Ausgehend von dem in Chile unter dem Militärdiktator Pinochet begonnenen neoliberalen Umbau der Gesellschaft und seinen ökologischen Auswirkungen befasst sich die Autorin mit den tiefer liegenden Aspekten der kapitalistischen Umweltzerstörung und des Klimawandels und verweist auf eine Alternative in Form einer selbstverwalteten ökosozialistischen Planwirtschaft.
Catherine Samary
Zunächst möchte ich mich der Erklärung [1] anschließen, die von Via Campesina anlässlich des Weltklimagipfels COP25 abgegeben wurde: „Gemeinsam mit dem chilenischen Volk erheben wir unsere Stimme und werden kraft unserer demokratischen Rechte und Werte weiterhin für soziale und ökologische Gerechtigkeit kämpfen!“ Wie bei Via Campesina kritisieren wir eindrücklich, „dass die multinationalen Konzerne und ihre Sachwalter in den Regierungen die Hand auf das Klimarahmenabkommen der UN legen konnten“. Dies ist eine der Ursachen für die „zahlreichen Widersprüche des Pariser Abkommens (COP21), gerade was dessen Unverbindlichkeit und Unfähigkeit, mit der Marktlogik zu brechen, angeht“. Genau diese „Marktmechanismen ermöglichen es bestimmten Ländern und den dortigen Multis die Umwelt weiterhin zu Lasten des Klimas und unserer Rechte zu vergiften“. Darin liegt auch der Grund für das erwartbare Scheitern des COP25.
Hier liegt auch die Verantwortung dieser kriminellen Politik, die die angeblich „freien“ Handelsverträge (zwischen Ungleichen) hinnimmt, die seit Jahren abgeschlossen werden und sich weder um die sozialen Rechte noch um die Umwelt scheren, während die dort legitimierten Schiedsgerichte das von den multinationalen Konzernen beanspruchte „Wettbewerbsrecht" schützen. Seit Jahrzehnten wird ein solches „Recht" von den Institutionen der Globalisierung und den dahinter stehenden politischen Kräften breit durchgesetzt und mit einer pseudowissenschaftlichen (und daher sakrosankten) Begründung im Namen eines angeblichen „Allgemeininteresses" versehen, das durch den „freien und unverfälschten" Wettbewerb „zur Entfaltung“ käme: In einer Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse wird der Schutz der sozialen Rechte und der Umwelt, die eigentlich universelle Ziele sein sollten, als „egoistisches Partikularinteresse" behandelt, während die Prinzipien des Marktwettbewerbs angeblich dem „Allgemeininteresse" dienen! Und dieser Logik, wie sie auch in den EU-Verträgen zum Ausdruck kommt, soll sich auch die Europäische Kommission unterwerfen. Genau diese Logik müssen wir demnach radikal zerpflücken und ihr die Legitimationsgrundlage entziehen: gegen die „Klima-Leugner" in der „Wissenschaft“ und den herrschenden Kräften und für unsere demokratischen Rechte und Werte".
Im Wesentlichen stimme ich mit den Analysen von Daniel Tanuro überein, nämlich, dass es einen „grünen Kapitalismus" unmöglich geben kann und dass das Anthropozän keine zwangsläufige Folge der „menschlichen Natur“ ist. [2] Ich werde darauf im Zusammenhang mit der so genannten neoliberalen Wende zurückkommen, die bereits Allendes Volksfront in Chile gewaltsam beseitigte und deren Epizentrum im Herzen einer damals krisengeschüttelten imperialistischen Weltordnung, also in den USA lag. Und wenn wir die Wurzeln dieser neoliberalen Wende aufspüren wollen, müssen wir uns dem zuwenden, was diese Ordnung in den 1960er und 1970er Jahren bedrohte. Zunächst möchte ich den Begriff des Anthropozän grob umreißen, um dann auf dessen tiefere Ursachen zu sprechen zu kommen und mich zugleich gegen jedweden Fatalismus verwahren, der der „menschlichen Natur" oder dem „Produktivismus" zugeschrieben wird.
Mit den neoliberalen Politikansätzen, die seit den 1980er Jahren in den Industrieländern praktiziert werden, sollte auf die in den 1970er Jahren aufgetretene „Kostenkrise“ reagiert werden. Diese war keineswegs technisch oder abstrakt„ökonomisch“ bedingt, sondern rührte aus den sozialen und weltweiten geopolitischen Kräfteverhältnissen, die sich in zweierlei für die Profite wesentlicher Hinsicht verändert hatten. Zum Einen betraf dies die Lohnkosten und zum Anderen die weltweiten Kolonialstrukturen, die der Produktion und Verteilung der Energieträger zugrunde liegen. Beide wurden durch die weltweit zunehmenden Proteste gegen die herrschenden Verhältnisse geprägt.
Insofern war das „Herrschaftssystem“ an sich gefährdet. Der aus dem Umbruch der 1980er Jahre hervorgegangene „neue“ Kapitalismus sollte vorgeblich dem Bedürfnis, besonders unter der Jugend, nach mehr Autonomie gegenüber staatlicher und bürokratischer Bevormundung nachkommen, indem die Arbeit nicht mehr unter der Last des „Sozialstaats“ oder gar eines „sozialistischen Staats“ und seiner Schutzvorkehrungen zu leiden haben sollte: Letztere sollten natürlich nicht verbessert, sondern abgebaut werden.
Damit sollten alle Kollektivrechte, die dazu dienen, sich gegen die „reine“ Profitlogik der Märkte zu wehren, infrage gestellt werden, ob im Arbeitsrecht oder in den öffentlichen Diensten. Die technologische Revolution, die Finanzialisierung der Wirtschaft und die Organisation des globalen Wettbewerbs der Arbeitskräfte sollen somit diesem Anliegen unterworfen werden.
Parallel dazu wurden neue Kriege im Namen der „Zivilisation“ begonnen, um darüber hinwegzutäuschen, dass es eigentlich um die neokoloniale Wiedererlangung der Kontrolle über die Energieressourcen ging. Diese waren – nach gängiger Lesart – nicht nur (und auch nicht in erster Linie) „knapp“ und „somit“ teuer geworden, sondern in erster Linie hatte sich ihr Preis für die Industrieländer erhöht, weil sich die Förderländer gegen die „maßgeblichen“ US-amerikanischen Multis zusammengeschlossen hatten. Diese hatten Jahrzehnte lang die Preise zu ihren Gunsten beim Wiederverkauf „geregelt“, um ihre Profite zu maximieren.
Die sogenannte Ölkrise in den 1970er Jahren war insofern vorrangig eine Krise der imperialistischen Vorherrschaft Europas und der USA, zumal parallel dazu die Revolutionen in den Kolonialländern und der Befreiungskrieg Vietnams auf dem Vormarsch waren, unterstützt von den Protestbewegungen der Jugend in allen kapitalistischen Metropolen. Damit stiegen in der Tat die Gesamtkosten für die Produzenten und die Verbraucher, da diese zuvor weltweit von dem billigen Erdöl profitiert hatten. Leider kamen diese nunmehr in die Rentenökonomien vermehrt abfließenden „Petrodollars“ nicht der Bevölkerung der Erzeugerländer zugute, wie sich später gezeigt hat. Und in den Metropolen verlieh die „Stagflation“, d. h. wirtschaftliche Stagnation kombiniert mit einer Inflation aus den verschiedensten Gründen, der neoliberalen Ideologie Auftrieb gegenüber den bis dato dominierenden keynesianistisch angehauchten Modellen in der Wirtschaftspolitik. Der historische Wendepunkt der 1980er Jahre wurde zum Auftakt einer sozial- und demokratiefeindlichen Politik, die durch das Fehlen einer glaubhaften sozialistischen Alternative weiter an Fahrt gewann. [3]
Der kompromisslos vollzogene soziale Kahlschlag in den führenden kapitalistischen Ländern, deren Stellung als globale Ordnungsmacht bei zugleich sinkender Profitrate erheblich ins Wanken geraten war, führte zu einer Restauration der sozialen Verhältnisse, wie sie im 19. Jahrhundert herrschten: Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts hat somit die Großkonzerne und Staaten von den so genannten „Soziallasten" und der „Wohlfahrtsmentalität" „befreit", also den sozialen Rechten, die in den Kämpfen des 20. Jahrhundert mühsam errungen worden waren.
Nachdem sie die internationalen (Tausch-)Beziehungen nunmehr allein kontrollieren können, haben die Herrschenden ihre „philanthropische“ Mission fortgesetzt, angeblich zum Wohle der „Nahrungssicherheit“ der Menschheit, in Wahrheit jedoch, um Absatzmärkte zu erobern, die sich bis dato den internationalen „Marktmechanismen“ entzogen hatten. Besonders betrifft dies die Landwirtschaft und die Erschließung neuer Energiequellen sowie Finanzanlagen, wobei soziale und Umweltaspekte außen vor bleiben. Die zwangsläufige Folge war, dass die einheimische Nahrungsmittelproduktion, viele Wälder und sämtliche Grundlagen für eine „Ernährungssouveränität" der Völker zerstört wurden. Einher ging dies mit der Privatisierung der Wasserversorgung und der fruchtbarsten Ländereien sowie der Missachtung der indigenen Völker und ihrem traditionellen Einverhältnis mit der Natur, mit dem Ziel, sich der Ressourcen und Kenntnisse zu bemächtigen, die einst Gemeingut waren.
Aber dieses „System" plündert und verschmutzt die „natürlichen Gemeingüter", weil es von den Kategorien der „Marktwerte“, also der Börsenwerte, getrieben wird, denen soziale Rechte und die Umwelt gleichgültig sind. Genau darin liegen die Wurzeln dieser zerstörerischen Politik, und da sie nicht naturgegeben sind, können sie auch bekämpft werden.
Grafik 1 |
Wir müssen uns hier gar nicht an den Haarspaltereien beteiligen, sondern begnügen uns mit einem unumstrittenen und wesentlichen Faktum, das sowohl eine physische als auch sozioökonomische Dimension der geopolitischen Zeiträume innerhalb des globalen Wandels reflektiert.
Diese Grafik [4] zeigt, wie der personenbezogene Energieverbrauch (im weiteren und materiellen Sinn des unproduktiven und produktiven Verbrauchs), d. h. der Hauptanteil der endlichen natürlichen Ressourcen zwischen 1860 und 2016 angestiegen ist. Er umfasst mehrere Zeiträume der Globalisierung, die man als „kapitalistisch“ bezeichnen muss, um sie von der vorangehenden kolonialen und präindustriellen Globalisierung ab dem 16. Jahrhundert zu unterscheiden, die mit den „merkantilistischen“ Bündnissen zwischen großen Kaufleuten und Monarchien, welche über eine starke Armee und Marine verfügten, einherging. Diese Kolonialmächte, die über eine noch weitgehend vorkapitalistische Gesellschaft regierten, waren unterschiedlich von den antifeudalistischen bürgerlichen Revolutionen und dem Zwang zur ursprünglichen Akkumulation von Handelskapital geprägt. [5]
Diese Zeiträume waren weder „besser“ noch weniger gewalttätig als die nachfolgenden, was die koloniale Plünderung und die sozialen Verhältnisse in den betroffenen Ländern angeht. Es geht lediglich um die Feststellung, dass sie nicht dieselben beispiellosen Auswirkungen auf die natürlichen Ressourcen haben konnten wie die kapitalistische Industrialisierung.
Der Anstieg und die Modalitäten beim Energieverbrauch im Anthropozän können in der Tat mit drei dem Kapitalismus eigenen Dimensionen der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und den später daraus entstandenen Folgen verknüpft werden: der „Produktivismus“, der Zwang zur imperialistischen Expansion und die Verallgemeinerung der Warenbeziehungen. Daran muss kurz erinnert werden, um zu unterstreichen, dass Antikapitalismus allein nicht ausreicht, um eine kohärente sozialistische/kommunistische Alternative plausibel zu machen. Insofern bedarf es einer konkreten Analyse des Sachverhalts.
Der Kapitalismus wird durch eine spezifische Dynamik, die mit seinen sozialen Eigentums- und Klassenverhältnissen verknüpft ist, dazu getrieben, die Produktivkräfte zu entwickeln – also zu technologischen Innovationen und zur Technisierung. Darin liegt die tiefere Ursache für die beispiellose Zunahme des Verbrauchs der verschiedenen Energiequellen. Für dieses System geht es darum, unter dem Druck der Kapitalkonkurrenz die Produktivität der Arbeitskraft zu erhöhen und die Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, wenn durch Arbeitskämpfe Lohnerhöhungen durchgesetzt werden. Dabei wird die Arbeitslosigkeit (oder die Prekarisierung) zu einer Waffe, um die Lohnforderungen einzudämmen. Darin liegt die erste „kapitalistische“ Dimension des „Produktivismus“, wie er in unzureichender Weise genannt wird.
In der „Arbeiterbewegung“ und besonders der marxistischen herrschten lange Zeit eine zu unkritische Herangehensweise an dieses „Wachstum der Produktivkräfte“ (in seinen sozialen, technischen und Umweltaspekten) und die fehlgeleitete Annahme, dass in einer „kommunistischen Ära“ „der Überfluss“ herrschen müsse als Voraussetzung, um die Warenbeziehungen überwinden zu können. Dies galt demnach auch in den Ländern, die sich auf den Sozialismus beriefen. Dies muss ausgesprochen und berücksichtigt werden, wenn man auf der Suche nach antikapitalistischen Alternativen ist, die zugleich eine Bilanz der Mängel und des Scheiterns der Revolutionen des 20. Jahrhunderts ziehen.
Einerseits hängt die kostenlose (statt kommerzielle) Bereitstellung der Daseinsvorsorge – Erziehungs-, Gesundheits-, Transportwesen etc. – nur von sozialen und politischen Entscheidungen über die Finanzierungsweise der Einrichtung und Bereitstellung dieser Dienste ab und nicht vom „Entwicklungsstand der Produktivkräfte“. Andererseits sind die angeblich überreichlich vorhandenen natürlichen Ressourcen nicht unerschöpflich und der sparsame Umgang damit in allen Bereichen der Gesellschaft und auf internationaler Ebene muss bei der Planung der Produktion und des Verbrauchs penibel berücksichtigt werden.
Außerdem können und müssen die emanzipatorischen Zielsetzungen einer antikapitalistischen Alternative gegen alle Herrschaftsverhältnisse bereits vor dem Umsturz der Gesellschaft im und gegen den Kapitalismus vertreten und umgesetzt werden, damit sie überhaupt anschließend vorbewusst und allgemein durchgesetzt werden können. Entgegen einer blinden Etappentheorie und entgegen jeder Hierarchisierung der verschiedenen Aspekte der Herrschaftsverhältnisse und somit deren Bekämpfung müssen sämtliche Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Diskriminierungsverhältnisse bekämpft werden, ohne bis zum „Endsieg“ zu warten oder auf die Zeiten, in denen bloß die Herrschaft des Profits abgeschafft sein soll. Das feministische Manifest für die 99 % bringt diese Forderung gut zum Ausdruck. [6]
Insgesamt muss man natürlich verdeutlichen, welche konkreten sozioökonomischen Erfordernisse in einer Markt- oder Planwirtschaft, in den Institutionen und in den Kooperativen und Basisorganisationen herrschen, um sich gegen jedweden zerstörerischen „Produktivismus“ – ob kapitalistisch oder nicht-kapitalistisch – zu erwehren. Daniel Tanuro hat daran erinnert, welche erheblichen Umweltschäden (aus Ignoranz und/oder Bürokratismus) in den sog. „realsozialistischen“ Ländern angerichtet worden sind. [7] Die sozialistische Planwirtschaft war in ihrem Ansatz nicht gefeit gegen Illusionen, was den Überfluss natürlicher Ressourcen anlangt und auch nicht frei von Ignoranz gegenüber den Ökosystemen, gerade auch weil die bäuerliche Landwirtschaft und ihr Wissensschatz nichts galten. Freilich ist dies weder unabwendbares Schicksal noch der marxistischen Theorie [8] oder der sozialistischen Praxis eigen, sondern widerspricht dem sogar und schadet ihm.
Zum Wesenszusammenhang des Anthropozän mit dem Kapitalismus gehört noch ein zweiter Aspekt, der mit dem ersten, dem „Produktivismus“, organisch zusammenhängt, nämlich der immanente Zwang, sein „Herrschaftssystem“ über die ganze Welt auszudehnen.
Zum Verständnis ist es wichtig, zunächst die Eigenheiten der „kapitalistischen“ Globalisierung des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten, nämlich dass dies eine neue Ära war, in der die Antriebskraft zur weiteren kolonialen Expansion das Streben nach einer Lösung der organischen Krisen (Warenüberproduktion und Kapitalüberakkumulation) des Industriekapitalismus in seinen Ursprungsländern war.
Das Epizentrum lag in den neuen konkurrierenden Großmächten des 19. Jahrhunderts: Frankreich und vor allem England und dann im 20. Jahrhundert in den USA. Historisch betrachtet vertiefte sich die Kluft zwischen den Ländern infolge des Kolonialismus bzw. Neokolonialismus (nach der formellen Unabhängigkeit der Kolonialstaaten) und je nachdem, in welche Richtung und unter welchen Bedingungen sich die Produktion und der Handel entwickelten. Dies wiederum hing grundlegend von den spezifischen Bedürfnissen der imperialistischen Industrieländer ab, die über ihre Rüstungsindustrie und ihre Flotten verfügten. Es entstanden „wirtschaftliche“ Abhängigkeitsverhältnisse, die prägend wurden für die Bedingungen, unter denen die Rohstoffe ausgebeutet und weltweit verteilt wurden – angefangen beim Weizen, der die Brotpreise und somit die Löhne bestimmte, über die Edelmetalle bis hin zu den verschiedenen Energiequellen.
Zu den rassistischen Rechtfertigungstheorien der Sklaverei und der kolonialistischen Plünderungen und den Gewaltverhältnissen der merkantilistischen Ära kamen noch die verheerenden Folgen der „internationalen Arbeitsteilung“ hinzu, die der Theorie nach einen friedlichen und gleichberechtigten Handel zwischen den Nationen aufgrund der sog. „komparativen Kostenvorteile“ begründen sollte.
Die Theorie dieses sog. „Freihandels“ wurde vom britischen Wirtschaftswissenschaftler David Ricardo (1772–1823) entwickelt: Der Außenhandel galt demnach als „Positivsummenspiel“, bei dem Jeder gewinnt. Dabei wird oft übersehen, dass Ricardo (oder mit ihm das England des 19. Jahrhunderts) den „Freihandel“ „erfunden“ hat als eine neue „Wirtschaftspolitik“, die faktisch (aber nicht ausdrücklich) organisch mit der von Ricardo, noch vor Marx, in Zusammenhang mit einem Klassenkampf analysierten „Tendenz der fallenden Profitrate“ verknüpft ist. Ricardo hob namentlich den Einfluss des steigenden Getreide- und damit Brotpreises hervor, nachdem in England auch die weniger fruchtbaren Böden bewirtschaftet worden waren. Also plädierte er für die Abschaffung der Korngesetze und den Import von billigerem Weizen.
Marx griff später Ricardos Arbeitswerttheorie und die Herangehensweise in Klassenbegriffen auf, vertiefte jedoch dessen Analyse der Ausbeutung und der kapitalistischen Widersprüche aus der Sicht der Beherrschten. Die Apologeten der herrschenden kapitalistischen Ordnung hingegen übernahmen lediglich die ihnen genehmen Thesen zur internationalen Arbeitsteilung und die ideologische Rechtfertigung des Außenhandels und damit auch der Bedingungen der Gewinnung und Aneignung der Rohstoffe in den Kolonialländern.
Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass Ricardos Thesen zum „Freihandel“ und damit seine „abstrakte“ Kritik an der „merkantilistischen“ Praxis der „protektionistischen“ Mächte von vornherein in den mit England rivalisierenden Staaten, also den USA und Deutschland, kritisiert wurden. Der deutsche Ökonom Friedrich List schwang sich dabei gegen Ricardo zum Vordenker des Protektionismus der „aufstrebenden Industriestaaten“ auf. Dabei ging es jedoch um einen Klassenstandpunkt und eine kolonialistische Sichtweise, die weit über die limitierten Bedingungen der „aufstrebenden Industrienationen“ hinausging, aber immer beschränkt auf Länder mit einer „zivilisatorischen“ Herrschaftsmission war. Die im 19. Jahrhundert herrschenden politischen Kräfte in den USA und Deutschland kritisierten daher die Politik Großbritanniens und erklärten, ihre Schutzzölle (also das jeweilige Pendant zu den „Korngesetzen“) abschaffen zu wollen, wenn ihr Land die gleiche dominante Position wie England erreicht hätte.
Charakteristisch für ein Land des „Zentrums“ (in marxistischen Kategorien als dominant oder imperialistisch bezeichnet) – egal, ob es einen „Freihandel“ beansprucht oder nicht – ist seine Fähigkeit, darüber zu entscheiden (und ggf. ideologisch zu verbrämen), was es mit all der einer starken Nation zur Verfügung stehenden Macht und den wirtschaftlichen, finanziellen und politisch-militärischen Mitteln im eigenen Land schützen will, und zugleich über die Mittel zu verfügen, woanders die Aufhebung der Schutzzölle durchzusetzen. Daher rühren die „Mythen und Paradoxien des Außenhandels über die Zeitläufte hinweg“, die Paul Bairoch zutreffend analysiert hat. [9]
Dies zeigt aber auch, wie undurchsichtig die Pseudoalternative „Freihandel" oder „Protektionismus" ist, solange nicht klar ist, wer mit welchen Zielen, Prioritäten und Rechten innerhalb der nationalen und globalen Produktions- und Handelsverhältnisse entscheidet und demnach auch, welches Verhältnis zwischen den Völkern und zur Natur besteht. Wenn man den „Freihandel" von einer fortschrittlichen Warte aus kritisieren will, muss man auch die Kriterien kritisieren, wonach das Recht auf Wettbewerb über den sozialen und ökologischen Belangen steht. Aber diese können genauso gut im Zuge des „nationalen Protektionismus“ mit den Füßen getreten werden.
Wenn ein Volk mit der Logik der kapitalistischen Akkumulation und Herrschaftsverhältnisse brechen will, mag es durchaus auf Handelsbeziehungen zu den kapitalistischen Ländern angewiesen sein. Aber diese müssen stets nachrangig sein gegenüber demokratischen Entscheidungen und der Kontrolle des souveränen Volkes. Dies stößt auf Widerstand bei den herrschenden Klassen auf nationaler und internationaler Ebene.
Der besonders von Via Campesina vertretene Begriff der „Ernährungssouveränität“ legt den Schwerpunkt auf die demokratisch festgelegten, durchaus auch sozialen und ökologischen Belange der Bevölkerung, die i. d. R. den Interessen der heimischen agrarindustriellen Exportwirtschaft entgegenstehen. Dieser Aspekt wird durch internationalistische Strukturen und länderübergreifende Initiativen gegen die Kommodifizierung der Wasser- und Energieversorgung, des Grund und Bodens und des ganzen Planeten und für die Einhaltung der bäuerlichen Rechte und die Gewährleistung der Grundbedürfnisse für Alle. Dieser Begriff der „Ernährungssouveränität“ ist weit stimmiger und fortschrittlicher als der „nationale Protektionismus“, weil er auf konkrete Belange abzielt, die universell und nicht bloß vom „nationalistischen“ Standpunkt aus vertreten werden können, und auf die solidarische Kontrolle der Bevölkerung über die getroffenen Entscheidungen. Diese können sich ausdrücklich auf die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse und Rechte beziehen, einschließlich der Achtung vor den „Gemeingütern".
Es bleibt im Einzelfall zu bestimmen, welche finanziellen Mittel, Techniken, sozialen Bündnisse und welche territoriale Ebene (oder besser gesagt, miteinander verbundene territoriale Ebenen) angemessen sind, um konkrete Bedürfnisse und Rechte zu befriedigen. Um diese Frage zu diskutieren, ist es jedoch notwendig, die sozialen und ökologischen Aspekte der dritten Dimension der kapitalistischen Globalisierung näher zu beleuchten.
Den Markt (das Geld) gab es schon vor dem Kapitalismus – und nur wenige Menschen denken, dass man darauf später verzichten sollte und könnte. Aber welcher Markt und welches Geld, zu welchem Zweck, in welchem „System"? Karl Polanyi hat herausgearbeitet, dass der Kapitalismus die Arbeitskraft, den Grund und Boden (die Natur) und das Geld zur Ware gemacht hat. Dies sind drei wesentliche und miteinander verbundene Bereiche der „kapitalistischen Produktionsweise" als solcher, die die Gesellschaften – je nach Kontext unterschiedlich in Zeit und Raum – tiefgreifend verändern.
Es ist die Verallgemeinerung und Dominanz der Warenbeziehungen, die scheinbar „wirtschaftliche Gesetze" auferlegen, die für das neue System entlang der spezifischen Umwandlung von Geld in Kapital charakteristisch sind. Als erstes muss man den „Markt" in den Plural setzen, wie es Diane Elson [10] in Bezug auf die Debatte zwischen Alec Nove und Ernest Mandel über den Sozialismus in der New Left Review in den 1980er Jahren formuliert hat. Doch dazu muss man zunächst (wie Polanyi) die Kommodifizierung (Verwandlung in Waren [A. d. R.]) von Mensch, Natur und Geld kritisieren und wieder bewusst in Frage stellen. Der Post-Kapitalismus hängt davon ab. Er hängt auch davon ab, ob die Dinge und Sachverhalte wieder nach ihrem „Gebrauchswert“ und ihrem Wert für das konkrete menschliche Miteinander beurteilt werden, statt dass weiter Geld und Waren herrschen.
Wie die frühen Theoretiker des Industriekapitalismus (Smith und Ricardo) hatte Marx von Aristoteles die wesentliche Unterscheidung zwischen „Gebrauchswerten" (die ein konkretes Bedürfnis befriedigen sollen) und „Tauschwerten" von Gütern, die mit einem Preis versehen sind, übernommen. Ebenso hatte er, wie Aristoteles, zwischen dem Geld, das für den Handel verwendet wurde, und dem Geld, das man akkumulieren wollte, unterschieden. Diese verschiedenen Begriffe ermöglichten es einerseits, „Reichtum" nicht mit bloßem Geldbesitz gleichzusetzen und andererseits den gesamten Reichtum nicht auf die Tauschwerte (Waren) zu reduzieren: Marx wandte sich insbesondere gegen diejenigen, die die Arbeit als einzige Quelle des Reichtums betrachteten – und betonte, wie sehr die Natur eine andere, kostbare Quelle sei. [11]
Die vorherrschenden Wirtschaftsmodelle haben dazu tendiert, die natürlichen Ressourcen als unerschöpflich – und „deshalb" ohne Preis – anzusehen. Bereits oben wurde diskutiert, wie die internationale Arbeitsteilung, die sich unter den Bedingungen der kapitalistischen Expansion des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, unter Verweis auf den „Überfluss" an „Arbeitskräften" („insofern" ein billiger „Produktionsfaktor"), die für die Produktion von Rohstoffen notwendig sind, gegenüber dem Überfluss an „Kapital", das für die Produktion von Industriegütern erforderlich ist, theoretisch legitimiert wird. Aber die Märkte für Produktionsgüter und Rohstoffe haben nicht die gleiche Funktion und nehmen nicht die gleiche Entwicklung in Bezug auf ihre Preise. Und hinter der Produktion von Industriegütern und Technologie steht Wissen: Der Ausbau des Bildungswesens war daher unerlässlich, um diesen Bereich im Griff zu haben.
Die Verfechter der Dependenztheorie analysierten die „Entwicklung der Unterentwicklung", als in den 1960er Jahren der Aufschwung der Antikolonialbewegung und die positive Berufung auf die „Dritte Welt" erfolgten. Darin lag die Wurzel der sozial brisanten Widersprüche einer „ungleichen und kombinierten Entwicklung", die aus einer nach außen gerichteten kapitalistischen Industrialisierung bei gleichzeitig archaischen Strukturen und diktatorischen Regimen erfolgte, die die Aufrechterhaltung sozialer Bedingungen für die Ausbeutung und Unterdrückung der aus der Arbeiter- und Bauernschaft stammenden Arbeitskräfte erzwangen, deren Lebensbedingungen und Hungerlöhne gemäß der Wirtschaftsmodelle ihrem „Überfluss“ geschuldet waren. Es lässt sich kaum verstehen, warum die antikapitalistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts in den semiperipheren Ländern des Kapitalismus siegreich waren, obwohl sie diese Realitäten kaschiert haben.
Mit diesen Revolutionen wurde die Abwärtsspirale der Abhängigkeit von den Krediten der herrschenden Nationen (also der Verschuldung) durchbrochen, die es diesen Ländern lange vor der Gründung des IWF ermöglichte, ihre Kredite unter Auflagen – nicht ohne Rückgriff auf militärische und politische Gewalt – zu gewähren, was den Kolonialmächten im Wesentlichen verschiedene Vorteile verschaffte:
für ihre Kapitalüberakkumulation gab es nunmehr eine Investitionsmöglichkeit in Form der Kredite an die abhängigen Länder, die wiederum mit dem Kauf von Industriegütern verknüpft waren;
dadurch verschafften sie sich auch Absatzmärkte für ihre überschüssigen Waren;
die abhängigen Länder wiederum mussten die Kredite abbezahlen, indem sie Rohstoffe exportierten, die unter verschärften Ausbeutungsbedingungen gewonnen wurden und deren Preis somit weit unterhalb der Gestehungsbedingungen vergleichbarer Produkte in den Metropolen lagen;
diese Importe trugen somit zur Senkung der Produktionskosten in den imperialistischen Staaten bei und damit zur Wiederherstellung der Profite etc.
Unter diesen neu entstandenen organischen Abhängigkeitsverhältnissen (auf die man zurecht das Konzept der „Welt-Wirtschaft“ von Immanuel Wallerstein [12], ergänzt um die marxistische Herangehensweise, anwenden kann) entstehen neue Ungleichheiten und „Enteignungen“, die durch „den Imperialismus als Stadium des Kapitalismus“ durchgesetzt werden, wie es von antikolonialistischer Seite, ob marxistisch oder nicht, analysiert worden ist.
In einem Beitrag, der zurecht den Titel „Warum grünes Wachstum eine Illusion ist“ trägt, schreiben die Forscher Enno Schröder und Servaas Storm [13]: „Nichts, außer einer Massenmobilisierung für eine tiefgreifende Dekarbonisierung der Weltwirtschaft wird die drohende Klimakatastrophe abwenden können.“ Sie betonen, dass ihre „statistische Untersuchung zeigt, dass die Zukunft komplett anders aussehen muss als die Vergangenheit, um eine Klimakatastrophe zu vermeiden. Die Stabilisierung des Klimas erfordert eine grundlegende Umwälzung der auf der Grundlage von Kohlenwasserstoffen basierenden Energieerzeugung und des Verkehrswesens, eine umfassende Abkehr von den Profitinteressen der Energiewirtschaft und der Industrie auf der Grundlage fossiler Energieträger sowie öffentliche Investitionen auf breitester Ebene – und zwar so schnell als möglich.“
Für die meisten Wirtschaftsfachleute liegt das Problem darin, dass all dies „nach Planwirtschaft riecht, nach staatlicher Aufsicht und Intervention“, was – wie sie betonen – den Überzeugungen von der Effizienz der Regulierung durch den Markt widerspricht, die die meisten von ihnen hegen. Die führenden Wirtschaftswissenschaftler haben nicht nur keine Lösung parat, sondern sind Teil des Problems. [14] Dasselbe gilt für die großen Institutionen der Globalisierung.
Aber um was für eine Planung geht es hierbei, wer kontrolliert und entscheidet und auf welchen Ebenen? Um Brücken (einen „Übergang") zwischen der aktuellen Situation, vergangenen (Teil-)Erfahrungen und einer erstrebenswerten Zukunft (hinsichtlich Rechten und Zielen) zu errichten, muss es ein Mindestmaß an Diskussionen über diese Zukunft geben. Wie Daniel Tanuro (zitierter Artikel) vertrete ich die Vorstellung, dass eine „sozialistische Planung unter Selbstverwaltung" sicherlich nichts mit einem allbestimmenden Staat am Hut hat, aber auch nicht auf dezentralisierte und atomisierte Entscheidungsprozesse reduziert werden kann – selbst wenn sie lokal selbstverwaltet sind. Dies kann auf der Grundlage konkreter Ziele und Erfahrungen diskutiert werden. [15]
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Die gegenwärtig stattfindenden Kämpfe tragen zur Erfahrung bei. Die Gelbwesten, aber auch die sozialen Aufstände in der ganzen Welt, haben verdeutlicht, dass die Regierenden, und nicht nur die Wirtschaftswissenschaftler, ein Teil des Problems sind, und zwar ein bedeutender. Und dass man nicht drei Aspekte losgelöst betrachten kann, wenn sie organisch zusammenhängen: den sozialen, den ökologischen und den Notstand der Demokratie. CO2-Steuern, die der Bevölkerung auferlegt werden, die kaum über die Runden kommt, sind ungerecht und ineffizient, ganz davon abgesehen, dass eine solche Steuer weder das Klimaproblem löst noch für Umweltbelange überhaupt ausgegeben werden wird.
„Die Geschichte hat uns gelehrt, dass die Lösungen vom Volke kommen“, meint Via Campesina und fügt hinzu: „Wir fordern jedoch, dass diejenigen uns vertreten sollten, die ihrer Verantwortung gerecht werden, statt willfährige Kapitalknechte zu sein“. Klar ist, dass die Lösung nicht in der Summe individueller oder lokaler Veränderungen liegen kann oder gar in der Errichtung von „Kommunen“ als Inseln der Glückseligen, die sich bloß um sich selbst sorgen – während sie von Katastrophen und Elend umgeben sind. Wesentlich in all diesen Fällen ist, dass das Geld, die Finanzwirtschaft und die Banken den sozialen Bedürfnissen und Umweltbelangen untergeordnet sein müssen. Genauso wichtig ist, dass die Entscheidungen demokratisch, gesamtgesellschaftlich und pluralistisch getroffen werden müssen.
„Kraft unserer demokratischen Rechte und Werte werden wir weiterhin für soziale und ökologische Gerechtigkeit kämpfen!“ Dies muss solidarisch geschehen, von der lokalen über die kontinentale bis hin zur globalen Ebene, damit sich die Welt von Grund auf ändert.
C. Samary ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Mitglied des IK der IV. Internationale. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Fragen der Selbstverwaltung und den Balkanstaaten. Auf Deutsch sind u. a. erschienen: Die Zerstörung Jugoslawiens. Ein europäischer Krieg, 1995 und Krieg in Jugoslawien. Vom titoistischen Sonderweg zum nationalistischen Exzess, 1992, jeweils ISP. Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz