, der die Komplexität der sozialen und politischen Beziehungen sowohl innerhalb der Lohnarbeiter*innenklasse als auch gegenüber Staat und Kapital radikal vereinfacht. Ein solcher Klassenbegriff schafft Einfallstore sowohl für eine „arbeiteristische“ Verkürzung als auch für eine linkspopulistisch bemäntelte Wiederauflage gescheiterter und politisch im Sumpf des Reformismus und der Negierung von Klasseninteressen gelandeter Volksfrontstrategien.
Als strategisch bedeutendste Aufgabe revolutionärer Marxist*innen verstehe ich es immer noch, die Einheit der Lohnarbeiter*innenklasse zu schaffen, also die verschiedenen fragmentierten, in Konkurrenz zueinander gesetzten Teile der Klasse über soziale Erfahrungen in Kämpfen, über politische Positionsbildungen und über die vielen kleinen Schritte, die zur Bildung von Klassenbewusstsein führen können, miteinander zu verbinden. Das ist etwas völlig anderes, als die Formierung eines „breiten Bündnisses“ von „Volksklassen“. Und dahinter steht ein anderes Verständnis von Klassen und Klassenpolitik als der von Bock/Goes entwickelte Ansatz. Einige praktische Aspekte in den letzten Kapiteln kann ich durchaus teilen, aber durch den ihnen zugrundeliegenden strategischen und klassenpolitischen Ansatz werden diese m. E. leider – zumindest in diesem Kontext – weitgehend entwertet.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2018 (März/April 2018). | Startseite | Impressum | Datenschutz