Russische Sozialist:innen über das Wesen des Krieges in der Ukraine und über die Illusionen der westlichen „Pazifist:innen“
Russländische Sozialistische Bewegung (RSD), Auslandsabteilung
Seit einem Jahr tötet das Regime von Wladimir Putin Ukrainer:innen, treibt Hunderttausende Russ:innen in den Tod und bedroht die Welt mit Atomwaffen im Namen des wahnsinnigen Ziels der Wiederherstellung des russischen Reichs.
Für uns Russ:innen, die sich der Aggression und Diktatur Putins widersetzen, war es ein Jahr des Schreckens und der Schande wegen der Kriegsverbrechen, die täglich in unserem Namen begangen werden.
Grafik: Posle |
Am Jahrestag dieses Krieges rufen wir alle, die sich für den Frieden einsetzen, auf, gegen Putins Invasion zu demonstrieren.
Es ist bedauerlich, dass nicht alle Demonstrationen „für den Frieden“, die in diesen Tagen stattfinden werden, Aktionen der Solidarität mit der Ukraine sein werden. Ein großer Teil der Linken im Westen versteht das Wesen dieses Krieges nicht und zieht den Kompromiss mit dem Putinismus vor.
Wir haben diesen Text verfasst, um unseren Genoss:innen im Ausland zu helfen, die Situation zu verstehen und die richtige Haltung einzunehmen.
Einige westliche Autor:innen sehen die Ursachen des Krieges im Zusammenbruch der UdSSR, in der „widersprüchlichen Geschichte der ukrainischen Nationsbildung“ und in der geopolitischen Konfrontation der Atommächte.
Ohne die Bedeutung dieser Faktoren in Abrede stellen zu wollen, sind wir doch überrascht, dass der wichtigste und offensichtlichste Grund für die Ereignisse nicht auf der Liste steht ‒ der Wille des Putin-Regimes, demokratische Protestbewegungen in der ehemaligen Sowjetunion und in Russland selbst zu unterdrücken.
Die Einnahme der Krim und der Ausbruch der Feindseligkeiten im Donbass im Jahr 2014 waren die Antwort des Kremls auf die „Revolution der Würde“ in der Ukraine, die die korrupte pro-russische Regierung von Wiktor Janukowitsch stürzte, und auf die Massendemonstrationen von Russ:innen für faire Wahlen in den Jahren 2011/2012 (bekannt als die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz).
Die Annexion der Halbinsel war für Putin ein innenpolitischer Triumph. Er nutzte erfolgreich revanchistische, antiwestliche und traditionalistische Rhetorik (sowie Repression), um seine gesellschaftliche Basis zu verbreitern, die Opposition zu isolieren und die Bevölkerung mit den Folgen des „Maidans“ zu verängstigen.
Der „Krim-Effekt“ war jedoch nur von kurzer Dauer: Ende der 2010er Jahre ließen die wirtschaftliche Stagnation, die unpopuläre Rentenreform und die medienwirksamen Anti-Korruptions-Enthüllungen von Nawalnys Team die Umfragewerte Putins wieder sinken, vor allem bei jungen Menschen. Proteste erschüttern erneut das Land und die Regierungspartei Einiges Russland musste bei den Regionalwahlen eine Reihe empfindlicher Niederlagen einstecken.
Unter diesen Umständen setzte der Kreml alles auf den Erhalt des Regimes. Das Verfassungsplebiszit 2020 (das selbst für russische Verhältnisse beispiellose Fälschungen erforderte) machte Putin zum Herrscher auf Lebenszeit. Unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung wurden schließlich Demonstrationen verboten und einer der Führer:innen der außerparlamentarischen Opposition, Alexej Nawalny, überlebte nur knapp einen Giftanschlag.
Der Volksaufstand in Belarus im Sommer 2020 bestätigte die russische Elite in ihrer Überzeugung, der „kollektive Westen“ führe einen „Hybridkrieg“ gegen Russland und seine Satellitenstaaten mit „Farbenrevolutionen“.
Natürlich sind solche Behauptungen nichts anderes als Verschwörungstheorien. Die soziale und politische Unzufriedenheit in Russland wuchs aufgrund der Rekorde brechenden sozialen Ungleichheit, der Armut, der Korruption, der Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten und der offensichtlichen Sinnlosigkeit des russischen Kapitalismusmodells, das auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch eine parasitäre Schicht von Rohstoffoligarchen beruht.
Wenn es etwas gibt, das wir dem „kollektiven Westen“ vorwerfen können, dann ist es seine langjährige Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Putinismus, auch in der Ukraine-Frage. Jahrzehntelang haben die europäischen und amerikanischen Eliten versucht, mit Putins Russland „business as usual“ zu machen, was die Entstehung einer Diktatur und die Umverteilung des Reichtums von unten nach ermöglichte und es Russland erlaubte, sich auf der Weltbühne für seine Außenpolitik völlig ungestraft zu fühlen.
Der Einmarsch in die Ukraine war Putins Versuch, seinen Triumph von 2014 auf der Krim zu wiederholen ‒ einen schnellen Sieg zu erringen, die russische Gesellschaft unter revanchistischen Parolen zu vereinen, die Opposition endgültig zu zerschlagen und sich als Hegemon im postsowjetischen Raum (den Putins Imperialismus als Teil des „historischen Russlands“ betrachtet) zu etablieren.
Der heldenhafte Widerstand der Ukrainer durchkreuzte diese Pläne und verwandelte den vom Kreml erträumten „kleinen siegreichen Krieg“ in einen langwierigen Konflikt, der die Wirtschaft ausblutet und den Mythos von der Unbesiegbarkeit der russischen Armee untergräbt. Unter diesen Bedingungen schüchtert Moskau einerseits die Welt mit Atomwaffen ein und drängt andererseits die Ukraine und den Westen zunehmend zu Verhandlungen.
Im Einklang mit dieser Rhetorik stehen die Stimmen der europäischen und amerikanischen Linken, die Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen (um „Menschenleben zu retten“ und eine nukleare Apokalypse zu verhindern). Gleichzeitig ‒ da Russland nicht bereit ist, sich aus den eroberten Gebieten zurückzuziehen, was für Kiew (und für 93 % der Ukrainer:innen) eine unabdingbare Voraussetzung ist ‒ wird impliziert, dass die Ukraine ihre Souveränität opfern muss, um „den Aggressor zu besänftigen“. Eine Politik mit unheilvollen Präzedenzfällen in der europäischen Geschichte!
Stimmt es, dass die Niederlage der Ukraine (die unvermeidlich ist, wenn die westliche Hilfe gekürzt wird) dazu beitragen wird, größere Opfer zu vermeiden? Selbst wenn wir die aus sozialistischer Sicht nicht schlüssige Logik akzeptieren, dass die „Rettung von Menschenleben“ wichtiger ist als der Kampf gegen Tyrannei und Aggression, glauben wir nicht, dass dies der Fall ist.
Bekanntlich erhebt Wladimir Putin Anspruch auf das gesamte Territorium der Ukraine und behauptet, Ukrainer:innen und Russ:innen seien „ein Volk“ und die ukrainische Staatlichkeit sei ein Fehler der Geschichte. Ein Waffenstillstand wäre eine Atempause, die es dem Kreml ermöglichen würde, seine militärischen Kapazitäten für einen neuen Angriff wieder aufzubauen. Ein Teil davon wäre die Vergrößerung der Armee durch die Zwangsrekrutierung von Russen (hauptsächlich aus den ärmsten Schichten und ethnischen Minderheiten).
Wenn sich die Ukraine trotz der Einstellung der Waffenlieferungen weiterhin gegen die Aggression zur Wehr setzt, wird dies unzählige Opfer unter den ukrainischen Soldaten und unter der ukrainischen Zivilbevölkerung zur Folge haben. Neue Gebiete, die von Russland erobert werden, werden dem Terror ausgesetzt sein, dessen grausame Spuren wir in Butscha und anderen Orten gesehen haben, die von russischen Truppen hinterlassen wurden.
Wenn Putin von der Zerstörung der amerikanischen Hegemonie in der Welt und sogar von „Antikolonialismus“ (!) spricht, meint er keineswegs die Schaffung einer egalitäreren Weltordnung.
Putins „multipolare Welt“ ist eine Welt, in der Demokratie und Menschenrechte nicht mehr als universelle Werte gelten und die so genannten „Großmächte“ freie Hand in ihren geopolitischen Einflusssphären haben.
Es handelt sich in der Tat um eine Wiederherstellung des Systems der internationalen Beziehungen, das vor dem Ersten Weltkrieg bestand.
Diese „schöne alte Welt“ ist ein wunderbarer Ort für Diktatoren, korrupte und rechtsradikale Politikaster. Aber sie wäre die Hölle für Arbeiter:innen, ethnische Minderheiten, Frauen, LGBT-Menschen, kleine Nationen und Befreiungsbewegungen.
Putins Sieg in der Ukraine würde nicht die Wiederherstellung des Status quo der Vorkriegszeit bedeuten. Er würde einen fatalen Präzedenzfall schaffen, der das „Recht der Großmacht“ auf Aggression und nukleare Erpressung legitimiert. Er wäre der Prolog zu neuen militärischen und politischen Katastrophen.
Ein Sieg Putins würde nicht nur die Versklavung der Ukraine bedeuten, sondern die Unterwerfung aller postsowjetischen Länder unter das Diktat des Kremls.
In Russland selbst würde der Sieg des Regimes zur Festigung eines Systems führen, dessen bestimmende Merkmale die Vorherrschaft der Gewalt- und Ressourcenoligarchie über die anderen sozialen Klassen (und vor allem die Arbeiterklasse) und die räuberische Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (hauptsächlich Öl und Gas) auf Kosten der technologischen und sozialen Entwicklung sind.
Im Gegensatz dazu würde die Niederlage des Putinismus in der Ukraine wahrscheinlich dem demokratischen Wandel in Belarus, Kasachstan und anderen ehemaligen Sowjetstaaten sowie in Russland selbst Auftrieb geben.
Es wäre zu optimistisch zu behaupten, dass eine Kriegsniederlage automatisch eine Revolution nach sich ziehen würde. In der russischen Geschichte gibt es jedoch zahlreiche Beispiele dafür, dass militärische Niederlagen zu großen Veränderungen im Land geführt haben ‒ darunter die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Revolutionen von 1905 und 1917 und die Perestroika der 1980er Jahre.
Die russischen Sozialist:innen wollen keinen „Sieg“ für Putin und seine Oligarchen-Kumpane. Wir rufen alle, die wirklich Frieden wollen und noch an einen Dialog mit der russischen Regierung glauben, auf, den Rückzug russischer Truppen aus den ukrainischen Gebieten zu fordern. Jeder Friedensappell, der diese Forderung nicht enthält, ist heuchlerisch.
Nein zum Krieg! Für eine solidarische Antwort auf Putins Aggression in der Ukraine
Keine Mobilisierung! Russen sind kein Kanonenfutter!
Freiheit für die politischen Gefangenen!
Russland muss frei sein!
Original: Наш лозунг – «Война войне!» |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz