Zum besseren Verständnis des nachfolgenden Auszugs aus dem Übergangsprogramm hier einige Erläuterungen.
Heinrich Neuhaus
Derzeit erleben wir eine in dieser Höhe seit Jahrzehnten nicht mehr gekannte Inflation. Als Inflation gilt eine fortgesetzte und allgemeine Erhöhung der Verbraucherpreise. Wie sollten wir uns dagegen wehren? Inflation kann als das Ergebnis eines Verteilungskonflikts definiert werden, bei dem es um die Aufteilung der produzierten Reichtümer geht. Die Kapitalseite nutzt sie immer wieder zur Aufrechterhaltung ihrer Profitraten.
Eine interessante Antwort auf diese Frage kann der nachfolgende Auszug aus dem „Übergangsprogramm“ der IV. Internationale geben. [1] Er befasst sich mit der Frage der „gleitenden Lohnskala“.
Die „gleitende Lohnskala“ wird in diesem wegen seines methodischen Ansatzes nach wie vor grundlegenden Text als Kampflosung gegen die Teuerung propagiert und wie folgt erklärt: „Tarifverträge [müssen] eine automatische Erhöhung der Löhne parallel zu den Preissteigerungen der Verbrauchsgüter garantieren“.
Kapitalistische Ausbeutung und imperialistische Unterdrückung führen zwar immer wieder zu Massenkämpfen. Spontan werden dabei in der Regel jedoch nur unmittelbare Forderungen formuliert. Zum Beispiel die Verteidigung oder Erhöhung der Reallöhne oder die Verteidigung oder Durchsetzung gewisser demokratischer Rechte.
Die Herrschenden sind erfahren genug, um die Brisanz von großen außerparlamentarischen Bewegungen zu verstehen. Deshalb versuchen sie, diese zu verhindern und − wenn das nicht gelingt − zu integrieren oder notfalls zu unterdrücken. Mit den Methoden von „Zuckerbrot und Peitsche“, „Brot und Spielen“, „Teilen und Herrschen“, „Mediation und Konsultation“, „Ruhe und Ordnung“ und dergleichen mehr ist das auch immer wieder möglich. Gelingt es dem Kapital, der Staatsmacht und den systemkonformen Medien aber nicht, solche Massenkämpfe zu verhindern oder niederzuhalten, kann die kapitalistische Klasse – und ihr politisches Personal – Zugeständnisse machen. Das wird umso eher geschehen, je mehr sie über Instrumente verfügt, um Konzessionen auszuhöhlen oder ganz zurückzunehmen. So können etwa Lohnsteigerungen seitens der Firmenleitungen durch Preiserhöhungen von Waren oder durch „Kostensenkungen“ in der Produktion zugunsten des Profits kompensiert werden. Wenn Bewegungen der arbeitenden Klasse soziale Verbesserungen durchsetzen, können zum Beispiel bestimmte Steuern erhöht werden. Letztlich zahlt dann doch die große Mehrheit für die Zugeständnisse des Staates.
Dieser Teufelskreis ist nur zu durchbrechen, wenn sich Massenbewegungen Übergangsforderungen zu eigen machen. Deren Besonderheit ist, dass ihre Durchsetzung das normale Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft und des bürgerlichen Staates grundsätzlich infrage stellt. Übergangsforderungen sind so zu formulieren, dass sie für eine große Öffentlichkeit verständlich sind. Sie müssen an aktuellen Problemen und an den jeweiligen Bedingungen anknüpfen. Nur dann können sie populär werden. Ihr Inhalt und die Tiefe der zu ihrer Durchsetzung erforderlichen Klassenauseinandersetzungen können dann zum einen die Logik des kapitalistischen Systems im Denken und im Handeln der Kampfenden infrage stellen. Zum anderen können sie die Bildung von Formen selbstorganisierter demokratischer Gegenmacht der Massen befördern (Komitees, Räte …). [2] Um das Klassenbewusstsein der abhängig Beschäftigten entwickeln zu können, braucht es also vor allem die Ermöglichung von Kampferfahrungen und eine „Strategie der Übergangsforderungen“. Letztere wird nur durch eine organisierte politische Verbindung mit den aktivsten und fortschrittlichsten Sektoren der arbeitenden Klasse entwickelt und vermittelt werden können. Die „gleitende Lohnskala“ ist keine aus Computerspielen kopierte verrückte Idee. Es ist aber kaum verwunderlich, dass angesichts der politischen und medialen Verhältnisse hierzulande weitestgehende Ahnungslosigkeit über dieses hochaktuelle Thema vorherrscht. Versuchen wir also mit unseren bescheidenen Mitteln, diesem Missstand ein klein wenig abzuhelfen.
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Vor allem in Frankreich (von 1952 bis 1982) und Italien (von 1945 bis 1992) war die „gleitende Lohnskala“ jahrzehntelang in unterschiedlicher Form Realität, – bis sie von jeweils sozialdemokratisch geführten Regierungen abgeschafft wurde.
Auch heute noch werden sowohl in Belgien (seit 1919/20) als auch in Luxemburg (seit 1921) Löhne, Gehälter und sonstige Bezüge wie Renten automatisch an die Preissteigerungen angepasst – sehr zum Ärger der Europäischen Kommission, des Internationalen Wahrungsfonds, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Ratingagenturen und der dortigen prokapitalistischen Regierungen und ihrer Auftraggeber.
In Belgien und in Luxemburg ersetzt allerdings die „gleitende Lohnskala“ nicht das gewerkschaftliche Aushandeln und Durchsetzen von Entgelt-Tarifverträgen.
Jedoch erfordert − wie eingangs angemerkt − eine umfassende „gleitende Lohnskala“ im Sinne des „Übergangsprogramms“ unter anderem auch „Tarifverträge [, die] eine automatische Erhöhung der Löhne parallel zu den Preissteigerungen der Verbrauchsgüter garantieren“.
Von großer Bedeutung ist es aber, sich nicht auf die (Noch-)Beschäftigten zu beschränken, sondern immer die Einheit der gesamten arbeitenden Klasse im Auge zu behalten. Das kann insbesondere durch die Verknüpfung mit der Losung der „gleitenden Skala der Arbeitszeit“ geschehen, die die Interessen der Erwerbslosen und der prekär Arbeitenden mit in den Blick nimmt.
30. Mai 2022. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz