Ukraine

Ein Memorandum zu einer radikal antiimperialistischen Position zum Krieg in der Ukraine

Gilbert Achcar

Die russische Invasion der Ukraine ist der zweite entscheidende Moment des Neuen Kalten Krieges, in den die Welt seit der Jahrhundertwende durch die Entscheidung der USA, die NATO zu erweitern, hineingezogen wurde. Der erste entscheidende Moment war die Invasion des Irak im Jahr 2003 unter Führung der USA. Am Ende war klar, dass die USA bei der Verfolgung ihrer imperialistischen Ziele restlos gescheitert waren. Der Preis, den der Irak zahlte – und zusammen mit den Nachbarländern noch immer zahlt –, war zwar enorm hoch, aber die Tendenz des US-Imperialismus, in andere Länder einzumarschieren, war erheblich gebremst worden, wie der jüngste Rückzug der USA aus Afghanistan zeigt.

Der Ausgang der russischen Invasion in der Ukraine ist daher für die Aggressionsbereitschaft aller anderen Länder entscheidend. Sollte sie scheitern, wird das eine abschreckende Wirkung auf alle globalen und regionalen Mächte haben. Aber falls es Russland gelingt, die Ukraine unter russischen Stiefeln zu „befrieden“, werden sich die globalen Verhältnisse in Richtung eines ungezügelten Gesetzes des Dschungels verschieben und auch den US-Imperialismus und seine Verbündeten zu einem noch aggressiveren Auftreten ermuntern.

Der unerschrockene Widerstand der ukrainischen Bevölkerung hat das gesamte Spektrum der reaktionären Bewunderer:innen Wladimir Putins – von der überzeugten Rechten auf der ganzen Welt und der extremen Rechten bis hin zu den pseudolinken Anhänger:innen des russischen Imperialismus – durcheinander gebracht. Ein Sieg Putins in der Ukraine würde diesen Vertreter:innen reaktionärer Politik enormen Auftrieb geben.

Hingegen herrscht in den Reihen der echten Antiimperialist:innen – abgesehen von einer generellen Verurteilung der russischen Invasion – eine gewisse Verwirrung darüber, welche konkreten Positionen zu Fragen im Zusammenhang mit dem laufenden Krieg eingenommen werden sollten. Es ist wichtig, diese Fragen zu klären.

      
Mehr dazu
Gilbert Achcar: Sechs häufig gestellte Fragen zum Antiimperialismus heute und dem Krieg in der Ukraine, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Büro der Vierten Internationale: Nein zu Putins Invasion in der Ukraine! Unterstützung für den ukrainischen Widerstand! Solidarität mit dem russischen Widerstand gegen den Krieg!, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Internationalistisches Manifest gegen den Krieg, intersoz.org (11.4.2022)
Antikapitalistische Linke, Belgien: Nein zu Russlands imperialistischer Aggression gegen die Ukraine!, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Sekretariat der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO): Nein zum Überfall auf die Ukraine!Die Kriegstreiber in Ost und West stoppen!, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Russische Sozialistische Bewegung (RSD): Gegen den russischen Imperialismus, Hände weg von der Ukraine!, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Erklärung ukrainischer Sozialist*innen: Internationale Solidarität gegen den Krieg!, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Philippe Poutou (Neue Antikapitalistische Partei, NPA): Nieder mit den imperialistischen Kriegen!Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung gegen Putins militärische Aggression!, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Erklärung der Russischen Sozialistischen Bewegung (RSD): Für Frieden und Deeskalation, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Büro der Vierten Internationale: Gegen die militärische Eskalation der NATO und Russlands in Osteuropa, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Nationales Komitee von Solidarity: Russland raus aus der Ukraine ‒ Solidarität mit dem Volk der Ukraine! Nein zur NATO ‒ jetzt und in Zukunft!, intersoz.org (2.3.2022)
 
  1. Es reicht nicht aus, an Russland zu appellieren, seine Angriffe einzustellen und „einen sofortigen Waffenstillstand und eine Rückkehr an den Verhandlungstisch“ zu fordern. Beim Einmarsch der Vereinigten Staaten in den Irak haben wir uns auch nicht einer solchen UN-Diktion bedient, sondern – wie bei jeder Invasion eines Landes durch ein anderes – den sofortigen und bedingungslosen Rückzug der Aggressoren gefordert. Ebenso sollten wir nicht nur ein Ende der Aggression, sondern auch den sofortigen und bedingungslosen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine fordern.

  2. Die Forderung nach einem Rückzug Russlands gilt für jeden Zentimeter des ukrainischen Territoriums – einschließlich der 2014 von Russland eroberten Gebiete. Wenn es, wo auch immer auf der Welt, einen Streit über die Zugehörigkeit eines Gebiets gibt – wie im aktuellen Fall der Krim oder der Provinzen in der Ostukraine –, halten wir es für inakzeptabel, den Konflikt mit roher Gewalt und dem Gesetz des Stärkeren zu lösen, sondern ausschließlich durch die freie Ausübung des Rechts auf demokratische Selbstbestimmung durch die betroffenen Menschen.

  3. Wir sind gegen die Forderung nach einer direkten militärischen Intervention einer imperialistischen Macht gegen eine andere, sei es durch den Einsatz von Bodentruppen oder die Verhängung einer Flugverbotszone aus der Ferne. Grundsätzlich lehnen wir jede direkte militärische Intervention einer imperialistischen Macht ab, egal wo. Eine dieser Mächte zu ermutigen, die Auseinandersetzung mit einer anderen Macht zu suchen, hieße, sich einen Weltkrieg zwischen Atommächten zu wünschen. Abgesehen davon wäre es gar nicht möglich, eine solche Intervention im Rahmen des Völkerrechts durchzuführen, da die meisten imperialistischen Großmächte im UN-Sicherheitsrat ein Vetorecht haben. Auch wenn es verständlich ist, dass die ukrainischen Opfer der Aggression aus einer Verzweiflung heraus solche Forderungen stellen, sind sie dennoch unverantwortlich.

  4. Wir sind für die bedingungslose Lieferung von Verteidigungswaffen an die Opfer jeglicher Aggression: im aktuellen Fall an die Ukraine, die die russische Invasion in ihr Territorium bekämpft. Kein verantwortungsbewusster Antiimperialist, keine verantwortungsbewusste Antiimperialistin ist je für einen Eintritt der UdSSR oder China in den Vietnamkrieg gegen die Invasion der USA eingetreten, aber alle radikalen Antiimperialist:innen waren für die Aufstockung von Waffenlieferungen Moskaus und Pekings an den vietnamesischen Widerstand. Es ist die Pflicht von Internationalist:innen, denjenigen, die einen berechtigten Krieg führen, die Mittel für den Kampf gegen einen übermächtigen Aggressor in die Hand zu geben. Solche Lieferungen rundheraus abzulehnen, steht im Widerspruch zur grundsätzlichen Solidarität mit den Opfern.

  5. Wir haben keine allgemeingültige Position zu Sanktionen. Wir haben die Sanktionen gegen den südafrikanischen Apartheidstaat befürwortet und wir treten auch für Sanktionen gegen die koloniale Besatzung durch israelische Siedler:innen ein. Wir haben aber die Sanktionen, die nach seiner Zerstörung durch den Krieg 1991 gegen den Irak verhängt wurden, abgelehnt, denn das waren mörderische Sanktionen, die keinem gerechten Zweck dienten, sondern um den Preis eines Massenmords an der Bevölkerung ausschließlich der Unterwerfung eines Staates unter den US-Imperialismus. Die westlichen Mächte haben aufgrund der russischen Invasion in die Ukraine eine Reihe neuer Sanktionen gegen Russland beschlossen. Einige davon werden vermutlich in der Tat den Handlungsspielraum von Putins autokratischem Regime bei der Finanzierung seiner Kriegsmaschinerie einengen, während andere zulasten der russischen Bevölkerung gehen, ohne dem Regime oder seinen oligarchischen Spießgesellen wesentlich zu schaden. Aufgrund unserer Ablehnung der russischen Aggression sowie unserem Misstrauen gegenüber den westlichen imperialistischen Regierungen sollten wir westliche Sanktionen weder unterstützen noch deren Aufhebung fordern.

  6. Nicht zuletzt ist es von einem fortschrittlichen Standpunkt aus selbstverständlich, die Öffnung aller Grenzen für ukrainische Flüchtlinge zu fordern – sowie generell für alle Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, egal aus welchem Teil der Welt sie kommen. Die Pflicht zur Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen und die damit verbundenen Kosten müssen auf alle reichen Ländern fair verteilt werden. Darüber hinaus sollte dringend benötigte humanitäre Hilfe auch Binnenvertriebenen innerhalb der ukrainischen Grenzen zugutekommen.

Solidarität mit dem ukrainischen Volk!

27. Februar 2022
Quelle: https://newpol.org/a-memorandum-on-the-radical-anti-imperialist-position-regarding-the-war-in-ukraine/
Aus dem Englischen übersetzt von EF



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz