Ende der 1960er Jahre war die italienische Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung die wohl kämpferischste und durchsetzungsfähigste in Europa. Inzwischen ist sie an einem historischen Tiefpunkt angelangt, wie der folgende Artikel nachzeichnet.
Franco Turigliatto
Die italienische Gewerkschaftslandschaft besteht aus den drei Verbänden CGIL, CISL und UIL, die zusammen offiziell immer noch mehr als 13 Millionen Mitglieder zählen. [1] Aber diese zahlenmäßige Stärke schlägt sich kaum in der Mobilisierungsfähigkeit und Durchsetzungskraft bei Tarifverhandlungen nieder, sowohl aufgrund der Passivität der Gewerkschaftsführungen als auch wegen der Überalterung der Mitgliedschaft, die fast zur Hälfte aus Rentner*innen besteht, was vorrangig auf die Niederlagen in der Vergangenheit zurückzuführen ist.
Daneben gibt es eine Gewerkschaft, die historisch mit der Rechten verbunden ist, die UGL, die jedoch nie eine besondere Bedeutung hatte. Außerdem vier weitere, so genannte Basisgewerkschaften, die sehr kämpferisch sind und in bestimmten Sektoren oder Unternehmen eine bedeutsame, aber auch begrenzte Präsenz haben: USB, CUB, Cobas Confederazione und SI.Cobas mit insgesamt rund 200 000 Mitgliedern.
Man sollte annehmen, dass die Gesamtheit dieser Gewerkschaften ausreicht, die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen, aber dem ist nicht so. Wir befinden uns auf einem historischen Tiefpunkt: Die Löhne, die zu den niedrigsten in Europa gehören, stagnieren seit den 1990er Jahren, die Zahl der Arbeitslosen beträgt mehr als 3 Millionen, weitere 3 Millionen suchen nicht einmal mehr nach Arbeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind Alltag. Daneben herrschen ungünstige Kräfteverhältnisse in den Unternehmen und eine enorme Ausbeutung mit durchschnittlich drei tödlichen Arbeitsunfällen pro Tag. Die neoliberale Offensive der Kapitalist*innen hat seit den 1990er Jahren die Bedingungen der heute 18 Millionen Beschäftigten (davon mehr als 3 Millionen Leiharbeiter*innen) kontinuierlich verschlechtert. Fast 5 Millionen sind scheinselbständig.
Wie konnte es geschehen, dass die größte und kämpferischste Arbeiterbewegung im kapitalistischen Europa einen solchen Absturz erlebt hat? Natürlich sind die Offensive der Bosse und die Niederlagen in den Kämpfen maßgeblich, aber die Katastrophe wäre ohne die Haltung der Gewerkschaftsführungen unerklärlich. Diese haben sich im Laufe der Jahre immer mehr den Bedürfnissen des kapitalistischen Systems angepasst und untergeordnet und sich geweigert, Kämpfe zu unterstützen, auch wenn die Bedingungen dafür günstig waren, und Knebelverträge unterzeichnet und damit die Demoralisierung und Spaltung der Klasse gefördert.
Von 1968 bis 1978 befanden sich die Arbeiter*innen Jahre lang in der Offensive: Abschaffung der Lohnkäfige (regionale Lohndifferenzierung), die große Rentenreform, starke Lohnerhöhungen für alle, Arbeitszeitverkürzung bei Lohnausgleich und eine effektive gleitende Lohnskala. Das Arbeiterstatut wurde verabschiedet, das die gewerkschaftlichen und politischen Rechte der Arbeiter*innen in den Betrieben garantierte. [2] Die Organisationsformen der Gewerkschaften bestanden aus den Fabrikräten und dem Delegiertensystem, und für die Kämpfe wurde in den Betrieben breit mobilisiert mit Formen der Arbeiterkontrolle, überbetrieblichen Arbeitskämpfen und Generalstreiks, die das ganze Land blockierten. In manchen Branchen konnte ein hohes Maß an Einigkeit unter den drei Gewerkschaften erzielt werden, insbesondere unter den Metallarbeiter*innen, die den Metallarbeiterverband (FLM) bildeten.
Nicht einmal die grauenhaften Attentate, die von Teilen des Staatsapparats gemeinsam mit faschistischen Formationen durchgeführt wurden, konnten die Arbeiterbewegung in die Knie zwingen. Der politische/gewerkschaftliche Wendepunkt kam 1978 mit dem Kongress von CGIL, CISL und UIL im EUR-Viertel in Rom, auf dem die Bürokratie, wenn auch gegen heftigen Widerstand, versuchte, die Akzeptanz des krisengeschüttelten kapitalistischen Systems in der Mitgliedschaft durchzusetzen. [3] Der Widerstand an der Basis und unter den Delegierten war jedoch so groß, dass diese Linie zunächst nicht durchkam, so dass die Metaller im Sommer 1979 einen harten und langen Kampf führten, um das von Unternehmerseite versuchte Roll-back zurückzuschlagen.
Im Herbst 1980 ging die Fiat-Geschäftsleitung zu einem frontalen Angriff über, aus dem ein 37-tägiger Streik entstand, der alle Fiat-Werke des Landes blockierte, aber trotz des Widerstands der Fabrikräte und der Betriebsversammlungen mit einer von den nationalen Gewerkschaftsbürokratien angenommenen Vereinbarung endete, wonach 23 000 Arbeiter*innen auf die Straße gesetzt wurden. Damit begann der Niedergang der Fabrikräte und das Kapitel FLM wurde 1984 beendet. Die drei Gewerkschaften machten sich zu Sachwaltern eines „Normalisierungsprozesses“ und akzeptierten die Umstrukturierungsprozesse in den Unternehmen.
Die endgültige Entscheidung der Gewerkschaftsführungen, sich der neoliberalen Wende der Bourgeoisie und der Privatisierungspolitik der Regierung zu beugen, kam Anfang der 90er Jahre: Am 31. Juli 1992 unterzeichneten CGIL, CISL und UIL mit der Regierung und dem Unternehmerverband Confindustria die Vereinbarung zur Aufhebung der gleitenden Lohnskala. Mit einer zweiten Vereinbarung im Jahr 1993 wurde das System der konzertierten Aktion etabliert, das die Klassenzusammenarbeit mit der Regierung und den Unternehmern formalisierte. In den Tarifverträgen konnten nur noch Lohnerhöhungen in Höhe der von der Regierung festgelegten Inflationsrate vorgenommen werden. Damit wurde eine Abwärtsspirale der Löhne und der früheren Errungenschaften in Gang gesetzt.
1995 wurde das umlagefinanzierte Rentensystem durch eine Vereinbarung zwischen den Gewerkschaften und der Regierung „reformiert“, die für einen Teil der Beschäftigten ein beitragsfinanziertes System vorsah und den Weg für individuelle Zusatzrenten freimachte. Die endgültige Demontage des Rentensystems erfolgte 2011 mit der „Fornero-Reform“, die das Renteneintrittsalter anhob (heute liegt es bei 67 Jahren), wobei sich CGIL, CISL und UIL auf einen symbolischen dreistündigen Streik beschränkten.
Ab 1997 wurden prekäre Arbeitsverhältnisse zunehmend institutionalisiert, insbesondere mit dem Dekret 276 der Regierung Berlusconi im Jahr 2003, das nicht weniger als 43 Formen von prekären Verträgen einführte. Dieses Gesetz wurde von der nachfolgenden Mitte-Links-Regierung mit voller Zustimmung der Gewerkschaftsbürokratien bestätigt. 2014 folgte der sogenannte Jobs Act der Regierung Renzi (PD), der den Paragraphen 18 und damit den zentralen Inhalt des Arbeiterstatuts aufhob. Dieser Paragraph sah vor, dass Arbeiter*innen im Falle einer unrechtmäßigen Entlassung durch das Unternehmen wieder eingestellt werden mussten. Seit 2015 müssen die Bosse stattdessen nur noch eine bescheidene Strafe zahlen, um unbequeme Beschäftigte loszuwerden. Auch hier gab es so gut wie keine Mobilisierung der drei Gewerkschaftsverbände. In den letzten 30 Jahren spielten die Gewerkschaftsbürokratien eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung der europaweiten Sparpolitik. Aus diesem Grund bezeichnen die Basisgewerkschaften die drei Gewerkschaftsverbände nicht ganz zu Unrecht als „Komplizen“ der Bosse.
Der Integrationsprozess in das bürgerliche System und den Staat verläuft jedoch nicht völlig homogen und lässt Widersprüche zu Tage treten. Die CISL-Führung arbeitet am aktivsten mit den jeweiligen Regierungen zusammen, auch der jetzigen rechtsextremen. Die UIL positioniert sich als korporatistische Gewerkschaft und ist sehr klientelorientiert, auch wenn sie gegenüber der Regierung Meloni eine kritische Taktik verfolgt.
Komplexer und widersprüchlicher aufgrund ihrer Geschichte, aber auch wegen des Aktivismus der Mitgliedschaft und einiger traditionell kämpferischer Branchen, verläuft die Entwicklung bei der CGIL. Ihr Apparat sah sich mehrfach mit den Versuchen der Regierung konfrontiert, die Gewerkschaft vom „runden Tisch“ zu verdrängen, der zwar die Arbeiter*innen über den Tisch zieht, es aber immerhin ermöglicht, die Organisationsstruktur und den Apparat der Gewerkschaft weitgehend intakt zu halten. Dies war auch der Grund, weswegen die CGIL während der zweiten Berlusconi-Regierung im Jahr 2002 breit mobilisiert hat, um nicht nur den Paragraph 18 des Arbeiterstatuts, sondern auch und vor allem ihre politische und soziale Position zu verteidigen.
Die FIOM, die Metallarbeitergewerkschaft der CGIL, verwahrte sich sogar einige Jahre lang gegen die Linie der konzertierten Aktion und unterzeichnete keine Knebelverträge, aber sie blieb isoliert. 2011 musste sie eine weitere Niederlage bei Fiat hinnehmen, die zu einem inneren Demoralisierungsprozess führte und sie vor einigen Jahren sogar einen der schlechtesten Tarifverträge unterzeichnen ließ.
Die Gewerkschaftsführungen und insbesondere die CGIL befinden sich heute, vor allem gegenüber der rechtsextremen Regierung, in einer komplizierten Situation: Einerseits erschöpfen sich die für die Gewerkschaftsbürokratie positiven Aspekte der konzertierten Aktion, nämlich die Aufrechterhaltung ihrer Rolle, und ihre Position am Verhandlungstisch mit der Regierung wird immer schwächer, weswegen sie nicht einmal die geringsten Zugeständnisse erreichen können. Andererseits haben sie durch ihre Passivität die Demoralisierung der Arbeiter*innen und die immer geringere Akzeptanz der Klassenkämpfe vorangetrieben. Zahlreiche Funktionäre, Aktivist*innen und Betriebsvertreter*innen haben resigniert und das ABC des Klassenkampfs verlernt, sodass inzwischen kaum mehr effektiv mobilisiert werden kann, wenn auch nur taktische Erwägungen dies erfordern würden. Jüngstes Beispiel dafür war der kaum befolgte und schlecht organisierte vierstündige Streik gegen das katastrophale Haushaltsgesetz, zu dem UIL und CGIL aufgerufen hatten.
Der CGIL-Sekretär Landini, der selbst den Verhandlungsweg als alleinige Gewerkschaftsstrategie durchgesetzt hat, musste zugeben: „Man lädt uns ständig zu angeblichen Tischgesprächen ein, wo alle reden und keiner antwortet. Die Entscheidungen fallen dann hinter unserem Rücken.“ Bloß zieht Landini daraus nicht die Konsequenz, sich auf dem laufenden CGIL-Kongress für eine Hinwendung zum Klassenkampf einzusetzen, wie sie die linke Opposition mit ihrem Papier „Die Wurzeln der Gewerkschaft“ vorgeschlagen hat. Diese linke Strömung hat zwar in vielen Basisversammlungen eine positive Resonanz erhalten, aber aufgrund der Manipulationen der Bürokratie nur etwa 3 % der Delegierten erhalten; außerdem gibt es viele Aktivist*innen, die zwar im Gespräch ihre Sympathie für eine andere gewerkschaftliche Vorgehensweise bekunden, dann aber bei Problemen vor dem konservativen Apparat einknicken.
Während die Gewerkschaftsführungen in den letzten Jahrzehnten die Arbeitskämpfe auf ein Minimum heruntergefahren und sich mehr und mehr der kapitalistischen Logik untergeordnet haben, sind sie zugleich auf Nebenschauplätzen aktiv geworden, bieten Dienstleistungen für Beschäftigte und Bürger*innen an und machen sich damit noch mehr zu Bütteln des kapitalistischen Systems; in solche Aktivitäten sind etliche Funktionäre, auch aus der Führungsebene verwickelt.
In erster Linie sind dies die von den Gewerkschaften betriebenen und dem Steuerrecht unterworfenen Steuerberatungszentren (CAF), die als Vermittlungsinstanzen zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Finanzamt fungieren. Daneben gibt es noch die Patronati, private Einrichtungen für Sozialrechtsberatung. Die CAF und die Patronati werden von der italienischen Steuerbehörde bzw. dem Sozialversicherungsträger (INPS) bezahlt. Die bilateralen Gremien hingegen sind gemeinsame Einrichtungen von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. Es handelt sich um gemeinnützige Vereinigungen, die Dienste und Leistungen in verschiedenen Bereichen, von der Ausbildung bis zur Gesundheitsversorgung, gewähren.
Alle diese Dienstleistungsstrukturen sind eine wichtige Einkommensquelle für die Gewerkschaften (oft auf Kosten der Beschäftigten) und fördern eine passive Gewerkschaftsmitgliedschaft der Nutzer*innen.
Hinzu kommen die von den Gewerkschaften verwalteten Zusatzrenten und die Einrichtungen, die die so genannte betriebliche Sozialhilfe verwalten. Abgesehen davon, dass diese beiden Institutionen höchst fragwürdig sind, weil sie durch den Verzicht auf die Verteidigung eines wirksamen öffentlichen Rentensystems für alle Beschäftigten und eines universellen Wohlfahrtssystems für alle Bürger*innen entstanden sind und sich in die neoliberale Logik einfügen, braucht es dafür Verwaltungsräte, in denen die Gewerkschafter zunehmend in das System integriert werden.
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Institutionen wie Metasalute, die Zusatzkrankenkasse für Metallarbeiter*innen, die gemeinsam mit einer der führenden Privatbanken des Landes, Intesa Sanpaolo, verwaltet wird, beschleunigen nicht nur den Integrationsprozess der Gewerkschaften in das kapitalistische System, sondern führen auch dazu, dass sich die Gewerkschaftsstrukturen zunehmend auf derlei Aktivitäten konzentrieren, was zu Lasten der Organisierung der Beschäftigten am Arbeitsplatz geht.
Dieses Phänomen ist jedoch in den verschiedenen Gewerkschaften nicht einheitlich. Es gibt Verbände, in denen diese Aktivitäten im Mittelpunkt stehen, aber es gibt auch Branchen, wie die Metallindustrie und viele andere, die aufgrund ihrer Traditionen oder weil sie von der Gegenseite unter Druck gesetzt werden, an einer kämpferischen Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit festhalten.
Es versteht sich von selbst, dass der Wiederaufbau klassenkämpferischer Gewerkschaften in unserem Land ein zentrales, ja unverzichtbares Ziel bleibt, wenn wir der kapitalistischen Offensive und den Regierungen etwas entgegensetzen wollen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Rolle der Gewerkschaftslinken der CGIL von zentraler und grundlegender Bedeutung ebenso wie die polarisierende Rolle des Fabrikkollektivs des Autozulieferers GKN in Florenz, das nicht nur für den Erhalt der Arbeitsplätze und die Vergesellschaftung des Betriebs kämpft, sondern auch für eine ökologische Transformation der Produktion. Hierüber hat das Kollektiv den Kontakt zu verschiedenen kämpferischen Bewegungen hergestellt und sie für gemeinsame Aktivitäten mit ökosozialistischer Stoßrichtung gewonnen, etwa den Klimastreik vom September 2022 in Florenz mit 40 000 Teilnehmer*innen.
Hinzu kommen die nicht minder wichtigen Basisgewerkschaften, die einen zwar begrenzten, aber sehr kämpferischen Flügel junger Aktivist*innen und eine große Zahl von Wanderarbeiter*innen organisieren. Diese Basisgewerkschaften schaffen es, einzelne Kämpfe auf lokaler oder punktueller Ebene zu führen, aber es fehlt ihnen an einer breiteren Akzeptanz und an nationaler Bedeutung, auch weil sie durch eine Reihe von diskriminierenden Vorschriften benachteiligt werden. Die Spaltung dieser Basisgewerkschaften untereinander und das Fehlen einer wirksamen Taktik gegenüber den großen Gewerkschaftsverbänden, die sich nicht auf die Anprangerung von deren Untaten beschränkt, sondern ihnen ermöglicht, mit den Aktivist*innen dieser Gewerkschaften ins Gespräch zu kommen, sind nicht sonderlich hilfreich dabei. Letztere weigern sich im Allgemeinen, Beziehungen zu den Basisgewerkschaften zu unterhalten. Selten gibt es Situationen, in denen ein gemeinsames Vorgehen unumgänglich ist, wie etwa bei den Auseinandersetzungen beim Stahlwerk Ilva in Tarent und bei Alitalia.
Es liegt also ein steiler Weg vor uns, die verschüttete Tradition der italienischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wiederzubeleben.
Übersetzung und Bearbeitung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz