Kapital und Regierung lassen nicht locker in ihren Bemühungen, den gesicherten Inflationsausgleich abzuschaffen.
Alain Sertic
Das Großherzogtum ist neben Belgien einer der wenigen Staaten in Europa, die noch über einen gesetzlich garantierten oder wenigstens teilweisen Inflationsausgleich verfügen. Die Industriegewerkschaften erlebten ihren realen Durchbruch in Luxemburg erst während des Ersten Weltkrieges, wo Rationierungen und Inflation die Arbeiterschaft an den Rand einer Hungerrevolte geführt hatten. Die Anpassung der Gehälter an die Preisentwicklung gehörte deshalb von Beginn an zu den zentralen Forderungen der ersten gewerkschaftlichen Massenaktionen.
Trotz der Niederlage des März-Streiks von 1921 wurde in demselben Jahr erstmals eine Indexierung der Löhne und Gehälter für die Eisenbahner und Staatsbeamten per Kollektivvertrag festgehalten. 1927 folgte der kommunale Sektor. Im Zuge der erneuten Erstarkung der Gewerkschaften nach 1936, konnte der garantierte Inflationsausgleich endlich auch in den Kollektivverträgen der Stahlindustrie festgeschrieben werden. Der damalige Preisindex basierte auf einem Warenkorb von 19 Produkten (heute sind es deren 40 000). Nach dem zweiten Weltkrieg ging die Entwicklung zuerst eher zaghaft voran. Gewerkschaftliche Ausgrenzungen im Kontext des „kalten Krieges“ blockierten einen schnellen Durchbruch, trotzdem wurde das System langsam ausgedehnt. Seit 1965 ist eine automatische Anpassung der Gehälter an die Preisentwicklung in jedem Kollektivvertrag Pflicht. Ab 1972 finden die Index-Anpassungen automatisch bei einer durchschnittlichen Preissteigerung ab 2,5 % statt. Der offensive Warnstreik vom 9. Oktober 1973 läutet einen sozialen Wechsel ein und 1975 weitet die neue sozial-liberale Regierungskoalition, bestehend aus Liberalen und Sozialdemokratie unter Gaston Thorn, die Lohnindexierung auf alle Löhne, Renten und Zuwendungen aus, unabhängig vom Wirtschaftssektor oder dem Statut des „Arbeitnehmers“.
Die Gewerkschaften feiern diesen Erfolg als historische Errungenschaft und die sozial-liberale Regierung hatte damit ihren Zenit erreicht. Einige Monate später begann mit der Rezession im Stahlsektor und dem „friedlichen Abbau“ der Montanindustrie ‒ und parallel dazu dem Aufbau des „Finanzplatzes“ ‒ ein anderes neues Kapitel in der Geschichte Luxemburgs.
Der friedliche Abbau mittels der „konzertierten Aktion“, einer Dreier-Verhandlungsrunde zwischen Vertreter*innen des Kapitals, der Regierung und der Gewerkschaftsführungen – in Luxemburg kurz „Tripartite“ genannt – wurde zum Inbegriff des sozialpartnerschaftlichen Luxemburger Modells. Eine kritische Hinterfragung dieser Politik wurde ab dato von den Führungen von LSAP [2] und den Gewerkschaften quasi mit Hochverrat gleichgestellt und gebrandmarkt. Die Belegschaften erhielten die Zusagen, dass der Stellenabbau nicht zu Entlassungen führen würde, sondern dass die davon Betroffenen durch staatlich finanzierte „Notstandsarbeiten“ weiter mit Lohngarantie beschäftigt würden. Der Preis dafür war allerdings die Entsolidarisierung der Luxemburger Stahlarbeiter während der massiven Streiks und Betriebsbesetzungen der Stahlbelegschaften im nahen Grenzland, so 1977 in Athus (Belgien) und 1979–87 in Longwy (Frankreich). Die hiesige kommunistische Partei ‒ sowohl der stalinistische Flügel als auch die Eurokommunisten ‒, obwohl damals stark in den Betriebsräten und ebenfalls im Parlament vertreten, akzeptierten dieses Spielchen und gingen in der Folgezeit daran zugrunde.
Die politischen Auswirkungen dieser Entwicklung leiteten den Übergang zum Neoliberalismus in Luxemburg ein, und schon Anfang der 80er Jahre fühlte sich das Patronat stark genug, um die Lohnindexierung erneut anzugreifen. Die Sozialdemokratie war in dieser Frage noch gespalten und stark verunsichert. Der Gewerkschaftsflügel zauderte. Da preschte der damalige Vorsitzende der linken Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes u. Eisenbahner Jeannot Schneider vor und verkündete einen eintägigen Warnstreik für den 5. April 1982. Die Wirkung war derart groß, dass der Warnstreik in gewerkschaftlicher Einheitsfront stattfand und de facto zu einem Generalstreik der Lohnabhängigen für den Erhalt des Inflationsausgleiches wurde. Die liberal-konservative Regierung zog ihr Projekt zwar durch, es hatte aber derartige Auswirkung auf die Parlamentswahlen von 1984, dass anschließend mit der Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten die allgemeine „Indexierung“ erneut in Kraft gesetzt wurde.
Diese historische Auseinandersetzung bewies, dass der automatischen Inflationsausgleich von den Lohnabhängigen Luxemburgs als wichtigste Errungenschaft für den Erhalt ihrer Kaufkraft angesehen wurde. Es ist und bleibt „ein roter Faden“, der die Klassengrenze in der Sozialpolitik Luxemburgs markiert. Allerdings blieb das mittlerweile zum Steuerparadies mutierte Land nicht von einer Verschlechterung der politischen Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital verschont. Die vorherigen Bastionen, wie in der Stahlindustrie wurden marginal, die Eisenbahn schrumpfte im Verhältnis dazu, dagegen wuchs der Dienstleistungssektor enorm. Die Ausländer*innen besetzen mehrheitlich die Industriearbeitsplätze und die Grenzpendler*innen haben den 200 000-Limit klar überschritten. Das alles ergibt eine in diesem Ausmaß wohl einzigartige soziale, kulturelle, ethnische und nationale Spaltung und Differenzierung in der Arbeiterklasse eines Kleinstaates von derzeit 634 000 Einwohnern.
Vor diesem Hintergrund und mit der Erfahrung, dass ein Generalangriff auf die Indexierung sehr schnell in einen das politische Klima verändernden Generalstreik umschlagen kann, ging der damalige Premierminister Juncker mit Fingerspitzengefühl vor. Die Ziele waren zwar klar: Es waren das Überspringen einer Indextranche, die Idee der Herausnahme der Erdölprodukte aus dem Warenkorb und ein nach oben „gedeckelter Index“. Außer einer zeitlichen Verzögerung beim Erfallen von Indextranchen, konnte das Wesentliche verteidigt werden. Allerdings war die Inflationsrate in diesen Zeiten von Fiskalpakt, Schuldenbremse und extremen Niedrigzinsen ebenfalls gering und der Finanzplatz Luxemburg erwies sich nach der Finanzkrise von 2008/09 sehr schnell wieder als ergiebige Goldmine.
Diese Stabilitätsprognosen haben sich nun allerdings seit den 2020er Jahren klar geändert. Krisen, Covid-19, Klimaveränderungen, neue Aufrüstung und Verschuldungen werden die Inflation anheizen. Die Unternehmerverbände und ihre Regierung sind nicht mehr bereit, die Geldentwertung aufzufangen. Eine Index-Runde kostet sie einen Lohnausgleich von 2,5 %, bei einer Jahresinflation von 8 % würde dies eine automatische Lohnanpassung von 7,5 % in diesem Zeitraum ausmachen.
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Die Lohnindexierung war nie als ein Instrument der Sozialpolitik gedacht, zur sozialen Umverteilung oder für mehr Lohngerechtigkeit konzipiert, sondern sie ist einfach nur ein gesetzlicher Mechanismus der automatischen, retroaktiven Anpassung der Löhne und Renten an die Preisentwicklung des Marktes. Sie verhindert also einen spürbaren Reallohnverlust. Eine gerechtere Beteiligung an Gewinnen in Spitzenbranchen der Wirtschaft oder mehr Gleichheit innerhalb der Lohnabhängigen haben damit nichts zu tun. Dies gehört in den Bereich von Kollektivvertragsverhandlungen.
Die Blau-Grün-Rote Regierung hat nun Anfang 2022 die „Dreier Runde“ Tripartite erneut instrumentalisiert, um gerade den Automatismus der Indexierung außer Kraft zu setzten. Die korporatistische Staatsbeamtenvertretung CGFP und der christlich-soziale LCGB haben dem zugestimmt, während der linke OGB-L dies vehement ablehnte. Die Regierung hat dabei Folgendes beschlossen: Nach einer ersten Indextranche, die am 1. April ausbezahlt wurde, wird die nächste, die eigentlich schon im Juli 2022 fällig würde, erst am kommenden 1. April 2023 ausbezahlt. Es wird bis auf Weiteres nur noch jährlich eine Indextranche von 2,5 % ausbezahlt.
Natürlich wird durch diese Manipulation der ursprüngliche Zweck sowie der Mechanismus als Inflationsausgleich infrage gestellt, verfälscht und entsprechend der Dauer und Intensität der Inflation werden die Verluste für die Lohnabhängigen immer größer. Diese Manipulation wird letztlich zu einer weiteren realen Umverteilung von Unten nach Oben, aus den Taschen der Schaffenden in jene der Kapitaleigner, führen.
Durch seine Ablehnung und mittels einer kämpferischen 1.-Mai-Demonstration gegen diesen sozialen Angriff hat der OGB-L nun klar Farbe bekannt und Frontstellung bezogen. Wie sich dies nun entwickeln wird, steht noch nicht fest. Allerdings sind nun weitere Mobilisierungen und letztlich ein Warnstreik in der Debatte. Die kommenden 2 Jahre sind in Luxemburg jeweils Wahljahre und die soziale Problematik steht nun im Zentrum der Wahl-Agenda. Der Kampf gegen die Inflation und für den Erhalt der Kaufkraft war, ist und bleibt ein Thema des konkreten Klassenkampfes.
Luxemburg 20.05.2022 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz