Ukraine

Stellungnahme von Gilbert Achcar

Gilbert Achcar

Lieber Alex,

ich habe mit Interesse Deine Kritik an meiner Position in Socialist Worker vom 27. März gelesen. Wir beide können bereits auf eine recht lange Tradition der Debatte zwischen uns zurückblicken. Ich freue mich immer über eine solche Gelegenheit, da unsere Debatte so geführt wird, wie sie zwischen Marxisten geführt werden sollte, nämlich in einem freundschaftlichen Geist und frei von absichtlicher Verzerrung und Diffamierung, was leider nur allzu häufig unter vielen Linken, die immer noch von dem unseligen Erbe des Stalinismus geprägt sind, vorkommt.

Die Quelle, aus der Du zitierst, ist mein Artikel „Six FAQs on anti-imperialism today and the war in Ukraine“ (Deutsch: Sechs häufig gestellte Fragen zum Antiimperialismus heute und dem Krieg in der Ukraine, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)). Deine Kritik zielt darauf ab, dass ich den zwischenimperialistischen Charakter des Konflikts in der Ukraine verkenne. Wie ich zu zeigen versuchen werde, basiert Deine Kritik auf einer ziemlich inkonsistenten Definition des laufenden Krieges, weil Du meines Erachtens zwischen zwei Stühlen zu sitzen versuchst – einerseits willst Du eine echte marxistische Analyse des laufenden Krieges anbieten und andererseits vertrittst Du ein allgegenwärtiges neues Lagerdenken, das in weiten Teilen der britischen Antikriegsbewegung vorherrschend ist und mit der Du seit vielen Jahren eng verbunden bist.

Du schreibst: „Was an Achcars Herangehensweise fehlt“ – und fügst hier noch hinzu: „und bei den Linken, die die Rolle der Nato ausblenden“ –, „ist das historisch genauere Verständnis von Imperialismus, das der Marxismus bietet“. Dann setzt Du Deinen Doktorhut auf, um uns über den modernen Imperialismus aufzuklären, der „nicht nur darin besteht, dass große Staaten kleinere Staaten kujonieren und besetzen, auch wenn dies durchaus gängig ist.“ Und Du folgerst: „Dieses Verständnis des kapitalistischen Imperialismus als System zwischenstaatlicher Konkurrenz fehlt in Achcars Analyse völlig.“

Es ist schon merkwürdig, dass diese Anschuldigung ausgerechnet von Dir kommt, Alex, da Du 2010 in der Zeitschrift International Socialism meine Rezension eines Buches von Dir veröffentlicht hast, in der ich Deine Einschätzung der anhaltenden zwischenimperialistischen Konkurrenz erörtert habe.

 

Uni-Gebäude in Charkiv nach russischem Raketenangriff

Foto: Ukrainischer Katastrophenschutz

Du kennst auch meine Veröffentlichungen zur Nato-Erweiterung seit Ende der 1990er Jahre und die vielen anderen Publikationen im Laufe der Jahre, wie das Interview, das ich einem russischen Genossen anlässlich des letzten Ukrainekrieges 2014 gegeben habe. Und wenn Du Dir die Mühe gemacht hättest, nachzulesen, was ich über die jüngste Konfrontation in der Ukraine geschrieben habe – was Du hättest tun sollen, bevor Du meine Position kritisierst – hättest Du festgestellt, dass ich den Konflikt von Anfang an vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen Russland und den westlichen Mächten unter Führung Washingtons betrachtet habe.

Insofern brauche ich wohl keine Belehrungen über den zwischenimperialistischen Charakter der laufenden Konfrontation und die Rolle der Nato. Was bleibt dann von Deiner Kritik übrig? Deine lange Abhandlung über den Imperialismus dient genau genommen dazu, unseren Hauptstreitpunkt über den Charakter des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine zu verwässern. Ich habe ihn als einen Angriffskrieg des russischen Imperialismus gegen die Ukraine bezeichnet und damit einerseits als einen Raubkrieg, der im Namen des großrussischen Chauvinismus seitens des russischen Imperialismus geführt wird, und andererseits als einen gerechten Krieg seitens der Ukrainer*innen, die gegen den russischen Einmarsch in ihr Land kämpfen.

Du räumst zwar ein, dass „es in der Tat gut wäre, wenn das ukrainische Volk die russischen Invasoren vertreiben könnte“, aber dann erklärst Du ausgiebig, was ich angeblich bestritten habe, nämlich dass „der Krieg in der Ukraine einen Konflikt zwischen imperialistischen Mächten darstellt“. Dies ist ein untauglicher Versuch, den Sachverhalt zu vernebeln und den Unterschied zwischen „Krieg“ und „Konflikt“ zu verwischen. Niemand – und schon gar nicht ich – würde bestreiten, dass hinter dem Ukrainekrieg ein zwischenimperialistischer Konflikt steht. Aber das von Dir zitierte Argument bezieht sich nicht darauf: Es geht vielmehr um die Tatsache, dass der Krieg in der Ukraine kein zwischenimperialistischer Krieg ist, auch wenn er ganz offensichtlich vor dem Hintergrund eines zwischenimperialistischen Konflikts geführt wird.

Worin besteht hier der Unterschied? Aus der leninistischen Perspektive, auf die Du Dich gerne berufst, ist es ganz einfach: Wäre der Ukrainekrieg ein zwischenimperialistischer Krieg, müssten die Internationalist*innen auf beiden Seiten für den revolutionären Defätismus eintreten. Da es sich aber nicht um einen zwischenimperialistischen Krieg handelt, ist revolutionärer Defätismus nur auf der russischen Seite angesagt, während es, wie von Dir selbst eingestanden, „in der Tat wünschenswert wäre, wenn das ukrainische Volk die russischen Invasoren vertriebe“.

Wie ich in einer der von Dir zitierten Passagen erklärt habe: „Ein zwischenimperialistischer Krieg ist ein direkter Krieg, kein Stellvertreterkrieg, zwischen zwei Mächten, die jeweils versuchen, in den territorialen und (neo-)kolonialen Bereich der Gegenseite einzudringen.“ Dies kommentierst Du so: „Das ist viel zu eng gefasst.“ Und Du erklärst weiter, dass in Afghanistan 1979 bis 1989 die USA und ihre regionalen Verbündeten die islamischen Kämpfer gegen die UdSSR unterstützt haben. Na und? Macht das den Afghanistankrieg an sich zu einem zwischenimperialistischen Krieg? Du hättest auch andere Beispiele anführen können: In Vietnam unterstützte die UdSSR – die in Deiner politischen Tradition als ein staatskapitalistisches Land galt – die Vietnamesen gegen den US-amerikanischen Krieg. Wurde dadurch der Krieg in Vietnam zu einem „zwischenimperialistischen Krieg“? Hätten die Internationalist*innen auf beiden Seiten dieses Krieges einen revolutionären Defätismus befürworten sollen? Natürlich nicht!

Dein Versuch, Dich auf Lenin zu berufen, um Deinen Standpunkt zu untermauern, ist leider nicht überzeugend. Du zitierst seine Antwort auf diejenigen, die im Ersten Weltkrieg im Zusammenhang mit dem serbischen Kampf für Selbstbestimmung für ein Selbstverteidigungsrecht eintraten. „Für Serbien, das heißt für etwa einen hundertsten Teil der am jetzigen Krieg Beteiligten, ist der Krieg die ‚Fortsetzung der Politik‘ der bürgerlichen Befreiungsbewegung. Für neunundneunzig Hundertstel ist der Krieg die Fortsetzung der Politik der imperialistischen […] Bourgeoisie.“ Aber dann relativierst Du selbst die Tauglichkeit dieses Zitats, indem Du hinzufügst: „Natürlich ist die Bilanz in diesem Fall eine andere, da die direkten Kämpfe nur die Ukraine und Russland betreffen.“

Gilbert Achcar (2014)

Foto: tiq

 

Aber das ist doch wohl ein großer Unterschied. Ich will hier ein weiteres Zitat von Lenin anführen, und zwar aus seiner berühmten Broschüre „Sozialismus und Krieg“ von 1915, in der er die Haltung der Bolschewiki zum Ersten Weltkrieg erläuterte und die verschiedenen Arten von Kriegen diskutierte. In Bezug auf den deutschen Einmarsch in Belgien zu Beginn des Krieges schrieb Lenin: „Die deutschen Imperialisten haben die Neutralität Belgiens schamlos gebrochen, wie es die kriegführenden Staaten, die im Bedarfsfall alle Verträge und eingegangenen Verpflichtungen brechen, stets und überall getan haben. Angenommen, alle an der Einhaltung der internationalen Verträge interessierten Staaten hätten Deutschland den Krieg erklärt mit der Forderung, Belgien zu räumen und zu entschädigen. In diesem Fall wäre die Sympathie der Sozialisten natürlich auf seiten der Feinde Deutschlands. Aber der Haken ist gerade der, daß der ‚Drei(bzw. Vier)verband‘ den Krieg nicht um Belgiens willen führt; das ist aller Welt bekannt, und nur Heuchler suchen es zu vertuschen. England will die deutschen Kolonien und die Türkei plündern, Rußland Galizien und die Türkei, Frankreich strebt nach Elsaß-Lothringen, ja sogar nach dein linken Rheinufer […]“ [1]

      
Mehr dazu
Alex Callinicos: Die Rolle des Imperialismus im Ukrainekrieg, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Alex Callinicos: Antwort von Alex Callinicos, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Gilbert Achcar: Was ist folgerichtig in Bezug auf den Ukrainekrieg und was nicht, die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022) (nur online)
Gilbert Achcar: Ein Memorandum zu einer radikal antiimperialistischen Position zum Krieg in der Ukraine, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Gilbert Achcar: Sechs häufig gestellte Fragen zum Antiimperialismus heute und dem Krieg in der Ukraine, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022) (nur online)
Die Folgen des Ukrainekriegs – Dossier, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
 

Ich hoffe, dieses Zitat hat deutlich genug macht, wie wichtig es ist, klar zu unterscheiden zwischen einem Krieg, den eine imperialistische Macht gegen ein Land führt, um es zu unterwerfen, selbst wenn rivalisierende imperialistische Mächte den Widerstand dieses Landes unterstützen (Lenin sagt, selbst wenn sie seinetwegen „den Krieg erklärt“ haben, was meiner Meinung nach eine nutzlose Hypothese ist, da andere imperialistische Mächte nur für ihre eigenen imperialistischen Interessen den Krieg erklären würden, was auch immer sie vorgeben), und einem Raubkrieg zwischen imperialistischen Staaten, wie es ganz klassisch der Erste Weltkrieg war.

„Es scheint mir ganz offensichtlich“, habe ich geschrieben, „dass ein russischer Sieg das Säbelrasseln und die ohnehin schon galoppierende Aufrüstung in den Nato-Ländern erheblich anheizen würde, während eine Niederlage Russlands viel bessere Voraussetzungen für unseren Kampf für allgemeine Abrüstung und die Auflösung der Nato bieten würde. Darauf antwortest Du: „Würde Russland infolge dieser Bemühungen und des Mutes der ukrainischen Kämpfer eine Niederlage erleiden, würden dann die USA und ihre Verbündeten abrüsten und die Nato auflösen? Natürlich nicht. Sie würden diesen Ausgang als ihren Sieg verkaufen und die Nato weiter hochrüsten.“

Könnte dem jemand widersprechen? Ich sicherlich nicht, aber das ist nicht der Punkt, auf den ich hinauswollte. Es ist viel einfacher: Wäre es Russland gelungen, den ukrainischen Widerstand zu zerschlagen, das ganze Land zu beherrschen und einen „Regimewechsel“ herbeizuführen, wie es offensichtlich Putins Absicht und Kalkül war, wären unsere Stimmen, die für die drastische Senkung der Rüstungsausgaben und die Auflösung der Nato eintreten, in einem Tsunami chauvinistischer Kriegstreiberei untergegangen.

Da der Widerstand der Ukraine bereits den Mythos der allmächtigen russischen Armee erschüttert hat – und das wird erst recht der Fall sein, sollte dieser Krieg mit einem Sieg über die imperialistischen Bestrebungen Russlands enden (in den Grenzen dessen, was angesichts des enormen Ungleichgewichts der Kräfte möglich ist) –, bin ich der Meinung, dass dies unsere Antikriegsargumente gegen die anhaltende Tendenz, die „russische Bedrohung“ zwecks Rechtfertigung höherer Rüstungsausgaben und der weiteren Nato-Ausdehnung zu übertreiben, erheblich stärken wird.

Solidarische Grüße

Gilbert

Quelle: Socialist Worker vom 30.3.2022
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz


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