Ökologie

Das Märchen vom grünen Wachstum und seine roten Kritiker

Mit diesem Beitrag antwortet der Autor auf die Besprechung seines Buchs „Das Märchen vom grünen Wachstum“ von Jakob Schäfer in die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020), S. 8–17.

Bruno Kern

Eigentlich ist es kein guter Stil, wenn ein Autor auf eine Rezension seines Buches nochmal antwortet. Aber da ich nun mal dazu ausdrücklich eingeladen wurde, möchte ich die Gelegenheit nutzen – vor allem, weil ich mir davon erhoffe, dass sich daraus in Zukunft eine vertiefte Verständigung ergibt und weil ich zu Jakob ein so freundschaftliches Verhältnis habe, dass ich mit Polemik nicht sparen muss.

Jakobs Rezension offenbart tatsächlich einige grundsätzliche Differenzen zwischen uns, und ich hoffe, dass sich Gelegenheiten ergeben, diese auch auszutragen – solidarisch und im Interesse unseres gemeinsamen Kampfes um eine ökosozialistische Gesellschaft. Vor allem aber enthält sie sehr grobe Missverständnisse, deren Zustandekommen ich mir – ehrlich gesagt – kaum erklären kann. Ich vermute, dass bestimmte Stichworte einfach eingeübte Reflexe auslösen. Was da eigentlich im Text steht, ist dann zweitrangig.

Das allergröbste Missverständnis ist bereits in der Überschrift enthalten, die insinuiert, ich würde eine Änderung des Konsumverhaltens für eine – gar die entscheidende! – Strategie der gesellschaftlichen Transformation halten. Das verkehrt meine Intention ins genaue Gegenteil. Möge sich jeder und jede durch eigene Lektüre selbst überzeugen. Zugegeben: Ich habe dieses Missverständnis wahrscheinlich selbst dadurch befördert, dass ich die wenigen Seiten, die sich mit dem Konsum beschäftigen, ans Ende des Buches genommen habe, und für oberflächliche Leser mag das dann so ausschauen, als sei dies die Quintessenz. Zum Stellenwert des Schlusskapitels: Ich habe mein Buch aus meiner praktischen Erfahrung heraus geschrieben, und alle von uns kennen das: Fast so sicher wie das Amen in der Kirche kommt am Schluss einer jeden Veranstaltung, in der es um die ökologische Transformation geht, das Resümee vieler Teilnehmer*innen: „Wir müssen bei uns selbst anfangen!“ Wie die meisten von uns bin ich dessen inzwischen überdrüssig. Ich meine deshalb, mit meinem Schlusskapitel etwas recht Pfiffiges gemacht zu haben: Ich habe genau diesen Impuls zur Individualisierung des Problems aufgegriffen, um ihn dann gründlich zu dekonstruieren! Das hätte einem aufmerksamen Leser, der sich nicht nur auf die Überschrift beschränkt, eigentlich auffallen müssen.

Praktisch in jedem zweiten Satz weise ich darauf hin, dass individuelle Verhaltensänderungen eben nicht die nötigen Veränderungen auf politischer Ebene bewirken können, dass ein großer Teil dessen, was einer gründlichen Umstrukturierung unterworfen werden muss, gar nicht in der Reichweite von Individuen liegt; dass Konsument*innen viel stärker vom bestehenden Angebot abhängig sind, als sie dieses umgekehrt durch ihr Nachfrageverhalten beeinflussen können; dass die Abwälzung struktureller Probleme auf die Einzelnen diese hoffnungslos überfordern muss usw. Das alles ist so nachzulesen im entsprechenden Kapitel, nichts davon in der Rezension. Dazu hätte der Rezensent auch noch meinen Abschnitt dazunehmen können, in dem ich mich kritisch-solidarisch mit Niko Paech auseinandersetze und in dem ich meine Position bekräftige, dass der Hebel der Veränderung ganz woanders liegt.

Was mich am meisten ärgert, ist die Unterstellung des Rezensenten, ich würde Widerstandsformen wie etwa zivilem Ungehorsam etc. keinen Wert beimessen. Mais bien au contraire, mon cher camarade! Ganz im Gegenteil halte ich die gezielten Regelverletzungen und die Formen zivilen Ungehorsams, wie sie etwa Ende Gelände praktiziert, für die aussichtsreichste Kampfform überhaupt, um den nötigen gesellschaftlichen Druck zu erzeugen. Es muss uns gelingen, diese Kampfformen wesentlich zu erweitern und zu radikalisieren: zu erweitern auf Produktionsstätten wie Autofabriken, Düngemittelfabriken etc., zu radikalisieren bis hin zur Sabotage. Das halte ich für die einzige Chance, die nötigen Veränderungen vielleicht doch noch hinzukriegen.

In meinem Schlusskapitel habe ich allerdings sehr wohl deutlich gemacht, in welchem Sinne ich der Änderung unseres eigenen Verhaltens tatsächlich einen ganz wesentlichen Stellenwert einräume: im Sinne der Selbstermächtigung der Subjekte des Widerstands. Wir wissen alle: Es ist gerade das Grundcharakteristikum des Kapitalismus (nach Karl Marx zumindest), dass er subjektlos funktioniert, dass er die lebendigen Subjekte zu bloßen Anhängseln seiner Verwertungsmaschinerie degradiert. Im Gegensatz dazu ist eine solidarische, sozialistische Gesellschaft, wie wir sie anstreben, grundlegend angewiesen auf die Köpfe und Herzen der Menschen. Und gerade unsere „Klassiker“, wie etwa die für mich äußerst wichtige Rosa Luxemburg, aber auch Marx selbst, haben uns beharrlich darauf hingewiesen, dass sich die potenziellen Subjekte einer neuen Gesellschaft, von denen es essenziell abhängen wird, ob sie gelingt, im Kampf um die Veränderung selbst herausbilden. Und genau in diesem Sinne erlaube ich mir die Frage, ob unser politischer Kampf nicht ein Mindestmaß an Authentizität braucht, ein Mindestmaß an Vorwegnahme des Ziels, das wir anstreben. Nach jahrzehntelanger widerständiger Praxis bin ich davon überzeugt, dass so manche unserer politischen Kämpfe gerade deshalb nicht das nötige Durchhaltevermögen aufwiesen, weil sich die Beteiligten ein allzu großes Maß an Schizophrenie leisteten (Anti-Atombewegung). Wer einen Porsche fährt, dem traue ich auch nicht über den Weg, wenn es um den Umbau unserer Mobilität geht. Und ich bin leider auch der Überzeugung, dass einer der Gründe (neben einigen anderen) für das vorhersehbare Scheitern von FFF der sein wird, dass die Bürgersöhnchen und -töchterchen auf Dauer nicht jeden Freitag gegen ihren eigenen Lebensstil demonstrieren können. Und ich sehe auch unter meinen linken Freundinnen und Freunden – nicht zuletzt im Gespräch mit euch – ganz seltsame Immunisierungsstrategien am Werk.

Wenn ich etwa darauf aufmerksam mache, dass in einer nachhaltigen Gesellschaft die materielle Basis insgesamt wesentlich schmaler sein wird, kommt fast reflexartig die Reaktion, dies sei individualistisch. Dabei beinhaltet meine Aussage etwas völlig anderes: Ich mache auf eine Konsequenz aufmerksam, propagiere aber keineswegs individuelles Handeln als aussichtsreichste Strategie. Bei den lautstarken Rufen nach „system change“ (den ich genau so entschieden will) wird meistens überspielt, dass dieses zu überwindende System sich nicht jenseits von uns befindet, sondern dass es sich gerade über die Subjekte reproduziert! So viel dialektisches Denken würde ich mir an dieser Stelle schon ausbitten! Wir sind, ob wir wollen oder nicht, in vielfacher Weise darin verwickelt, und unser Kampf um die Überwindung des Systems hat nur dann eine Chance, wenn wir diesen Mechanismus erkennen. Mit „Immunisierungsstrategie“ meine ich, dass die Konsequenzen, die ökologische Nachhaltigkeit für die Industrieländer haben wird, völlig verharmlost, wenn nicht gar ganz weggeleugnet werden. Unsere inzwischen eingeschliffenen und für viele als Menschenrecht empfundenen Lebensgewohnheiten, vom Mallorcaflug der viel strapazierten Krankenschwester bis hin zu unseren (bzw. euren, ich hab keins!) Smartphones, sind schlicht nicht vereinbar mit ökologischer Nachhaltigkeit. Dessen müssen wir uns bewusst sein, wenn wir gegen das System kämpfen.

Rotpunkt-Verlag, Zürich

Ich erinnere mich an eine Veranstaltung der damaligen SAV (heute sol), an der auch viele von euch teilgenommen haben und bei der uns der Referent unter anderem erzählte, dass lediglich 10 % des ganzen Desasters mit unserem Konsum zu tun hätten. Eine solche Naivität dürfen wir uns gerade dann nicht leisten, wenn wir dieses System wirksam angreifen wollen. Ich hätte dem jungen Mann gern in seiner Sprache erklärt, dass sich der Mehrwert erst über entsprechende Nachfrage realisieren muss, um akkumuliert werden zu können, aber ich bin nun mal leider bei Weitem nicht so ein kluger „Lohn-Preis-und-Profit-Gelehrter“ wie der Rezensent.

Es hilft nichts: Wer ehrlich für die Überwindung des Systems kämpft, der muss sich ebenso ehrlich dem Problem stellen, dass wir alle von diesem System entsprechend zugerichtet und gefügig gemacht worden sind. Manchmal empfiehlt es sich, nicht nur die Klassiker der eigenen Tradition zu lesen, sondern wenigstens auch andere linke Theoretiker wie etwa Herbert Marcuse oder Pier Paolo Pasolini, die genau auf diesen Zusammenhang hingewiesen und auch Deutungskategorien dafür angeboten haben. Pasolinis Gleichsetzung von Konsumismus und Faschismus muss man nicht einmal in dieser Radikalität teilen, um zu erkennen: Das System hat sich nicht nur der Produktionsanlagen, sondern eben auch der Subjekte bemächtigt. „Konsumiert, konsumiert! Das ist Mose und die Propheten!“

Erfreut und erstaunt zugleich war ich zunächst über das Lob des Rezensenten zu Beginn, das sich darauf bezog, dass ich in meinem Buch sehr entschieden auf das begrenzte Potenzial erneuerbarer Energien und Effizienzstrategien hingewiesen habe. Erstaunt deshalb, weil Jakob vor etwa einem Jahr, als wir beide bei einer Demonstration als Redner auftraten, das genaue Gegenteil gesagt hat. Ich hatte aber dann beim Weiterlesen doch den Eindruck, dass sich der Rezensent der Dimension dieses Problems und der Konsequenzen nicht bewusst ist. Da bekomme ich zum Beispiel den Satz vor Augen: „Eine nicht-kapitalistische Wirtschaft kann – so hoffe ich – neue Potenziale der Energiegewinnung erschließen.“ Worauf sollte sich denn die Hoffnung gründen, dass ein anderes gesellschaftliches Verhältnis die Gesetze der Physik aushebeln könnte? Eine solche Aussage wäre nur dann halbwegs diskutabel, wenn wenigstens andeutungsweise gesagt würde, welche Energiepotenziale das denn sein könnten und warum die nur im Sozialismus erschlossen werden können. (Karl Marx hat übrigens das Ausschöpfen technischer Potenziale gerade dem Kapitalismus zugetraut!)

Vor allem aber hatte ich den Eindruck, dass der Rezensent eine ungenügende Vorstellung von den Konsequenzen hat und sich genau gegen die Einsicht wehrt, die für mich im Zentrum steht: Nicht nur der Kapitalismus steht zu Disposition (darüber herrscht ja Einigkeit zwischen uns), sondern unser Typ von Industriegesellschaft!

Genau hier seid ihr revolutionären Sozialisten mir einfach nicht radikal genug. Zur Verdeutlichung: Wir verbrauchen in Deutschland zurzeit etwa 2500 Terawattstunden an Endenergie (davon ca. 20 % in Form von Elektrizität). Mittlerweile gibt sogar das Umweltbundesamt zu, dass wir aus erneuerbaren Quellen lediglich 700 bis 800 Terawattstunden erzeugen können. Dieser Gap kann nur geschlossen werden, wenn wir industriell erheblich abrüsten. CO2 fällt ja nicht nur bei der Verbrennung an, sondern in etlichen industriellen Fertigungen prozessbedingt (zum Beispiel beim Stahlkochen, vor allem aber in der Chemieindustrie).

Nun sind für all diese Fertigungen inzwischen vielfach „grüne“ Alternativen entwickelt und technisch ausgereift. Dabei greift man vor allem auf Wasserstoff zurück, der etwa bei der Stahlproduktion Koks als Reduktionsmittel ersetzt oder bei der Produktion chemischer Grundstoffe für die Aufspaltung von Kohlenwasserstoffketten verwandt wird. Und diesen Wasserstoff kann man natürlich theoretisch mittels Elektrolyse mithilfe von Strom aus erneuerbaren Quellen erzeugen.

Wer sich aber nur ansatzweise mit der Energiebilanz dieses Verfahrens auseinandergesetzt hat, der weiß, dass uns von all dem nur ein Bruchteil zur Verfügung stehen wird. Ähnlich stellt sich das Problem in der Bauindustrie und der sehr energieaufwändigen Zementherstellung etc. Es hilft nichts: Mit Windrädern kann man keine Industriegesellschaft betreiben. By the way: Die Frankfurter Regionalgruppe unseres „Netzwerks Ökosozialismus“ hat hier inzwischen für die wichtigsten Branchen (Bauindustrie, Automobilindustrie, Chemieindustrie …) genaue Rechnungen und mögliche Szenarien vorgelegt. Es würde uns freuen, auf dieser Ebene mit euch in ein detaillierteres Gespräch einzusteigen.

Vielleicht ist es auch kein Zufall, vielleicht hängt auch dies mit der Verharmlosung des zivilisatorischen Bruchs zusammen, der vor uns steht, dass Jakob bei der Aufzählung der von mir lediglich beispielhaft angeführten ordnungspolitischen Sofortmaßnahmen gerade diese eine vergisst: den Ausstieg aus dem motorisierten Individualverkehr dadurch, dass ab 2030 keine PKWs mehr für den rein privaten Gebrauch zugelassen werden. Billiger ist Nachhaltigkeit leider nicht zu haben.

FridaysForFuture-Demonstration in Berlin, 20.09.2019, Foto: Leonhard Lenz

 

Ein etwas unfairer Trick des Rezensenten besteht darin, zu insinuieren, ich würde mich insgesamt gegen Produktivitätssteigerungen wenden – so, als ob ich bereits die Erfindung des Rads abgelehnt hätte. Ganz und gar nicht: Im Gegensatz zu Marx halte ich allerdings die Entwicklung der Produktivkräfte auf ihr Höchstmaß hin nicht für die Voraussetzung von Sozialismus, vor allem aber mache ich darauf aufmerksam, dass die etwa 300 Jahre Indus­trialisierung (die übrigens in ihrem Anfangsstadium gar nicht unter kapitalistischen Vorzeichen erfolgte; die fatale Liaison zwischen Industrialisierung und wachstumsgetriebenem Kapitalismus setzte erst Anfang des 19. Jahrhunderts ein) nur auf der Basis der massiven Verbrennung von fossiler Energie möglich war und deshalb menschheitsgeschichtlich betrachtet eine Singularität darstellt, die nicht einfach in die Zukunft zu extrapolieren ist.

Was das Marxismus-Verständnis betrifft: Hier sehe ich allerdings erhebliche grundlegende Differenzen zum Rezensenten, die hier zu erörtern natürlich den Rahmen bei Weitem sprengen würde. Ich gehe davon aus, dass wir Gelegenheit haben werden, einiges davon zu erörtern. Hier nur so viel: In meiner kleinen kommentierten Textsammlung Friedrich Engels, Im Widerspruch denken. Ansichten eines smarten Revolutionärs habe ich, meine ich, gut begründet, warum ich den „Anti-Dühring“ für eine fatale Umfälschung der Marx’schen kritischen Gesellschaftstheorie in eine recht krude dogmatische Weltanschauung halte. (Dies nur, um euch auf das Büchlein neugierig zu machen.)

Jedenfalls braucht der große humanistische Denker Karl Marx weder mich noch Jakob als Apologeten, eine Marx-Apologie hilft uns auch gar nicht weiter und erinnert mich doch fatal an erzkonservative katholische Kreise, für die eine Aussage nur dann als legitim gilt, wenn man sie schon bei Thomas von Aquin nachlesen kann. Ich halte es ganz mit Rosa Luxemburg, die Marx gerade dadurch die Ehre erwiesen hat, das sie ein entscheidendes Problem, an dem er selbst gescheitert ist (die „erweiterte Reproduktion“), eigenständig gelöst und damit eine treffsichere Analyse des globalen Kapitalismus ihrer Zeit geleistet hat: „Wie die ganze Weltanschauung Marxens ist sein Hauptwerk keine Bibel, mit fertigen ein für allemal gültigen Wahrheiten letzter Instanz, sondern ein unerschöpflicher Born der Anregung zur weiteren geistigen Arbeit, zum weiteren Forschen und Kämpfen um die Wahrheit.“

Nur einen Punkt, das Marxismus-Verständnis betreffend, möchte ich doch ansprechen, und zwar, weil er m. E. erhebliche Konsequenzen für unsere gemeinsame Praxis hat und eben nicht nur eine theoretische Frage für die „Schulungen“ ist, die zu durchlaufen ich nicht das Privileg hatte: mein mangelndes Klassenbewusstsein.

Woher der Rezensent ableiten will, dass ich das Proletariat auf das Industrieproletariat einenge, ist mir rätselhaft. Das tue ich keineswegs, aber ich meine ganz entschieden, dass wir uns, um auf der Höhe der Zeit zu denken, von so manchem nostalgischen Verhältnis, das uns so vertraut ist, verabschieden müssen. In der Phase unseres globalisierten Kapitalismus ist die Frage nach den Subjekten der Veränderung völlig neu zu stellen.

Leider ist sie nicht mehr in der Eindeutigkeit zu beantworten, wie dies Marx für seine Zeit getan hat. Zur Erinnerung: In einer seiner interessantesten Frühschriften, Vorwort zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie, begründet Marx, dass das – zu dieser Zeit übrigens noch recht schwach entwickelte – Proletariat aufgrund seiner objektiven (!) Position innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft das Subjekt der Veränderung schlechthin ist, weil das Interesse an der Emanzipation dieser Klasse objektiv zusammenfällt mit der Notwendigkeit der Transformation der ganzen Gesellschaft. Sie kann sich nur selbst befreien, indem sie die Gesellschaft insgesamt emanzipiert! Trotz mancher Korrekturen, die Marx an diesem Szenario später selbst vorgenommen hat, lag er damit wohl im Großen und Ganzen richtig.

Dieselbe Analyse trifft aber auf unsere heutige Situation gar nicht mehr zu. Das „Ausbeutungsverhältnis“, dem die abhängig Beschäftigten in den reichen Industrieländern unterworfen sind, ist um ein Vielfaches überlagert von der Ausplünderung des globalen Südens und der Natur durch eben diesen Kapitalismus des Zentrums! Ulrich Brand und Markus Wissen, zwei dezidiert antikapitalistische Wissenschaftler übrigens, haben dafür den Begriff der „imperialen Lebensweise“ geprägt. Die abhängig Beschäftigten hierzulande profitieren um ein Vielfaches mehr von diesem globalen Gefälle, als sie direkt unter ihrer subalternen Position innerhalb der kapitalistischen Ökonomie leiden. Sie sind also in viel größerem – wenn auch unterschiedlichem – Maß Profiteure des globalen Ausplünderungsregimes als dessen Opfer, sie haben nicht nur „nichts zu verlieren als ihre Ketten“, sondern zu einem guten Teil auch ihre Reihenhäuser, ihren Zweitwagen und ihren jährlichen Urlaubsflug.

      
Mehr dazu
Jakob Schäfer: Konsumboykott eine revolutionäre Strategie?, die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020)
Mauro Gasparini und Axel Farkas: Klimabewegung - Fortschritte und Hindernisse, die internationale Nr. 4/2019 (Juli/August 2019)
Ökologie-Kommission der Vierten Internationale: Unser Planet, unsere Leben sind mehr wert als ihre Profite, die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018)
Wolfgang Cürten: Wachstumswende – der Weg zur Nachhaltigkeit?, die internationale Nr. 5/2018 (September/Oktober 2018)
Klaus Engert: Michael Löwy – Ökosozialismus, die internationale Nr. 4/2017 (Juli/August 2017)
Alan Thornett: Daniel Tanuro über „grünen Kapitalismus“, Inprekorr Nr. 6/2014 (November/Dezember 2014)
Daniel Tanuro: Die Grundlagen einer ökosozialistischen Strategie, Inprekorr Nr. 6/2011 (November/Dezember 2011)
Michael Löwy: Klaus Engert: Ökosozialismus – das geht!, Inprekorr Nr. 464/465 (Juli/August 2010)
Daniel Tanuro: Klimaschutz und Antikapitalismus, Inprekorr Nr. 428/429 (Juli/August 2007)
 

Der Befund, dass es einen objektiven (!) Interessenszusammenfall an ihrer Emanzipation und der Transformation der Gesellschaft gäbe, stimmt einfach heute nicht mehr – und das erleben wir ja auch ganz konkret bei unseren Demos und Protestaktionen. Übrigens hat sich mit genau diesem Problem bereits Friedrich Engels herumgeschlagen, der an August Bebel das Folgende schreibt: „Lass dir um alles in der Welt nicht aufbinden, es sei hier [gemeint ist England] eine wirkliche proletarische Bewegung los. Die Teilnahme an der Beherrschung der Weltmärkte war und ist die ökonomische Grundlage der politischen Nullität der englischen Arbeiter.“ (MEW 36, 58) (Dringende Empfehlung: Wenn ihr schon nichts anderes als die marxistischen Klassiker zur Kenntnis nehmt, dann wenigstens die gründlich genug.) Die hässliche Fratze des Kapitalismus, die revolutionäre Potenziale freisetzen könnte, manifestiert sich eben nicht vornehmlich in der Situation der abhängig Beschäftigten hierzulande. Und die direkt davon Betroffenen (die Kleinbauern weltweit, die indigene Bevölkerung, die Bevölkerung, die sich gegen den Extraktivismus zur Wehr setzt, die großen völlig ausgegrenzten Menschenmassen im globalen Süden, die weder als Produzenten noch als Konsumenten von Interesse sind …), verfügen kaum über Druckpotenzial – nicht einmal, wenn sie als Geflüchtete zu uns kommen. Angesichts dieser Situation hilft es gar nichts, in Arbeiterbewegungsnostalgie zu schwelgen.

Ein letztes Wort noch zu den „Übergangsforderungen“, wie ihr sie im Anschluss an Trotzki nennt: Im Kampf um die natürlichen Lebensgrundlagen schlägt es in Zynismus um, wenn wir das ökologische Desaster als hilfsweises Argument für unsere unabhängig davon geläufige Kapitalismuskritik begrüßen und etwa daraus noch ableiten, alle politischen Bemühungen diesseits der revolutionären Veränderung wären sinnlos. Es geht schlicht ums Ganze, und wenn wir nicht in Kauf nehmen wollen, in eine Dynamik hineinzugeraten, in der wir überhaupt nicht mehr politisch gestalten, sondern im besten Fall Katastrophen verwalten können, dann bleibt uns nichts übrig, als – unabhängig von unseren unterschiedlichen Revolutionsszenarien – jetzt schon den „Pakt mit dem Teufel“ einzugehen und innerhalb der bestehenden Verhältnisse wenigstens die wichtigsten Weichenstellungen hinzukriegen. So sind meine ordnungspolitischen Sofortmaßnahmen zu verstehen. Im Kampf mit unseren brasilianischen Genoss*innen um eine Landreform in Brasilien lautete unser Slogan: Der Hunger kann nicht warten (A fome não pode esperar). Dasselbe gilt für die Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Dixi et salvavi animam meam.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz