Debatte

Von schwarzen Löchern und weißen Flecken

Die Vorstellungen der Linken von einer gesellschaftlichen Alternative sind noch zu vage, um wirkmächtig zu werden.

Paul Michel

Die Debatte um die Äußerungen von Kevin Kühnert bieten der Linken die Gelegenheit, ihrerseits wieder offensiv Themen aufzuwerfen, die seit dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ im Rahmen von TINA („There is no Alternative“) unter Quarantäne gestellt worden waren. Allerdings müssen wir selbstkritisch einräumen, dass es noch viele weiße Flecken auf unserer politischen Landkarte gibt. Wir bleiben (noch) jene differenzierten, fundierten Antworten schuldig, die uns mehr Glaubwürdigkeit in breiteren Teilen der Bevölkerung verschaffen könnten.


Kein fertiges Kochrezept


Bekanntlich haben wir für die zu schaffende gesellschaftliche Alternative weder ein fertiges Kochbuch, das uns für jedes Problem die Antwort liefert, noch ein „Musterland des Sozialismus“, das wir einfach kopieren können. Allerdings gibt es eine Vielzahl von zum Teil in Vergessenheit geratenen Erfahrungen, an die wir anknüpfen können. Diese Erfahrungen sind aber weitgehend aus unserem Bewusstsein verschwunden. Es gilt, sie wieder auszugraben und für unsere politische Arbeit zu nutzen. Zu nennen wäre hier der „rote Sommer der Anarchie“ 1936 in Katalonien, die Arbeiter*innenselbstverwaltung in Jugoslawien in den 1950er Jahren, die portugiesische Revolution von 1974/75 oder die besetzten Fabriken in Argentinien in den 2000ern. Mit diesen Erfahrungen lässt sich belegen, dass Betriebe in Selbstverwaltung sehr gut funktionieren können. Allerdings sind sie – aus unterschiedlichen Gründen – keine Beispiele für gelungene „demokratische Planwirtschaft“ auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Bei beiden Versuchen, der kollektivierten Wirtschaft im Katalonien von 1936 als auch in der jugoslawischen Arbeiter*innenselbstverwaltung, war die Koordination auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eher der große Schwachpunkt.


Glaubwürdigkeitsprobleme mit der Planwirtschaft


Es gab in der Regierungszeit von Gorbatschow eine Debatte zwischen Alec Nove und Ernest Mandel über die Rolle von Plan und Markt im Sozialismus. [1] Im englischsprachigen Raum wurde die Debatte in der bedeutenden Zeitschrift „New Left Review“ geführt. Diese Debatte kann auch heute noch allerlei Erhellendes beitragen zu solchen Einwänden wie dem, dass angesichts der großen Anzahl zu produzierender Güter jeder Versuch der gesellschaftlichen Planung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Fast parallel dazu entwickelte der britische Marxist Pat Devine ein Modell, das er „negotiated coordination“ nennt. [2] Damit ist gemeint, dass bei unterschiedlichen Interessen zwischen verschiedenen Branchen, verschiedenen Regionen, zwischen Produzent*innen und Konsument*innen in der Gesellschaft durch Aushandlung ein Konsens ermittelt wird. Auf diese Weise soll zentrale Koordination bei maximaler Dezentralisierung erreicht werden. Das Modell von Pat Devine wurde einige Jahre später von Alex Callinicos, einer Führungsfigur der britischen SWP, in seinem Buch „An Anticapitalist Manifesto“ aufgegriffen. [3] Beide Bücher wurden nie ins Deutsche übersetzt und spielten dementsprechend in der linken Diskussion in der BRD nie eine Rolle. Sie sind es aber wert, ebenso wie die Beiträge von Mandel in der Debatte mit Alec Nove, dem Dunkel des Vergessens entrissen zu werden. Sie können uns auch heute interessante Denkanstöße für unsere gegenwärtigen Probleme geben.


Einige Lichtblicke


Aus dem anglo-amerikanischen Raum gab es im letzten Jahr einige neue interessante Beiträge zum Thema Planwirtschaft. Die Autoren kommen aus dem Umfeld der Zeitschrift „Jacobin“. Leigh Phillips und Michal Rozworski, zwei kanadische Autoren, haben eine Studie vorgelegt, die sich weniger mit der Aufarbeitung des „realen Sozialismus“ befasst, sondern darauf verweist, dass gerade auch in den großen kapitalistischen Konzernen Planung eine große Rolle spielt. In ihrem Buch The People’s Republic of Wal-Mart kommen sie zu dem Ergebnis, dass ausgerechnet das Beispiel von Walmart beweist, dass Planwirtschaft funktionieren kann. [4]

Der kanadische Marxist Sam Gindin hat in „Jacobin“ einen längeren Artikel mit dem Titel „We need to say What Socialism will look like“ veröffentlicht. [5] In der Einleitung dazu schreibt er: „Sozialist*innen wehren sich oft gegen Einwände hinsichtlich der Machbarkeit der künftigen kapitalistischen Gesellschaft – aber wir müssen den Menschen glaubwürdige Antworten geben.“ Es ist Gindins Anliegen, möglichst konkret darzulegen, wie eine Gesellschaft mit demokratischer Planwirtschaft aussehen könnte. Sein Text behandelt z. B. die Frage, wie Branchenräte ausgestaltet sein könnten, welche verschiedenen Planungsebenen zu berücksichtigen sind, und wirft die Frage auf, ob Sozialismus genauso effizient sein kann wie der Kapitalismus. Natürlich liefert der Text keine abschließenden Antworten. Dennoch ist er es wert, in einer breiteren linken Öffentlichkeit diskutiert zu werden.


Ökologische Krise und Konversion


Die „demokratische Planwirtschaft“ ist beileibe nicht die einzige Schwachstelle der Linken. Wir reden – zu Recht – von Ökosozialismus und meinen damit, dass wir sehr genau darauf achten müssen, welche ökologischen Folgen eine bestimmte Technologie hat. Der Klimawandel führt uns drastisch vor Augen, dass gerade im Produktionsbereich einschneidende Maßnahmen erforderlich sind. Diese Aufgabe erfordert den vollständigen Umbau des Staates und eine vollständige Umwälzung der wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der Gesellschaft.

Nehmen wir das Beispiel der Verkehrspolitik. Es ist klar, dass die durch den Autoverkehr verantworteten CO2-Ausstöße wohl für fast 18 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich sind. Wir brauchen eine Verkehrswende, bei der wir Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagern müssen. Das beinhaltet, dass wir die Produktion von Pkw und Lkw drastisch reduzieren müssen und stattdessen viel mehr Züge, Straßenbahnen, Busse und Fahrräder brauchen. Was ist dafür an Umstrukturierung in der Wirtschaft erforderlich? Was bedeutet es für die bestehenden Autofabriken und die dort beschäftigten Menschen, wenn in Zukunft nur noch ein Fünftel der aktuell die Straßen verstopfenden Pkw benötigt werden? In der ISO haben wir diese Diskussion zumindest aufgenommen. Aber natürlich bleiben unsere Überlegungen noch sehr im Allgemeinen und sind bisher keineswegs so konkret, dass sie „die Massen ergreifen“ könnten.


Es sind nicht nur die Autos und der Strom …


Wenn wir das unwiderrufliche Umkippen des Weltklimas verhindern wollen, brauchen wir aber nicht nur in der Autoindustrie, sondern noch in einer ganzen Reihe weiterer Industriesektoren deren Umstrukturierung, Rückbau oder gar deren komplette Stilllegung. Der US-amerikanische Marxist Richard Smith spricht davon, dass von solchen Umstrukturierungen nicht nur die fossile Industrie, sondern auch alle Sektoren betroffen sind, die fossile Produkte weiterverarbeiten oder bei der Produktion hohe Mengen von CO2 erzeugen. [6] Neben Autos und Lkw wären zum Beispiel Flugzeugindustrie, Schiffbau (Kreuzfahrt- und Containerschiffe), Bauwirtschaft, chemische Industrie, Kunststoffindustrie, Kosmetikindustrie, Düngemittelindustrie und industrielle Landwirtschaft zu nennen. Selbstverständlich muss die Rüstungsindustrie komplett dicht gemacht werden.

Generell steht die Konsumgesellschaft in ihrer aktuell in den Industrieländern existierenden Form auf dem Prüfstand. Es kann nämlich nicht sein, dass wir mit „sauberer“ Energie immer mehr Dinge produzieren, die wir nicht brauchen. Vance Packard hat schon vor 50 Jahren gezeigt, dass die meisten Dinge, die die Konzerne produzieren, nicht der Befriedigung konkreter Bedürfnisse dienen, sondern hergestellt und verkauft werden, weil die Konzerne damit Geld verdienen können. Das geht von Produkten wie Luxusautos, Luxusjachten, Privatjets oder sündhaft teuren Designerklamotten für die Superreichen bis hin zum nicht enden wollenden Strom von Dingen für den Massenverbrauch, wie Kleidung, Kosmetik, Möbel, Autos, Produkte der Unterhaltungsindustrie bis hin zu den „Supersize“ Big Macs mit 1000 Kalorien. Daran hängen Einkaufszentren, Werbeagenturen, die Produzenten für Plastikverpackungen und natürlich der Finanzsektor, der dafür sorgt, dass auch Menschen, die sich wegen ihres geringen Einkommens den ganzen Kram sich eigentlich nicht leisten können, diesen jedoch dank der omnipräsenten Konsumentenkredite auf Pump erwerben und zielstrebig auf die Privatinsolvenz zustreben.


Langlebige Produkte, die reparierbar sind statt ex und hopp


Unsere Konsumgüterindustrie beruht auf der Produktion von Gütern mit möglichst kurzer Lebensdauer. Fernseher, Kühlschränke und Waschmaschinen sind oft so gebaut, dass sie gerade bis zum Ende der Garantiefrist halten. Die Werbung sorgt dafür, dass Moden immer kurzlebiger sind und die Produkte weggeworfen werden, noch bevor sie kaputt gehen können. Der unaufhörliche Drang, stets das neueste Modell mit den neuesten technischen Spielereien zu besitzen, macht Menschen hierzulande kirre und richtet in Ländern wie Kongo ökologische Verwüstungen an und schafft dort menschliches Leid.

      
Mehr dazu
Jakob Schäfer: Markt und Plan – ein fundamentaler Widerspruch, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022)
Lars Henriksson: Die doppelte Krise – eine Konversionsstrategie, intersoz.org (06.05.2020)
Michel Husson: Von der sozialistischen Ökonomie hin zur ökologischen Planung, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
Johann-Friedrich Anders: Was kommt nach dem Kapitalismus?, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
Klaus Meier: Produktion für die Mülltonne, die internationale Nr. 4/2018 (Juli/August 2018)
Catherine Samary: Arbeiterselbstverwaltung, die internationale Nr. 3/2018 (Mai/Juni 2018)
Daniel Tanuro: Die Grundlagen einer ökosozialistischen Strategie, Inprekorr Nr. 6/2011 (November/Dezember 2011)
Catherine Samary: Plan, Markt und Selbstverwaltung, Inprekorr Nr. 240 (Oktober 1991)
Ernest Mandel: Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft, Inprekorr Nr. 200 (Februar 1988)
 

Viele Produkte des täglichen Gebrauchs, vom Auto über den Fernseher, vom Drucker bis zum Smartphone, sind so gebaut, dass sie entweder gar nicht oder nur unter großen finanziellen Kosten repariert werden können. Dabei wäre es durchaus möglich, Geräte mit deutlich längerer Haltbarkeit herzustellen; Produkte, die so gebaut sind, dass Reparaturen ohne großen Aufwand und ohne hohe Kosten möglich sind. Apple könnte iPhones mit klassischem, zeitlosem Design bauen, die Jahrzehnte halten. Es wäre ohne Probleme möglich, sie so zu designen, dass auch Upgrades möglich sind, ohne gleich ein neues, teureres Modell kaufen zu müssen. Das würde unendlich viel an Ressourcen sparen. Es müsste schon bei der Herstellung der Produkte dafür Sorge getragen werden, dass sie gut zerlegbar sind und dass gerade wichtige Komponenten gut zugänglich sind. Dafür müssten viele Produkte redesigned werden. Es ist Sache der Herstellerfirmen, dafür zu sorgen, dass dann auch reichlich Ersatz für mögliche Verschleißteile zur Verfügung steht. Das beträfe Elektronikprodukte wie Laptops, Smartphones und Fernseher, Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen oder Kühlschränke, aber auch Möbel. Rein technisch wäre es sicherlich möglich, die Lebensdauer solcher Produkte erheblich zu verlängern. Es ist die Aufgabe der Herstellerfirmen, das Know-how für die Reparatur der Geräte zur Verfügung zu stellen, eigene Reparatur- und Serviceabteilungen aufzubauen beziehungsweise Handwerksbetriebe und Genossenschaften, deren Tätigkeitsfeld die Reparatur ist, zu qualifizieren und die nötigen technischen Daten zugänglich zu machen.

Die Arbeit im Reparatursektor hätte auch für die Beschäftigten große Vorteile. Statt als Anhängsel des Fließbands würden die Leute in den Reparaturabteilungen hochqualifizierte Arbeit verrichten ‒ also das genaue Gegenteil von monotoner, entfremdeter Fließbandarbeit. Es lässt sich gegenwärtig nicht genau quantifizieren, wie viele neue Arbeitsplätze dadurch entstehen würden. Aber sicherlich würde dadurch zumindest ein Teil jener Arbeitsplätze ersetzt, die in der Produktion entfallen, wenn schlicht weniger produziert wird.


Es gibt viel zu tun …


Bisher hat die Linke sich nur wenig bis gar nicht damit befasst, wie diese Konversion hin zu einem umweltverträglichen Produktionssektor, der praktisch parallel mit Umstrukturierung der Gesellschaft in Richtung sozialistischen Eigentumsformen erfolgen muss, aussehen könnte. Dennoch ist es eine Aufgabe, die entweder von den radikalen Linken gemacht wird – oder gar nicht. Das ist zweifellos so etwas wie eine Herkulesaufgabe. Angesichts der gewaltigen Größe der Aufgaben ist es absolut undenkbar, dass irgendeine kleine Sektion der zersplitterten Linken das allein stemmen kann. Dazu bedarf es auf Seiten aller Beteiligten der Bereitschaft zur Kooperation auf gleicher Augenhöhe und eines solidarischen Umgangs miteinander.

12. August 2019



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Siehe inprekorr 200: Ernest Mandel, Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft, Die Debatte wurde fortgesetzt in inprekorr 209, S. 17 ff.
[2] Pat Devine, Democracy and Economic Planning, Polity Press 1998
[3] Alex Callinicos, An anticapitalist Manifesto, Polity Press 2003
[4] Leigh Phillips / Michal Rozworski, The People’s Republic of Wal-Mart, Verso Press 2019
[5] Siehe https://www.jacobinmag.com/2019/03/sam-gindin-socialist-planning-models
[6] Siehe Richard Smith, Climate Crisis, the Deindustrialization-Imperative and the Jobs vs. Environment Dilemma, https://truthout.org/articles/climate-crisis-the-deindustrialization-imperative-and-the-jobs-vs-environment-dilemma/