Am 1. Februar traten rund eine halbe Million Arbeiter*innen in ganz Großbritannien in den Ausstand – die größte Streikwelle seit über einem Jahrzehnt.
Terry Conway
An diesem Tag legten die Menschen nicht nur ihre Arbeit nieder und bildeten Streikposten an ihrem Arbeitsplatz, sondern nahmen in vielen Fällen auch an lautstarken Demonstrationen und Kundgebungen in den Stadtzentren teil. Die Aktionen verfolgten zwei Ziele – zum einen das weitere Eintreten für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen und zum anderen die Entwicklung von Widerstand gegen die noch drakonischeren gewerkschaftsfeindlichen Gesetze, die die britische Tory-Regierung im Parlament durchsetzen will.
Sechs Gewerkschaften sind am 1. Februar in Aktion getreten. Die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (PCS) war die erste und rief ihre mehr als 100 000 Mitglieder in 124 zentralen und dezentralen Regierungsbehörden zum Streik auf. Die Beschäftigten in vielen dieser Dienststellen hatten zuvor bei einer Briefwahl das absurd hohe Quorum der reaktionären gewerkschaftsfeindlichen Gesetze für einen Streikaufruf erreicht. [Mehr als die Hälfte der Beschäftigten müssen sich an der Abstimmung beteiligt haben, in „sensiblen“ Bereichen wie Gesundheit, Schulbildung, Feuerwehr, Verkehr, Stilllegung von Kernkraftwerken, Grenzkontrollen usw. müssen 40 % der Beschäftigten für den Streik gestimmt haben. Anm. d. Übers]. Die PCS-Mitglieder in diesen Abteilungen befinden sich seit Ende Dezember in rollierender Aktion. In anderen Abteilungen, in denen die Beschäftigten zwar für einen Streik gestimmt hatten, aber den Schwellenwert der Wahlbeteiligung nur knapp verfehlten hatten, führt die Gewerkschaft eine erneute Urabstimmung durch.
Die University and College Union (UCU, Gewerkschaft der Lehrkräfte an weiterführenden und höheren Bildungseinrichtungen) rief an diesem Tag 70 000 Mitglieder im Universitätssektor zum Streik auf, dies als Teil der 18 Aktionstage, die in den nächsten zwei Monaten stattfinden sollen, nachdem die jüngsten Gespräche mit den 150 „Arbeitgebern“ zu keinem Angebot geführt haben, das die in den letzten 12 Jahren der Tory-Regierung vorgenommenen Lohnkürzungen in irgendeiner Weise wieder ausgleichen könnte. Die zunehmende Prekarisierung des Sektors ist ein weiterer Grund für die Kampfbereitschaft. (Die UCU-Mitglieder in den Colleges in England und Wales wurden am 1. Februar nicht zum Streik aufgerufen, obwohl sie sich in einem Lohnstreit befinden. In mindestens einem College, wahrscheinlich sogar in mehreren, haben sie kurze Solidaritätsaktionen durchgeführt. Die schottischen College-Lehrer*innen der Gewerkschaft EIS haben in den letzten Jahren erbitterte, aber erfolgreiche Streiks geführt und ihre Mitglieder an den Schulen und Universitäten, die in den aktuellen Auseinandersetzungen engagiert sind, logistisch unterstützt.) In einigen Universitäten kämpfen die UCU-Mitglieder auch gegen die Kürzung ihrer Rentenansprüche.
Die Lokführergewerkschaft ASLEF ist am 1. Februar mit der Mehrheit ihrer 21 000 Mitglieder, die in mehr als einem Dutzend Bahnunternehmen beschäftigt sind, in den Streik getreten. Die ASLEF wird weitere Aktionen durchführen, nachdem es ihr nicht gelungen ist, mit den Bossen eine Einigung über Löhne und Arbeitsbedingungen zu erzielen. Die Verkehrsgewerkschaft RMT hat am 1. Februar ebenfalls ihre Lokführer [aber nicht die anderen Beschäftigtengruppen] zum Streik aufgerufen und am anderen Tag streikt die ASLEF. Dies scheint eine verpasste Gelegenheit für die RMT zu sein, die in vielerlei Hinsicht das Rückgrat der Streikbewegung seit letztem Sommer war, da die Mehrheit ihrer Mitglieder keine Lokführer sind, sondern andere Aufgaben wahrnehmen. Die RMT führt derzeit eine Urabstimmung unter ihren Mitgliedern über ein neues Angebot durch, wobei erwartet wird, dass es abgelehnt wird.
Für diese Verkehrsgewerkschaften – und ihre Fahrgäste – geht es in diesen Auseinandersetzungen, bei denen die RMT seit neun Monaten Streikaktionen durchführt, auch um erhebliche Arbeitsplatzverluste. Das Vorhaben, viele Züge nur noch mit Fahrern zu besetzen, hat enorme Auswirkungen auf die Sicherheit und wird außerdem den Zugang zu den Zügen für Menschen mit Behinderung weiter erschweren, von denen viele auf Hilfe angewiesen sind, um in die Züge ein- und auszusteigen.
Die andere Gewerkschaft, die am 1. Februar in England und Wales in einen größeren Streik getreten ist, ist die NEU, die wichtigste Lehrergewerkschaft in diesen beiden Ländern. Sie fordert eine gerechte und den Lebensstandard sichernde Lohnerhöhung. Die NEU gab das Ergebnis ihrer Urabstimmung am 16. Januar bekannt. In Wales konnten sie ein ausreichend hohes Ergebnis erzielen, um alle ihre Mitglieder zur Teilnahme zu bewegen, aber in England streikten nur die Lehrkräfte, da der Anteil der Ja-Simmen des übrigen Schulpersonals nicht hoch genug war. Die zweitgrößte Lehrergewerkschaft in England und Wales, die NASUWT, hatte mit überwältigender Mehrheit für Streiks gestimmt, erreichte aber nicht die erforderliche Wahlbeteiligung. Einige NASUWT-Mitglieder sind der NEU beigetreten, um zu streiken. Seit der Bekanntgabe der Urabstimmungsergebnisse und des Streikplans hat die NEU über 40 000 neue Mitglieder gewonnen.
Das Schulwesen in Schottland ist von dem in England und Wales getrennt und die dortige Lehrergewerkschaft EIS verfolgt ein anderes Programm an Arbeitskämpfen mit einem eintägigen landesweiten Streik im Januar, gefolgt von einem rollierenden Programm eintägiger Aktionen im Januar und Februar, die jeweils zwei Landkreise betreffen. Darauf folgen zwei ganztägige Streiks in ganz Schottland am 28. Februar und 1. März. Der Kampf richtet sich gegen die Kommunalverwaltungen und die schottische Regierung der Scottish National Party (SNP), die von den Grünen unterstützt wird. Die EIS ist die größte Gewerkschaft in den schottischen Schulen, insbesondere in den Grundschulen. Aber auch drei kleinere Lehrergewerkschaften haben für Streiks gestimmt. Die Streikpostenketten an den Schulen und die Teilnahme an örtlichen Kundgebungen haben während des Streiks erheblich zugenommen, und die überwiegend weiblichen Mitglieder der EIS werden immer kämpferischer – eine vollständige zweitägige Schließung der schottischen Schulen ist sehr wahrscheinlich.
Trotz der Tatsache, dass die Mainstream-Medien, sehr oft gemeinsam mit der britischen Regierung, die Streikenden über Monate hinweg angegriffen und verzweifelt versucht haben, vermeintlich „gewöhnliche Mitglieder der Öffentlichkeit“ zu finden, die gegen sie wettern, erfreuen sich die Streiks weiterhin großer Beliebtheit.
Es gibt viele Berichte über Eltern und Schüler, die sich an Streikposten vor Schulen beteiligen, um die dort Beschäftigten zu unterstützen. Studierende, die den Streik der UCU unterstützen, schlossen sich ebenfalls Streikposten und Demonstrationen an den Universitäten in ganz Großbritannien an und studentische Solidaritätsgruppen werden zunehmend zu einem Bestandteil des Universitätslebens und beginnen, die bisher noch kaum wahrgenommenen steigenden Lebenshaltungskosten auch für eine Million Studierende zu thematisieren.
Die Demonstrationen am 1. Februar wurden mit Hupkonzerten von Bussen und Autos begrüßt und die Menschen kamen jubelnd und klatschend von ihren Arbeitsplätzen und aus ihren Wohnungen. Immer mehr Menschen aus der Arbeiter*innenklasse erkennen, dass die Krise der Lebenshaltungskosten ein Angriff auf uns alle ist, auf Erwerbstätige und Nicht-Erwerbstätige quer durch alle Altersgruppen.
Die Berichte über die Beteiligung an den Demonstrationen waren beeindruckend. 40 000 in London, 9000 in Oxford, 7000 in Bristol, 1000 in Cardiff, 500 in Swansea, 2000 in Leeds, 4000 in Manchester, 1000 in Glasgow, 700 in Nottingham bei der Kundgebung im Saal und viele weitere bei Demonstrationszügen auf den Straßen sowie in kleinerer Zahl in anderen Orten. Von vielen anderen Protesten wird berichtet, dass Tausende auf der Straße waren.
Genauso wichtig wie die Zahl der Teilnehmenden war die Stimmung – die Überzeugung, dass die Lohnforderungen der Gewerkschaften völlig gerechtfertigt sind und dass die Öffentlichen Dienste, für die die Beschäftigten sorgen, ebenso wie ihre Löhne durch mehr als ein Jahrzehnt der Sparmaßnahmen zusammengeschrumpft wurden. Die Menschen sind sich darüber im Klaren, dass das „Minimum Service Bill“ – so der offizielle Name des gewerkschaftsfeindlichen Gesetzentwurfs – ein schlechter Scherz ist in einem Land, in dem Unterbesetzung und Überlastung dazu führen, dass die Dienstleistungen, insbesondere im Nationalen Gesundheitsdienst (NHS), zusammenbrechen und die bestehenden Gesetze so drakonisch sind. Die Gewerkschaften im Vereinigten Königreich sind mit sehr restriktiven Gesetzen konfrontiert, die Streiks behindern: Sie müssen per Brief (also nicht elektronisch) Abstimmungen durchführen, eine hohe Wahlbeteiligung ist erforderlich, Kampfmaßnahmen können sich nur gegen einzelne „Arbeitgeber“ richten – also nicht gegen die jeweilige Kontrollinstanz wie die Regierung – und Streiks müssen 14 Tage im Voraus angekündigt werden. Eine Missachtung führt immer wieder dazu, dass Gerichte Gewerkschaftsgelder beschlagnahmen und Funktionäre und Mitglieder strafrechtlich verfolgen.
Die Mainstream-Medien in Großbritannien machen viel Aufhebens um die Tatsache, dass 2011 mehr als doppelt so viele Arbeiter*innen gegen Angriffe auf die Renten im Öffentlichen Sektor gestreikt haben. Aber die Situationen sind nicht vergleichbar. Die meisten Arbeiter*innen wussten damals, dass die Aktion im Jahr 2011 nicht mehr als ein symbolischer Protest war. Der 1. Februar ist für einige Gewerkschaften Teil einer sieben Monate andauernden Aktionswelle, die möglicherweise immer noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat.
In Schottland und Wales haben die Regierungen der SNP (Schottische National Partei mit Unterstützung der Grünen) und – in Wales – der Labour-Partei (mit Unterstützung von Plaid Cymru) versucht, bessere Lohnangebote zu machen als die britische Tory-Regierung, so dass einige Streiks in einem oder in diesen beiden Ländern vermieden werden konnten. Formal stehen alle vier dieser mehrheitlich sozialdemokratisch geprägten Parteien gewerkschaftlichen Forderungen und dem Streikrecht positiv gegenüber. Sie verfügen jedoch nicht über die rechtlichen oder finanziellen Mittel der britischen Zentralregierung, die sozialdemokratischen Parteien sind in den Zwängen der britischen Dezentralisierung gefangen. Wenn es ihnen nicht gelingt, sich von diesem Zwang zu befreien, werden sie letztlich eher Teil des Problems als dessen Lösung sein.
Zwar streikten am 1. Februar sechs Gewerkschaften, doch sind damit noch nicht alle Gewerkschaften erfasst, die sich derzeit im Arbeitskampf befinden. An diesem Tag war keine Gewerkschaft des Gesundheitswesens im Streik, aber die vier wichtigsten Gewerkschaften werden in England zwischen dem 6. und 10. Februar in den Ausstand treten. Die Gewerkschaft der Krankenpfleger*innen, das Royal College of Nursing (RCN), wird am 6. und 7. Februar streiken. Während des größten Teils seiner hundertjährigen Geschichte waren für das RCN Streiks ein Tabuthema, so dass die aktuelle Aktion eine bedeutende Veränderung darstellt. Beschäftigte des Rettungsdienstes der Gewerkschaften GMB und Unite werden ebenfalls am 6. Februar in England streiken, während die dritte Gewerkschaft, Unison, ihre Beschäftigten des Rettungsdienstes am 10. Februar in England zum Streik aufruft. Die Chartered Society of Physiotherapy wird am 9. Februar streiken. Es gibt also nur einen Tag in dieser Woche, an dem kein Gesundheitspersonal streiken wird. Die Assistenzärzte in England, die der Gewerkschaft BMA angehören, führen ebenfalls eine Urabstimmung über Streiks für höhere Gehälter durch und diese könnten im März folgen. In Wales hat die GMB ihre Aktionen ausgesetzt, um ihren Mitgliedern ein neues Angebot der walisischen Regierung vorzulegen.
Zwei weitere Gruppen sollten erwähnt werden. Die Postangestellten der Gewerkschaft Communication Workers Union (CWU) streikten in der Vorweihnachtszeit 18 Tage lang für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Es gab zwei getrennte Urabstimmungen – niemand, mit dem ich gesprochen habe, versteht warum – im Abstand von wenigen Wochen. Nach den geltenden gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen lief ihr Mandat für Streiks für höhere Löhne aus, und sie mussten die Urabstimmung wiederholen. Bei der ersten Abstimmung ging es um die Löhne, bei der zweiten um die Arbeitsbedingungen, bei denen die Geschäftsleitung im Allgemeinen versucht, die Produktivität zu steigern, die Fahrer zu zwingen, sich selbständig zu machen, und die Royal Mail in ein Paketzustellunternehmen à la Amazon zu verwandeln.
Nach den geltenden gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen lief ihr Mandat für einen Lohnkampf aus, und sie mussten eine neue Urabstimmung durchführen. Leider werden die Ergebnisse der Urabstimmung nicht vor dem 16. Februar erwartet, und die 14-tägige Ankündigungsfrist für einen Streik bedeutet, dass Streiks zu diesem Thema erst Anfang März wieder aufgenommen werden können. In der Zwischenzeit haben sie für den 16. Februar einen Streik zu den Arbeitsbedingungen angekündigt, da die Geschäftsführung einseitig Änderungen durchsetzt.
Die Feuerwehrgewerkschaft FBU gab am 30. Januar das Ergebnis ihrer Urabstimmung [im gesamten Vereinigten Königreich] über einen Arbeitskampf bekannt, bei der sich bei einer Wahlbeteiligung von 73 % hervorragende 88 % für den Arbeitskampf ausgesprochen haben. Die FBU hat den Behörden und der Regierung eine Frist von 10 Tagen bis zum 9. Februar gesetzt, um ihren Mitgliedern ein verbessertes Angebot zu unterbreiten. Die FBU ist mit weniger als 35 000 Mitgliedern relativ klein, befindet sich aber in einer strategisch sehr wichtigen Position.
Für alle Gewerkschaften, die am 1. Februar auf die Straße gegangen sind, war dieser Tag nur einer von mehreren, die je nach Gewerkschaft oder Branche unterschiedlich verlaufen. Es wird über einen weiteren koordinierten Aktionstag vielleicht Anfang März diskutiert – und diejenigen von uns, die sich besonders in der Kampagne gegen die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze engagieren, fordern eine nationale Demonstration gegen das neue Gesetz. Auf jeden Fall ist die Stimmung nach dem 1. Februar zweifellos besser als vorher. Mehr als eine Million Beschäftigte sind derzeit von ihrer Gewerkschaft zum Streik aufgerufen, aber der 1. Februar war der erste koordinierte Tag in ganz Großbritannien – viele erwarten für die Zukunft ein höheres Maß an Koordination.
Die Geschichte, die Struktur und die Traditionen der gewerkschaftlichen Organisation sind in jedem Land anders. Eine Besonderheit in Großbritannien liegt darin, dass es einen gemeinsamen Gewerkschaftsverband, den Trade Union Congress (TUC), gibt, dem fast alle Gewerkschaften angeschlossen sind, insgesamt sind es 98. Es gibt aber auch Ausnahmen. Das RCN ist nicht dem britischen TUC angeschlossen – und war ursprünglich eher ein Berufsverband als eine Gewerkschaft. Auf der anderen Seite gibt es kleinere Gewerkschaften – die Industrial Workers of the World UK, die Independent Workers Union of Great Britain und United Voices of the World, die sich als demokratischer als die traditionellen Gewerkschaften verstehen und sich oft an die sich überschneidenden Gruppen der prekär Beschäftigten mit Arbeitsverträgen über null Stunden und der Wanderarbeiter wenden und ebenfalls unabhängig vom TUC sind. In Schottland gibt es seit über einem Jahrhundert ein unabhängiges Zentrum für gewerkschaftliche Organisation – den STUC –, aber die Mitgliedschaft überschneidet sich weitgehend mit der des TUC, es gibt eine gegenseitige Anerkennung und der STUC fungiert weitgehend als die einheitliche Gewerkschaftsorganisation in diesem Land.
Unter den dem TUC angeschlossenen Gewerkschaften gibt es erhebliche Unterschiede. Einige sind Industriegewerkschaften, die in einem einzigen Wirtschaftszweig organisiert sind, während andere allgemeine Gewerkschaften sind, die in vielen Bereichen Mitglieder aufnehmen. Viele Gewerkschaften gibt es im gesamten Vereinigten Königreich, also einschließlich Nordirlands, während einige auch in der Republik Irland Mitglieder aufnehmen. EIS, die Lehrer*innengewerkschaft, die nur in Schottland aktiv ist, wurde bereits erwähnt und es gibt auch eine kleine Bildungsgewerkschaft, die nur in Wales tätig ist. Seltsamerweise unterstützt die Artists Union of England nur in England lebende Künstler*innen.
Traditionell waren die meisten Industriegewerkschaften der Labour Party angeschlossen, während die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes seltener Mitglied waren. Die Mitgliedschaft ermöglicht es den Gewerkschaften, formell an der Politikgestaltung der Labour Party mitzuwirken. Sie hat es aber auch vielen Gewerkschaftsführer*innen ermöglicht, sich gegen Streiks auszusprechen, nach dem Motto: „Wir wollen keine Unruhe stiften“. Diese Rücksichtnahme kommt nicht nur zum Zug, wenn die Labour-Partei an der Regierung ist, sondern auch im Vorfeld von Parlamentswahlen, wenn es darum geht, die Tories von der Regierung fern zu halten, was das Wichtigste – manchmal sogar das Einzige – ist, wofür diese Gewerkschaftsführungen aktiv sind. Da der Dachverband TUC die gleiche Grundausrichtung verfolgt, wirken sich solche Argumente auch auf Gewerkschaften aus, die nicht Mitglied der Labour Party sind.
Das Niveau der betrieblichen Organisation ist sehr unterschiedlich. Vor der historischen Niederlage des Bergarbeiterstreiks von 1984–85 gab es eine starke Zunahme und Koordinierung von Vertrauensleuten – gewählte Vertreter*innen in den Betrieben und auch betriebsübergreifend unter den Arbeiter*innen der gleichen Berufsgruppe. Diese Aktivist*innen fungierten als Sprachrohr der Mitglieder in Auseinandersetzungen mit der Unternehmensleitung, aber auch als Transmissionsriemen für gewerkschaftliche Botschaften an die Mitglieder, gleichzeitig aber auch als Widerpart zu Konzepten der Sozialpartnerschaft, wenn hauptamtliche Gewerkschafter*innen versuchten, diese zu verbreiten.
Nach der Niederlage des Bergarbeiterstreiks und anderer wichtiger Streiks wurde diese Ebene gewerkschaftlicher Aktivist*innen jedoch durch gewerkschaftliche und politische Niederlagen (einschließlich massiver Entlassungen und Schließungen in der gesamten Industrie) nachhaltig geschwächt. Auch im expandierenden öffentlichen und Dienstleistungssektor war es nicht möglich, in nennenswertem Umfang neue, jüngere Aktivist*innen gewerkschaftlich zu organisieren, da die überwältigende Mehrheit der Gewerkschaftsführungen entweder die Sozialpartnerschaft oder ein „Dienstleistungs“-Modell – Beitritt zur Gewerkschaft, um billigere Versicherungen usw. zu erhalten – oder eine Kombination von beiden vertrat.
Der Rechtsruck war nicht universell, aber kleinere und aktivere Gewerkschaften wie die RMT und die FBU waren nicht in der Lage, das allgemeine Kräfteverhältnis zu verschieben. Die Zahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage sank auf einen historischen Tiefstand – ebenso wie die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, insbesondere im privaten Sektor. Der Anteil der Beschäftigten im Vereinigten Königreich, die Mitglied einer Gewerkschaft sind, sank auf 23,1 % im Jahr 2021. Dies ist der niedrigste Prozentsatz an Gewerkschaftsmitgliedern unter den britischen Arbeiter*innen, für den uns entsprechende Daten vorliegen. Im Jahr 1979 zählte der TUC 13 Millionen Mitglieder, im Jahr 2022 nur noch 5,5 Millionen.
Die Streiks der letzten sieben Monate haben begonnen, die Situation umzukehren – es wurden mehr Gewerkschaftsmitglieder gewonnen, es wurden mehr Aktivist*innen motiviert und vielen Menschen wurde zum ersten Mal ein gewisser Eindruck ihrer kollektiven Macht vermittelt. Die Tatsache, dass die britische Tory-Regierung – die oft direkt oder indirekt für das Lohnniveau verantwortlich ist – gleichzeitig so unnachgiebig und so verhasst ist, hat Auswirkungen auf die Dynamik der Ereignisse. Während einige Bosse in der Privatwirtschaft ohne Streik oder nach relativ kurzen Auseinandersetzungen sich auf Lohnabschlüsse im zweistelligen Bereich einließen, gibt es bei den großen Streiks im Öffentlichen Dienst bisher kein Anzeichen für Bewegung.
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Dies hat zur Folge, dass trotz der Tatsache, dass die Labour-Partei in den Meinungsumfragen im Vereinigten Königreich meilenweit vor den regierenden Tories liegt, jeder Versuch der Beruhigung nach dem Motto „Treibt es nicht zu wild“ keine nennenswerte Wirkung auf die Kampfbereitschaft hat. Gleichzeitig entwickelt sich langsam eine breitere soziale Bewegung, die sich mit den Streiks solidarisiert, wobei sie sich häufig von den Unterstützungsgruppen der Bergarbeiter inspirieren lässt, die es 1984/85 gab (und die in dem bekannten Film „Pride“ dargestellt wurden). Lokale Gewerkschaftsorganisationen – Trades Councils – führten jahrzehntelang ein Schattendasein, könnten aber allmählich eine größere Rolle spielen.
In vielen Gewerkschaften, auch in den derzeit im Streik befindlichen, haben die hauptamtlichen Funktionär*innen und nicht die von der Mitgliedschaft gewählten Personen die größte Entscheidungsmacht, wenn es darum geht, darüber zu befinden, wie die Auseinandersetzungen geführt werden und wann Streiks ausgerufen werden. Die linken Fraktionen in den meisten Gewerkschaften sind schwach und zersplittert – sie verbringen oft genauso viel Zeit damit, sich untereinander zu streiten, wie sie damit zubringen, sich mit den Bossen oder der Gewerkschaftsbürokratie auseinanderzusetzen. Sie konzentrieren sich praktisch nicht darauf, wie neue Aktivist*innen, die sich am Arbeitsplatz radikalisieren, einbezogen werden können.
Dies bedeutet, dass es zwei strategische Debatten geben muss. Einerseits muss darüber diskutiert werden, wie die aktuellen Streiks gewonnen werden können – ein Thema, bei dem es in der radikalen Linken eine große Übereinstimmung mit dem Ruf nach Ausweitung und Koordination der Aktionen gibt. Aber darüber hinaus und unabhängig davon, ob es uns in allen Fällen gelingt, den Angriff auf unseren Lebensstandard, unsere Arbeitsbedingungen und auf unser Recht, uns gewerkschaftlich zu organisieren, zurückzuschlagen, müssen wir in uns gehen und darüber nachdenken, wie wir unsere Gewerkschaften so umgestalten können, dass die Arbeiter*innen selbst entscheiden, wie und wann sie Maßnahmen ergreifen, und nicht diejenigen, die wir als Hauptamtliche bezahlen und die dazu da sein sollten, diese Entscheidungen umzusetzen, anstatt ihre Wirksamkeit zu behindern oder abzuschwächen.
5. Feb. 2023 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz