Gleitende Lohnskala/Italien

Die scala mobile als Gradmesser der Klassenkämpfe

Die gleitende Lohnskala (scala mobile) in Italien wurde 1945 zwischen dem Unternehmerverband Confindustria und den großen Gewerkschaftsverbänden vereinbart, um eine Anpassung der Löhne an die steigenden Lebenshaltungskosten zu gewährleisten.

Michael Weis

Galt die Vereinbarung zunächst nur für den Norden Italiens, wurde sie im Folgejahr auf den Rest des Landes ausgeweitet. Zugrunde lag die zweimonatlich (später dreimonatlich) vorgenommene Berechnung eines Korbes von Waren und Dienstleistungen, der den Verbrauch einer typischen Familie mit zwei Ehepartnern und zwei Kindern abbildete und von einer paritätisch besetzten Kommission ermittelt wurde. Entlang dieses Index wurde eine vierteljährliche Anpassung in Form einer Zulage für unvorhergesehene Ausgaben vorgenommen, die somit ein zusätzliches Element zum Grundgehalt darstellte und ein variabler Bestandteil des Gesamtgehalts in Abhängigkeit von der Entwicklung der Lebenshaltungskosten war. Die Ermittlung dieses Warenkorbs durch diese Kommission sorgte für eine weitgehend realistische Abbildung der Lebenshaltungskosten, anders als die mittlerweile üblichen Statistiken, die allzu offensichtlich interessengeleitet sind.

Dadurch war es den italienischen Gewerkschaften gelungen, im Gegensatz zum Gros der anderen europäischen Länder in den 1970er Jahren das Reallohnniveau zu halten, das statistisch zu den höchsten in Europa zählte. Dies war aus Sicht der italienischen Bourgeoisie und ihrer politischen Vertretungen nicht länger hinnehmbar, da dadurch die Profite der Konzerne systematisch geschmälert wurden. Also wurde mithilfe der Massenmedien, der Wirtschaftswissenschaftler*innen, der Politik und selbst eines Teils der Gewerkschaften eine systematische Infragestellung des Arbeitsrechts ins Visier genommen, um die Voraussetzungen für dessen Aufweichung und Abschaffung zu bereiten.

Ein zentrales Argument dabei war, dass die gleitende Lohnskala eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setze und die Inflation anheize, die von durchschnittlich 9,9 % in der ersten auf 16,5 % in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gestiegen war. Um die Inflation einzudämmen, erließ die Regierung 1976 ein Gesetzesdekret, mit dem die Lohnanpassung für 19 Monate eingefroren wurde und 1977 stimmten die Gewerkschaften einer Änderung der Berechnungsweise des Warenkorbs zu. Paradoxerweise teilte die traditionelle Linke diese vorherrschende Diagnose, die die Inflation auf den Lohndruck und nicht etwa auf die permanente Abwertung der Währung zurückführte, und machte schließlich der Gegenseite das Zugeständnis, dass eine andere Einkommenspolitik notwendig sei. Der CGIL-Führer Lama hielt es in einem Interview 1978 für „selbstmörderische Politik, den Betrieben überflüssige Arbeitskräfte aufzuzwingen“.

      
Mehr dazu
Inflation: Welche Gegenwehr? – Dossier, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Heinrich Neuhaus: Zur Aktualität der „gleitenden Lohnskala“, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Auszug aus dem „Übergangsprogramm“ der IV. Internationale: „Gleitende Lohnskala und gleitende Skala der Arbeitszeit“, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
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Internationale Sozialistische Organisation: Was tun gegen die Teuerung?, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Jakob Schäfer: Energiepreisentwicklung und allgemeine Teuerung, intersoz.org (1.12.2021)
Ingo Schmidt: Inflation: Daten, Erklärungen, Politik, Sozialistische Zeitung (Dezember 2021)
Stéphanie Treillet: Hohe Preise – und die Löhne?, Inprekorr Nr. 442/443 (September/Oktober 2008)
 

Der entscheidende Schritt auf dem Weg zum Sozialabbau war das Dekret der Regierung Craxi vom Februar 1984. Damit wurde eine Vereinbarung zur Kürzung der Lohnanpassung in Gesetzesform gegossen, die zwischen einem Teil der Gewerkschaften und den Unternehmerverbänden zuvor getroffen worden war. Das Referendum gegen dieses Dekret, das auf Initiative des PCI lanciert und von den Gewerkschaften nur halbherzig unterstützt wurde, ging verloren, wobei die Hochburgen des PCI im Norden ausschlaggebend waren. Bereits ein Jahr zuvor war ein erster Sozialpakt mit den drei Gewerkschaftsverbänden unterzeichnet worden, in dem die Lohnanpassung weiter gekürzt, obligatorische Überstunden zugestanden und die Prekarisierung des Arbeitsverhältnisses eingeleitet wurden und damit eine entscheidende Bresche in die Mauer der scala mobile geschlagen wurde.

In den Folgejahren kam es zu weiteren Einschnitten: Die Anpassung erfolgte nur noch auf halbjährlicher Basis, statt vierteljährlich; Differenzierung entlang der Lohnstufen statt gleicher Punktwert für alle Beschäftigten; Anpassung der Löhne und Gehälter nicht mehr durch Punktwerte, sondern prozentual; Anpassung nur noch eines Teils der Löhne und Gehälter an die gestiegenen Lebenshaltungskosten.

Im Juli 1992 kam dann unter der Regierung Amato das endgültige Aus der scala mobile. Als Ausgleich, so versprach Amato, werde es einen Preisstopp, der die Inflationsrate bei 3,5 Prozent einfrieren soll (derzeit rund 6 Prozent) sowie eine Lohnerhöhung von 20 000 Lire (rund 26 DM) geben. Die Gewerkschaftsbosse erklärten, dass man mit dem Kompromiss leben könne, zumal die Sicherheit des Lebensstandards durch die Preisstabilität nun endlich gefestigt werde. 1995 wurden auch die letzten Reste zu Grabe getragen und an die Stelle der Lohnindexierung ein zweistufiges Lohnfindungssystem gesetzt und Rahmenverträge eingeführt.

Damit wurde der Weg frei gemacht für die Eingliederung in die neoliberale Verfasstheit der EU. Nach ihrer Zustimmung in die Abschaffung der scala mobile bekundeten die Gewerkschaften ihre Einsicht auch in weitere „unumgängliche“ strukturelle Maßnahmen wie die Revision des Rentensystems und weitere Senkungen der Sozialausgaben. So wurde aus einem Land, das noch zwei Jahrzehnte zuvor Schauplatz heftigster Klassenkämpfe gewesen war, nunmehr ein auch nördlich der Alpen bewunderter Musterknabe der Anpassung an die Konvergenzkriterien von Maastricht. Kein Wunder, dass die Arbeiterbewegung nunmehr ein Schattendasein führt.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz