Gleitende Lohnskala/Belgien

Lohnindexierung in Belgien

Auch in Belgien ist die Gleitende Lohnskala unter Beschuss. Vor allem der Anwendungsmechanismus entscheidet, ob und wie viel Geld die Lohnabhängigen trotz Indexierung verlieren.

Johan Seynaeve

Die Lohnindexierung und der damit verbundene nationale Verbraucherpreisindex (NICP) wurden in Belgien 1920 eingeführt. [1]


Einführung der Lohnindexierung in einer international revolutionären klassenpolitischen Lage kurz nach dem Ersten Weltkrieg


Der verheerende imperialistische Weltkrieg, der Zerfall der Vorkriegsreiche Deutschlands, Russlands, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs und die erfolgreiche sozialistische Revolution in Russland hatten nach Kriegsende ein geopolitisches Klima sozialer Umwälzungen mit (vor-)revolutionären Situationen in Deutschland, Österreich und Ungarn sowie nationalistischen und antikolonialen Aufständen in Irland, Indien, Ägypten, Sudan, Irak, Algerien und Indochina geschaffen. In anderen Industrieländern gab es massive Streikbewegungen und Widerstand gegen die Folgen der Wirtschaftskrise und den Rückgang der Kaufkraft.

In Belgien war die Lage der Arbeiter*innenklasse extrem schlecht: Im Juli 1920 waren die belgischen Preise im Vergleich zu 1914 (dem Bezugsjahr des ersten NICP) um 236 % gestiegen; mehr als die Hälfte des Einkommens wurde für Lebensmittel ausgegeben; viele Familien hatten einen oder mehrere Erwerbstätige im Krieg verloren, usw. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand kam es zu spontanen Streiks in den Kohlebergwerken und Metallbetrieben, sie sind die wichtigsten Industriezweige. Allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 1919 meldete die Arbeitsinspektion 733 Streiks. Die wichtigsten Forderungen waren eine Lohnerhöhung um 100 %, eine Verkürzung der Arbeitszeit (8-Stunden-Tag), ein Mindestlohn und die Anerkennung der Gewerkschaften.

Zur Sicherung ihrer Position als herrschende Klasse musste die Bourgeoisie einen Teil der Forderungen erfüllen.


Verschiedene Indexierungsmechanismen


Im gleichen Zeitraum wurden mehrere „paritätische Ausschüsse“ ‒ Konsultationsgremien zwischen Gewerkschaften und nach Branchen organisierten Unternehmerverbänden ‒ eingerichtet. In diesen Ausschüssen wurde festgelegt, wie die Löhne an die Inflation angepasst werden mussten. Dies führte zur Einrichtung unterschiedlicher Systeme je nach paritätischem Ausschuss. Dabei gibt es zwei Hauptgruppen:

In einigen paritätischen Ausschüssen sind nur die Mindestlöhne an den Index angebunden. Ansonsten kann für jedes Unternehmen ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) abgeschlossen werden, in dem die automatische Lohnindexierung auf Löhne angewendet wird, die über dem Mindestlohn liegen. Bislang sehen einige paritätische Arbeitsausschüsse kein Indexierungssystem vor: Die Bezüge von etwa 8 % der abhängig Beschäftigten sind überhaupt nicht an den Index angebunden.

Wir wollen auch darauf hinweisen, dass die Lohnanpassung immer hinter der Verbraucherpreisinflation zurückbleiben wird, wenn die Löhne nicht monatlich an die Inflation angepasst werden. Zur Veranschaulichung werden in den folgenden Schaubildern drei Systeme der Lohnindexierung dargestellt:

Dazu vier Beispiele mit Abbildungen. Horizontal die Anzahl der Monate (die Diagramme decken einen Zeitraum von 5 Jahren ab), vertikal die Monatslöhne. Der monatliche Ausgangslohn beträgt immer 2 500 €.


Der Indexlohn seit den 1970er Jahren unter Druck


Vor dem Hintergrund günstiger ökonomischer Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg konnten kräftige Lohnerhöhungen durchgesetzt werden. Bis Anfang der 1970er Jahre wurde die auf Befriedung ausgerichtete Unternehmenspolitik nicht grundlegend infrage gestellt. Doch mit Rückgang der Profitraten nahm die herrschende Klasse einen anderen Standpunkt ein: Im Zug umfangreicher Umstrukturierungen der Wirtschaft wurden die Gewerkschaften geschwächt, vor allem aufgrund des sprunghaften Anstiegs der Arbeitslosigkeit. In Europa wurde nicht zuletzt die automatische Anpassung der Löhne und Gehälter ausgehöhlt. [2] In anderen Ländern wird die Lohnindexierung in der Privatwirtschaft nach wie vor nur durch Tarifverträge festgelegt.

Nur in Belgien, Zypern, Malta und Luxemburg gibt es noch eine Art automatischer Lohnindexierung für einen erheblichen Teil der Beschäftigten im privaten Sektor. Sie betrifft jedoch nur 3 % der Gesamtbeschäftigtenzahl im Privatsektor der Euro-Länder. Auch in Belgien ist es der Bourgeoisie gelungen, das System der automatischen Indexierung zu schwächen.


Überblick über die Eingriffe in die Lohnindexierung seit den frühen 1980er Jahren



Das Gesetz zur Lohnnorm (‚loonnormwet‘)


Trotz der automatischen Lohnindexierung wurde die Kaufkraft der Beschäftigten in Belgien durch die Einführung des „Gesetzes zur Förderung der Beschäftigung und zur präventiven Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit“, auch „Loonnormwet“ (Lohnnormgesetz) genannt, 1996 stark geschwächt. Dieses Gesetz (initiiert von der damaligen Regierung, einer Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten) gibt der Kapitalistenklasse die Garantie, dass die Löhne in Belgien nicht schneller steigen als in den Nachbarländern.

      
Mehr dazu
Inflation: Welche Gegenwehr? – Dossier, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Heinrich Neuhaus: Zur Aktualität der „gleitenden Lohnskala“, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Auszug aus dem „Übergangsprogramm“ der IV. Internationale: „Gleitende Lohnskala und gleitende Skala der Arbeitszeit“, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Michael Weis: Die scala mobile als Gradmesser der Klassenkämpfe, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Alain Sertic: Ein erneuter Angriff auf den „Lohnindex“ in Luxemburg, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Internationale Sozialistische Organisation: Was tun gegen die Teuerung?, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Jakob Schäfer: Energiepreisentwicklung und allgemeine Teuerung, intersoz.org (1.12.2021)
Ingo Schmidt: Inflation: Daten, Erklärungen, Politik, Sozialistische Zeitung (Dezember 2021)
Stéphanie Treillet: Hohe Preise – und die Löhne?, Inprekorr Nr. 442/443 (September/Oktober 2008)
 

2017 wurde der Mechanismus weiter verschlechtert. Die zuvor indikative Lohnspanne wurde zu einem gesetzlichen Höchstwert. Außerdem wird die Senkung der Unternehmerbeiträge zur Sozialversicherung ab 2016 (die „Steuerverschiebung“, die eine Gesamtsenkung der Arbeitskosten in der Privatwirtschaft um ca. 3 Mrd. € jährlich bedeutet) bei der Ermittlung der belgischen Arbeitskosten im Vergleich zu den Arbeitskosten in den Nachbarländern nicht berücksichtigt.

Die Lohnkosten in Abhängigkeit von anderen Ländern zu vergleichen und zu begrenzen, bedeutet, die Lohnbildung aus dem Blickwinkel der Kapitalistenklasse zu betrachten, d. h. zu verhindern, dass die Konkurrenz mit anderen, ausländischen Kapitalen auf Kosten des Profits geht. Das Interesse der Mehrheit der Gesellschaft, die Kaufkraft zu erhalten (und mit steigender Produktivität zu erhöhen), muss dem geopfert werden.

Dies bestätigt die marxistische These, dass der Staat keine über den Klasseninteressen stehende Instanz ist, sondern ein Instrument in den Händen der herrschenden Klasse. Die Existenz der automatischen Lohnindexierung in Belgien hat nicht verhindern können, dass die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung im Laufe der letzten Jahrzehnte durch verschiedene staatliche Eingriffe gemindert wurde.


International anziehende Inflation


Die automatische Anpassung der Löhne an den Index, wie sie derzeit in Belgien vorgenommen wird, reicht nicht aus, um den starken Anstieg der Verbraucherpreise zu kompensieren. Dies gilt insbesondere für die 40 % der Beschäftigten, die nur eine jährliche Anpassung erhalten und daher bis zum nächsten Jahr warten müssen, bis ihr Lohn an den Referenzindex angepasst wird.

Auf der anderen Seite veranlasst die steigende Inflation die Unternehmer dazu, ihr Wehklagen über steigende Lohnkosten zu verstärken. Um die Kaufkraft wirklich wiederherzustellen, muss es eine monatliche Anpassung der Löhne an den monatlich berechneten NICP geben. Darüber hinaus müssen nicht nur die Arbeitsentgelte und Sozialleistungen an den NICP angepasst werden, sondern auch die Grenzsteuersätze, Steuerbefreiungen, Abzüge und Ermäßigungen.

Wenn wir dem Gespenst der Inflation und ihren negativen Auswirkungen auf die Kaufkraft der Arbeiterklasse ein für alle Mal ein Ende setzen wollen, gibt es keinen anderen Weg als den Kampf für eine vollständige Anpassung der Löhne an die Verbraucherpreise:

„Die Verantwortung der großen kapitalistischen Unternehmen, der Banken und des bürgerlichen Staates für die systematische Organisation von Preiserhöhungen muss konkret benannt und angeprangert werden. Die Kontrolle der abhängig Beschäftigten über die Berechnung der Selbstkosten in den Produktionsbetrieben, die Kontrolle der Beschäftigten über die Zwischenhändler zwischen den Produktionszentren und dem Verkauf an den Endverbraucher muss es ermöglichen, die Gewinnspannen und das Schmarotzertum sowie die Spekulationen, die die Quellen der Inflation sind, aufzudecken.

Die Forderung nach einer Verstaatlichung der großen Konzerne und Finanzintermediäre, die für die Inflation verantwortlich sind, ohne Entschädigung oder Aufkauf und ihre Verwaltung unter Arbeiterkontrolle werden dann zur Hauptantwort der Arbeiterbewegung gegen die Inflation als Ganzes.“ [3]

Es versteht sich, dass dies eine offensive Einstellung der Arbeiter*innenbewegung und eine langfristige Mobilisierung der gesamten Arbeiter*innenklasse erfordert.

Johan Seynaeve ist Wirtschaftswissenschaftler und betrieblicher Gewerkschaftsvertreter der Sozialistischen Gewerkschaft (einer der drei Richtungsgewerkschaften in Belgien).
Kürzung und Übers.: Jakob S.



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[1] Für eine ausführliche Diskussion über die belgische Arbeiterbewegung in dieser Zeit siehe: Brepoels, J. (2016). Wat zoudt gij zonder ‚t werkvolk zijn? De geschiedenis van de Belgische arbeidersbeweging 1830–2015, S.212 ff. Der Autor stellt fest, dass in der Zeit von 1918 bis 1921 einige Forderungen, für die die Arbeiter*innen jahrzehntelang gekämpft hatten, erfüllt wurden. Dazu gehörten die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer ab 21 Jahren (in Belgien erhielten Frauen erst 1948 das Wahlrecht auf allen Ebenen), die Einführung der gesetzlichen Rente mit 65 Jahren, der Achtstundentag (sechs Tage pro Woche), ein gesetzlicher Mindestlohn und die Abschaffung des Streikverbots.

[2] Dies gilt vor allem für Dänemark, Frankreich, Italien, die Niederlande und Spanien. Siehe dazu: „Wage indexation in the European Union“; European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions, 2010.

[3] Ernest Mandel: „La défense du pouvoir d’achat des travailleurs contre l’inflation et la vie chère“ (1974)