Friedrich Voßkühler
Macht ist dann gänzlich „souverän“, wenn sie in der Lage ist, menschliches Leben auf „nacktes“, „bloßes“ Leben zu reduzieren. Sie ist dann „souverän“, wenn es in ihrem Belieben steht, einen „Ausnahmezustand“ herbeizuführen, der es erlaubt, Menschen „wie Läuse“ (Hitler) zu vernichten. „Unter dem Nazismus ist der Jude die privilegierte Negativreferenz“ dieser „biopolitischen Souveränität“ gewesen, ein „flagranter Fall“ des „homo sacer“ im „Sinn“ eines nichts als „tötbaren“ „Lebens“ (Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt 2002, S.124).„Die Verwirklichung einer schieren Tötbarkeit“ war der „Bedingung des Juden als solcher inhärent“ (ibid.). Der Jude war „tötbar“, weil er Jude war. Er war „tötbar“, weil er „nacktes“, „bloßes“ Leben ohne menschliche Würde darstellte. Ihn traf die Verachtung derjenigen, denen das „bloße“ Leben nichts galt, für die das Leben keinen „Wert an sich selbst“ besaß, sondern vielmehr dazu bestimmt war, in Rauch aufzugehen und nichts als Asche zurückzulassen.
Was ist demzufolge Antisemitismus? Die Strategie „souveräner Macht“, die schiere „Tötbarkeit“ „nackten“, „bloßen“ menschlichen Lebens zu verwirklichen. Die Strategie, sich des anderen Menschen zu bemächtigen und ihm die Verfügung über sein Leben zu rauben. Die Strategie, das menschliche Leben bis auf den Punkt herabzubringen, wo ihm seineWürde genommen ist. Der Jude ist „unter dem Nazismus“ ohne Zweifel die „privilegierte Negativreferenz“ dieser Strategie gewesen, aber folgt daraus, dass der Begriff Antisemitismus zwangsläufig mit „antijüdisch“ zu übersetzen sei? Was ist, wenn der Vorwurf des Antisemitismus strategisch dazu benutzt wird, die Machtoptionen des Staates Israel moralisch und politisch unangreifbar zu machen? Was ist, wenn der Staat Israel in den von ihm besetzen palästinensischen Gebieten das Leben der Bewohner auf „nacktes“, „bloßes“Leben reduziert? Was ist, wenn er diese Gebiete unter einen „Ausnahmezustand“ stellt, der es ihm einräumt,mit ihren Bewohnern nach eigenem Gutdünken umzugehen? Was ist, wenn er den Palästinensern die Möglichkeit raubt, über das eigene Leben zu verfügen und sie stattdessen auf den Status von Hilfsgüterempfängern reduziert? Was ist, wenn er es als seine souveräne Entscheidung begreift, die Menschen durch Flächenbombardements vernichten zu dürfen?
Wenn das so ist – und es ist so –, dann sind die jüdischen Machthaber des Staates Israel Antisemiten. Jude zu sein schützt nicht davor, Antisemit zu sein. Jude zu sein, schützt nicht davor, Staatsbürger in einem rassistischen und nationalistischen Staatswesen zu sein, das sich der Strategie „souveräner“ Machtausübung bedient. Ein solches Staatswesen missbraucht den Begriff des Antisemitismus und übt sich in der Strategie, die Opfer des Holocaust dazu zu benutzen, das Verbrechen an der palästinensischen Bevölkerung moralisch und politisch zu legitimieren. Das Ziel ist, die Öffentlichkeit wie beispielweise in den USA und Deutschland zu Geiseln dieser politischen und moralischen Perversion zu machen und soweit als möglich alle Kritik zu ersticken. Das zionistische Selbstverständnis der Führung des israelischen Staates verrät die ethische Substanz des Judentums und tritt das Angedenken der Opfer des Holocausts in den Schmutz. Diesem politischen und moralischen Missbrauch, der mit dem Begriff des Antisemitismus getrieben wird, widerspreche ich auf das Entschiedenste.
Meine These ist, dass die religiöse und ethische Substanz des Judentums von dem Religionsphilosophen Emmanuel Lévinas in einer Art und Weise zur Sprache gebracht worden ist, der nur schwerlich zu widersprechen ist. Für Lévinas ist das Gebot der „Diakonie“ – der Brüderlichkeit – der Kern der jüdischen Spiritualität und Ethik. Was versteht Lévinas unter Brüderlichkeit? Die nicht in Frage zu stellende „Heimsuchung“ durch das „Antlitz“ des anderen Menschen. „Das Antlitz ist Not“, und in der „Direktheit“ seiner „Not“, „die auf mich zielt“, ist es „inständiges Flehen“ (Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Freiburg und München 1987, S. 222). Diesem „Flehen“ gilt meine ganze mitmenschliche Verantwortung ohne Wenn und Aber. Es fordert mich in einer Art und Weise zu einer Antwort auf, als ob die ganze Schöpfung auf ihr lasten würde. Was uns derart heimsucht, nimmt seinen „Ausgang von einer absolut fremden Sphäre“ (ibid.), es nimmt seinen „Ausgang“ von jenem Fernsten und Abwesenden, das wir Gott nennen. Die „Spur“ dieses Fernsten und Abwesenden findet sich in der „Not“ des „Antlitzes“, das mich „anfleht“ und zur „Verantwortung“ auffordert. Mit der Antwort auf das „Antlitz“ des anderen Menschen – unseres Bruders – antworten wir auf die Weisung des abwesenden Gottes, sich von der „Not“ „heimsuchen“ zu lassen. Gott ist als Gott abwesend, anwesend ist er nur in der „Not“ des uns begegnenden „Antlitzes“. Mit wenigen Worten zusammengefasst: „Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, eine Anordnung zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zur Antwort“ (Die Spur des Anderen, S. 224). Dies ist der Kern der humanistischen und zugleich religiösen Ethik des Judentums, wie er von Emmanuel Lévinas formuliert wird.
Diese Ethik sagt: Kein Opfer – aus welchem Grund auch immer – ist sittlich legitimierbar. Sie sagt: Wenn wir aus dem Holocaust eine Lehre ziehen wollen, dann müssen gerade wir, die Juden, die die Opfer waren, damit Schluss machen, dass andere geopfert werden. Wir müssen jede Art der Legitimation des Opfers aus der Welt schaffen!
Wir sehen: Diese Lehre ist nicht nationalistisch, nicht rassistisch und auch nicht fundamentalistisch religiös. Sie ist universalistisch. Sie gilt für alle Menschen, ob Juden, Palästinenser, Inder oder Franzosen. Und was sie deswegen ganz und gar nicht ist: Sie ist nicht zionistisch. Der Zionismus ist Gottesleugnung. Er leugnet die „Epiphanie des absolut Anderen“ im „Antlitz“ des Mitmenschen. Der Zionismus ist die Leugnung Gottes zugunsten der Strategie der „souveränen Macht“ des Staates Israel. Netanjahu aber ist nicht der Hohepriester Jahwes, sondern der rassistische und nationalistische Vertreter der Staatsmacht Israels, die sich um die religiöse und ethische Substanz des Judentums einen Dreck schert. Gott offenbart sich mitmenschlich. Weder auf dem Tempelberg, noch in den jüdischen Siedlungen und auch nicht im militärisch-industriellen Komplex, der zur Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung eingesetzt wird, findet der Gott der Diakonie seinen menschlichen Ausdruck.
Ich halte es für angebracht, bezüglich der permanenten politischen Krise in Nahost von einer spezifischen Pathologie zu sprechen. Das möchte ich mithilfe einiger Textstellen aus Hevers Buch „Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung“ (Köln und Karlsruhe 2014) klarmachen: „Auch wenn Israel/Palästina … ein sehr kleines Land ist“, so befindet es sich doch „am Schnittpunkt kollidierender internationaler Interessen, in dem drei Kontinente aufeinanderstoßen, in der Nähe des Suezkanals und an einem zentralen Punkt des Nahen Ostens, durch welchen Öl und Erdgas in die Mittelmeergebiete fließen“ (Hever, S. 222). „Abgesehen von der geographischen Bedeutung des Landes hatte Israel für die Nachkriegspolitik einen unermesslichen symbolischen Stellenwert, denn er wurde von Europa als Gelegenheit angesehen, sich von den Verbrechen des Holocaust reinzuwaschen und zugleich als Vehikel für postkoloniale Projekte im Nahen Osten zu dienen. Bei dem Versuch, sich für die Errichtung eines ethnischen Staates international Unterstützung zu verschaffen, war die zionistische Führung äußerst erfolgreich darin, vom europäischen Antisemitismus und dem Holocaust zu profitieren, indem sie die Politik der Schuld für sich nutzte, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte. Sie konnte führende Politiker der ganzen Welt dazu bringen, die Schaffung eines jüdischen Staates im Jahre 1948 zu unterstützen, … Israel erfüllte also einen doppelten Zweck bei der Bemühung Europas, sich nach dem Holocaust wieder herzustellen. Erstens bot es die Möglichkeit, die Juden für den Holocaust zu kompensieren und ihnen eine sichere Zukunft in ihrem eigenen Staat zuzusichern und so die Schuld des Holocausts zu tilgen. Zweitens blieb es den europäischen Ländern erspart, die in ihnen beheimateten Holocaust-Überlebenden zu rehabilitieren, indem sie diese nach Israel schickten“ (ibid.). Kurz und gut: Der „Projektstaat“ (Hever, S. 225) Israel diente erstens der „zionistischen Führung“ dazu, die „Schuld“ des „Holocaust“ zur Legitimation der eigenen Machtstrategien zu benutzen und zweitens dazu, eine nicht unerhebliche geostrategische Rolle bei der Durchsetzung der Interessen der Ölkonzerne und der politischen Hegemonie der USA wahrzunehmen. Zu diesem Zweck spielte die „zionistischen Führung“ in niederträchtigster Form die Trumpfkarte des vorhandenen Schuldbewusstseins gegenüber den Opfern des Holocausts aus und nahm vornehmlich die westliche Welt in den Schwitzkasten eines alle Kritik zur Seite fegenden Vorwurfs, nämlich den des Antisemitismus. Dieses bis heute nicht wenig erfolgreiche Erpressungsmanöver bedingt eine politische und moralische Pathologie, aus der der Nahe Osten nicht herauskommt, und der zu einer permanenten Rückkopplung von Terror und Gegenterror führt. Weder die „zionistische Führung“ noch der fundamentale Islamismus sind in der Lage, aus diesem Teufelskreis, den sie stets neu anfachen, herauszufinden. Hever schreibt über Israel, dass in dem „Projekt“ dieses Staates „der Zionismus“ den „Vorrang vor den realen Bedürfnissen der … Bürger … hat. Würde die Legitimität des Projekts untergraben, stünde die Definition Israels insgesamt in Frage“ (ibid.). Das „Projekt“ des zionistischen Staates ist nicht in der Lage, den Juden eine „sichere Zukunft“ zuzusichern. Den Menschen in den besetzten Gebieten Palästinas bringt es überdies Unterdrückung und Verwüstung. Eine ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben gewährleistende Zukunft kann es nur unter der Bedingung eines Staatswesens geben, indem Juden und Palästinenser ihre Angelegenheiten gemeinsam demokratisch regeln. Eine Zweistaatenlösung taugt dazu nicht.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz