Alex Callinicos
Lieber Gilbert,
ich freue mich sehr, dass Du auf meinen Artikel „The great power grab – imperialism and the war in Ukraine“ (Deutsch: Die Rolle des Imperialismus im Ukrainekrieg, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)) geantwortet hast. Dabei ging es nicht vorrangig um Deine Schriften über die Ukraine, sondern es handelte sich um den Versuch, die Bedeutung der marxistischen Theorie über Imperialismus für das Verständnis der derzeitigen entsetzlichen Lage herauszustellen. Ich habe allerdings einige Äußerungen von Dir verwendet, um auf eine falsche Stoßrichtung in der radikalen Linken hinzuweisen, die sich ausschließlich auf den Kampf zwischen der Ukraine und dem russischen Imperialismus konzentriert und dabei die Rolle der USA und der Nato ignoriert.
Wie Du selbst sagst, hatten wir als Freunde und Genossen über Jahre hinweg einen produktiven Austausch, wodurch Beleidigungen oder eine falsche Darstellung der jeweiligen Position vermieden werden konnten.
Diese Diskussion trägt hoffentlich ebenfalls zur Klärung bei. Dies vorausgeschickt empfinde ich es als nicht sehr freundschaftlich und auch nicht korrekt, wenn Du mich bezichtigst, das „allgegenwärtige neue Lagerdenken zu teilen, das in weiten Teilen der britischen Antikriegsbewegung vorherrschend ist und mit dem Du seit vielen Jahren eng verbunden bist“.
Durch Parteinahme für ein Lager (Campism) ordnen einige Linke faktisch den Klassenkampf den geopolitischen Konkurrenzen der Großmächte unter, von denen ein Block als „reaktionär“ und der andere als „fortschrittlich“ gilt. Dieses Lagerdenken entwickelte sich im Kalten Krieg und ist eine Position, die Du mir wohl kaum unterstellen kannst. Tony Cliff gründete unsere Internationale Tendenz unter der Parole: „Weder Washington noch Moskau, sondern Internationaler Sozialismus“, weil er beide Seiten im Kalten Krieg als ausbeuterische imperialistische Blöcke erkannte.
In der Tat ist das Lagerdenken in den vergangenen Jahren wieder aufgelebt, insbesondere im Zusammenhang mit der Unterstützung des mörderischen Regimes von Assad in Syrien und des gezeigten Verständnisses für die Eroberung der Krim durch Russland im Jahr 2014. Die Socialist Workers Party lehnt beide Positionen ab. Es wäre Zeit- und Platzvergeudung, hier meine öffentliche Kritik dessen zu dokumentieren, was Du „Neo-Campism“ nennst. Wie Du sehr genau weißt, hat die International Socialist Tendency die syrische Revolution ausdrücklich unterstützt und unsere Genoss*innen der Syrian Revolutionary Left Current (Revolutionäre Linke Strömung Syriens) haben sich daran beteiligt.
Es ist wahr, dass die Führung der Stop the War Coalition (STW) in Großbritannien in beiden Fragen schwankte. Wir haben erneut unsere Differenzen dargelegt, aber weiterhin die STW unterstützt. Erfreulicherweise hat die STW nun eine klarere Position und verurteilt gleichermaßen Russlands Einmarsch in die Ukraine wie auch die Rolle der Nato in Mittel- und Osteuropa. Ich meine, Du solltest deine Anschuldigung des „Neo-Campism“ zurücknehmen.
Worin bestehen nun die Differenzen zwischen uns beiden? In der Comedyserie „Fawlty Towers“ gibt es eine berühmte Szene, in der zu ein paar deutschen Touristen gesagt wird: „Kein Wort über den Krieg!“ Nun, es gibt einen großen Teil der Linken, den wir als „Kein Wort über die Nato“-Strömung nennen könnten. Zu meinem Bedauern muss ich feststellen, dass Du eine ausgeklügelte Rechtfertigung für diese Position anbietest.
Alex Callinicos (2009) Foto: Franz.87 |
Du beklagst, dass ich meinen „Doktorhut aufsetze, um dich über den modernen Imperialismus“ und seinen Charakter als globales System zwischenkapitalistischer Konkurrenz zu belehren, obwohl das alles bekannt sei. Dazu möchte ich zweierlei sagen:
Erstens war, wie ich bereits erklärt habe, dieser Artikel nicht für dich gedacht. Zweitens weißt Du selbstverständlich alles über Imperialismus, den historischen wie den heutigen. Ich erinnere mich insbesondere an einen großartigen Artikel, den Du im Jahr 1998 für die New Left Review über die US-amerikanische Strategie nach dem Ende des Kalten Kriegs verfasst hast. Der Titel „The Strategic Triad – The United States, Russia, and China“ (Das strategische Dreieck. Die Vereinigten Staaten, Russland und China) und der Inhalt des Artikels ist auch heute noch aktuell.
Verwirrend ist, dass diese Analyse in deinen Beiträgen über die Ukraine fast völlig fehlt. In Deinem, soweit ich weiß, ersten Artikel zu dem Thema, „A Memorandum on the Radical Anti-imperialist Position Regarding the War in Ukraine“ (Deutsch: Ein Memorandum zu einer radikal antiimperialistischen Position zum Krieg in der Ukraine, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online) ), widmest Du exakt einen Satz der Frage der Nato-Erweiterung.
Der Rest handelt davon, was die Linke in Bezug auf den Kampf zwischen der Ukraine und Russland tun sollte. Du rechtfertigst diesen Schwerpunkt in einem Folgeartikel, den ich bereits kritisiert habe, indem Du bestreitest, dass dieser Krieg auch ein zwischenimperialistischer Krieg ist und nicht nur einer der nationalen Verteidigung. Deine Begründung ist aber sehr schwach.
Du sagst: „Wenn jeder Krieg, in dem die Kontrahenten von einem imperialistischen Rivalen unterstützt werden, ein Krieg zwischen Imperialisten wäre, dann wären alle heutigen Kriege zwischenimperialistisch, denn in der Regel reicht es aus, dass einer der rivalisierenden Imperialismen eine Seite unterstützt, damit der andere die Gegenseite unterstützt. So sieht aber kein zwischenimperialistischer Krieg aus. Das ist ein direkter Krieg, kein Stellvertreterkrieg, zwischen zwei Mächten, die jeweils versuchen, in den territorialen und (neo-)kolonialen Bereich der Gegenseite vorzudringen, wie es im Ersten Weltkrieg eindeutig der Fall war. Es ist ein ‚Raubzug‘ auf beiden Seiten, wie Lenin es zu nennen pflegte.“
Diese Definition, nach der ein zwischenimperialistischer Krieg darin besteht, dass beide Seiten das Gebiet des jeweils anderen zu erobern versuchen, gilt nicht einmal für den Zweiten Weltkrieg. Der britische und französische Imperialismus waren nicht an der Eroberung deutscher Gebiete interessiert, sondern sie wollten an ihren schon überdehnten Reichen festhalten. Und Hitler war wiederum nicht unbedingt an diesen interessiert, sondern an Osteuropa und der Sowjetunion.
Dein Versuch, qua Definition die Möglichkeit eines zwischenimperialistischen Kriegs durch Stellvertreter auszuschließen, ist zudem eigenartig. Wir müssen uns die Umstände und die Entwicklung bestimmter Kriege jeweils konkret anschauen. Der Koreakrieg von 1950 bis 1953 war, wie Cliff seinerzeit erklärte, ein zwischenimperialistischer Krieg, in dem die UdSSR Nordkorea und China als Stellvertreter gegen die USA und ihre Verbündeten benutzte. Es stimmt, dass der nordkoreanische Führer Kim Il Sung scharf darauf war, in den Süden einzumarschieren und die koreanische Halbinsel wiederzuvereinigen. Aber Stalin ermutigte und unterstützte ihn, teils um Zugang zu den Warmwasserhäfen in Südkorea zu erhalten, teils um den zögerlichen Mao Zedong eng an den sowjetischen Block zu binden.
Der vietnamesische Kampf war dagegen etwas völlig anderes. Hier war die Triebkraft der nationale Befreiungskampf unter Führung der Kommunistischen Partei, die es nacheinander mit dem französischen, japanischen und US-Imperialismus aufnahm. Die Sowjetunion leistete zwar erhebliche militärische Unterstützung, lenkte den Krieg jedoch nicht und befürchtete in der Endphase Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre sogar, dass ihre Entspannungspolitik mit den USA gefährdet sein könnte.
Auch für den jetzigen Krieg benötigen wir eine konkrete Einschätzung. Das starke Nationalbewusstsein in der Ukraine, das durch die russische Invasion noch verstärkt wird, ist nicht zu bezweifeln. Aber auch die sehr aktive Rolle der USA und der Nato kann nicht bestritten werden. Das entspricht auch nicht dem imaginären Fall, den Du unter Berufung auf Lenin zitierst und den Du selbst eine „nutzlose Hypothese“ nennst, in dem eine „internationale Gemeinschaft“ in den Krieg zieht, um den Einmarsch Deutschlands in Belgien zurückzudrängen.
Gilbert Achcar (2014) Foto: tiq |
Das entspricht nicht der derzeitigen Gemengelage. Die USA beleben erneut ihr Bündnis mit den übrigen Nato-Staaten in Verfolgung ihres langfristig angelegten Kampfs mit den anderen beiden Mitgliedern deines „strategischen Dreiecks“, China und Russland. Gleichzeitig gibt es viele wichtige Staaten, die entgegen deinem Versuch, das abzustreiten, die Ukraine und den Westen nicht unterstützen.
Laut Edward Luce von der Financial Times repräsentierten bei der UN-Generalversammlung am 2. März zur Verurteilung Russlands „die 35 [Staaten], die sich enthielten, fast die Hälfte der Weltbevölkerung. Dazu gehören China, Indien, Vietnam, Irak und Südafrika. Wenn wir noch die Länder hinzurechnen, die mit Russland stimmten, kommt diese Zahl auf über die Hälfte.“
Die Beteiligung des Westens an diesem Krieg, bestätigt durch Bidens Treffen mit den anderen Nato-Führern vergangene Woche, beinhaltet Waffenlieferungen und militärische Ausbildung vor dem Krieg und Nachschublieferung heute. Ganz ohne Zweifel sind auch westliche Geheimdienstler und Militärberater vor Ort aktiv.
Zudem kann die Rolle des Westens nicht auf militärische Unterstützung reduziert werden. Du vertrittst diese eigenartige agnostische Position, weder die gegen Russland verhängten Sanktionen zu unterstützen noch ihre Aufhebung zu fordern. Damit verkennst Du die Rolle der derzeitigen Sanktionen.
Die Strategie der USA und ihrer Verbündeten besteht darin, die direkte Beteiligung an den Kämpfen zu vermeiden, um nicht „die verhängnisvolle Spirale“ in Gang zu setzen, wie du es nennst, aber Russland wirtschaftlich sehr hart zu treffen durch Ausschluss vom Welthandel, Sperrung des Zugangs der Zentralbank zu ihren Reserven und Verringerung insbesondere Europas Abhängigkeit von russischem Öl und Gas.
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Wie Nicholas Mulder in einer hervorragenden neuen historischen Studie über Sanktionen schrieb, „gelten wirtschaftliche Sanktionen im Allgemeinen als eine Alternative zum Krieg. Für die meisten Menschen in den Zwischenkriegszeiten war die ökonomische Waffe aber der Inbegriff des totalen Kriegs“, nachdem sie im Ersten Weltkrieg Erfahrung mit der von Großbritannien und Frankreich gegen Deutschland und seine Verbündeten verhängten Blockade gemacht hatten.
Das scheint auch Wladimir Putins Reaktion gewesen zu sein, als er ankündigte, wegen der vom Westen verhängten Finanzsanktionen die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Darüber hinaus trägt die Angst, dass die Sanktionen zu einem Washington gelegenen Zeitpunkt auch gegen China eingesetzt werden könnten, zweifellos dazu bei, Peking in seiner Unterstützung Moskaus zu bestärken.
Der echte marxistische Ansatz bedeutet anzuerkennen, dass es sich bei dem jetzigen Krieg sowohl um einen zwischenimperialistischen Stellvertreterkrieg als auch einen Krieg der nationalen Verteidigung seitens der Ukraine handelt. Das ist eine komplizierte Lage, denn sie erfordert einerseits die Unterstützung der nationalen Rechte der ukrainischen Bevölkerung und gleichzeitig Ablehnung aller Maßnahmen – auch der Sanktionen und Waffenlieferungen der Nato –, die dazu beitragen, die „verhängnisvolle Spirale“ der zwischenimperialistischen Eskalation anzutreiben. Dennoch hat die internationalistische Tradition Lenins und Luxemburgs etwas Einzigartiges beizutragen – vorausgesetzt sie verliert den dreiseitigen imperialistischen Wettbewerb nicht aus den Augen, der diesen Krieg hervorgebracht hat und weiterhin nährt.
Alles Gute,
Alex
Quelle: Socialist Worker, 30.3.2022
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz