Mehr als drei Monate nach Beginn des völkermörderischen Kriegs des israelischen Staates gegen den Gazastreifen untersucht der Autor die Auswirkungen auf die Staaten dieser Region, in denen auch regionale Akteure ihre eigene Agenda verfolgen. Dort droht – auch durch die zuvor schon vorhandenen und sich verschärfenden Konflikte – die Gefahr eines Flächenbrandes mit einer Ausweitung des Kriegs auf die Nachbarländer.
Joseph Daher
Noch haben die regionalen Spannungen nicht zu einem umfassenden blutigen Krieg im Nahen Osten geführt, obwohl sie seit Anfang Januar dramatisch zugenommen haben. Das brutale Vorgehen der israelischen Besatzungsarmee mit Unterstützung ihrer Verbündeten im imperialistischen Westen konfrontiert die Menschen in Syrien, dem Irak, dem Jemen und im Libanon mit der wachsenden Gefahr eines tödlichen regionalen Flächenbrands.
Seit dem 7. Oktober hat Israel wiederholt gezielte Attentate auf wichtige Persönlichkeiten in Syrien verübt. So wurde am 25. Dezember südlich von Damaskus der Brigadegeneral Razi Mousavi, ein hochrangiger Kommandeur der Quds-Truppe, der Abteilung für Auslandseinsätze und Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden, von israelischen Raketen getötet. Die iranische Führung hat eine Reaktion auf dieses Attentat angekündigt. Einige Tage später, am 8. Januar, wurde Hassan Akasha, ein Hamas-Vertreter, der für den Raketenbeschuss Israels seitens der Hamas aus Syrien verantwortlich war, von der israelischen Besatzungsarmee in dem Ort Beit Dschinn südwestlich von Damaskus in der Nähe der israelisch besetzten Golanhöhen getötet. Zwischen dem 12. Oktober und dem 8. Januar gab es mindestens 18 israelische Angriffe auf die Flughäfen von Damaskus und Aleppo. Außerdem wurden Stellungen und Einrichtungen der Hisbollah und pro-iranischer Kräfte in der Region Damaskus angegriffen.
Auch wenn der Diktator Bashar al-Assad viel von Solidarität mit den Palästinensern redet, scheint das syrische Regime weder Interesse noch die Fähigkeit zu haben, sich direkt an einer Reaktion auf den israelischen Krieg gegen den Gazastreifen zu beteiligen. Dies deckt sich mit der seit 1974 verfolgten Politik, jede ernsthafte und direkte Konfrontation mit Israel zu vermeiden. Auch wenn syrische Regierungsvertreter den israelischen Krieg verurteilen, wird daraus keinerlei militärische oder politische Unterstützung der Hamas erwachsen. Auch die beiderseitigen Beziehungen, die 2011 nach der Unterstützung des syrischen Aufstands durch die palästinensische Bewegung abgebrochen wurden, werden kaum mehr wie früher werden, selbst wenn das syrische Regime unter Vermittlung der Hisbollah im Sommer 2022 wieder Kontakt zur Hamas aufgenommen hat. Für die künftigen Beziehungen werden vor allem die Interessen des Iran und der Hisbollah den Ausschlag geben.
Mittlerweile hat die Gewalt im Norden Syriens zugenommen. Der Nordwesten Syriens ist durch die zunehmenden Bombardements durch syrische oder russische Flieger zu einem Brennpunkt des Konflikts geworden. Diese Eskalation erfolgte nach einem verheerenden Anschlag auf eine Abschlussfeier der Militärakademie in der Stadt Homs, bei dem mindestens 89 Menschen ums Leben kamen. Der Angriff erfolgte durch mit Sprengstoff beladene Drohnen, wahrscheinlich aus benachbarten Gebieten, die von den türkischen Behörden oder der islamistischen Miliz Hajat Tahrir asch-Scham (HTS) kontrolliert werden.
Der Anschlag in Homs wurde vom syrischen Regime und seinem russischen Verbündeten als Vorwand genutzt, die Militäraktionen in der Region zu intensivieren. Die humanitären Folgen sind schwerwiegend: Seit Anfang Oktober wurden mehr als 100 Menschen getötet – fast 40 Prozent davon Kinder – und über 400 weitere verletzt. Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden 120 000 Menschen gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen.
Auch das türkische Militär hat seine Militäroperationen auf die Gebiete ausgeweitet, die von der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES, besser bekannt als Rojava) kontrolliert werden. Anlass war ein Selbstmordanschlag am 1. Oktober am Eingang des Innenministeriums in Ankara, bei dem zwei Polizisten verletzt wurden und zu dem sich eine der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahestehende Gruppe bekannte. Am 17. Oktober stimmte dann das türkische Parlament für eine Verlängerung des Mandats, das den türkischen Streitkräften grenzüberschreitende Operationen in Syrien und im Irak für zwei weitere Jahre erlaubt.
Durch die zahlreichen Luft- und Drohnenangriffe wurden seit Oktober 2023 große Teile der Bevölkerung im Nordosten vorübergehend oder gar über die kalten Wintermonate hinweg von der Versorgung mit Strom, Wasser, Heizung etc. abgeschnitten. Ende Dezember flogen türkische Kampfflugzeuge und Drohnen eine Reihe von Angriffen gegen Ölanlagen und wichtige Infrastruktureinrichtungen, was zu Stromausfällen in mehreren Städten und auf dem Land im Kanton Dschasira führte und die Produktionskapazität der Elektrizitätswerke um 50 % reduzierte. Bei den türkischen Angriffen wurden im Jahr 2023 mindestens 176 Zivilisten getötet und 272 weitere verletzt. Mitte Januar nahm die Türkei ihre Luftangriffe gegen den Nordosten Syriens und den Nordirak wieder auf.
Dabei agieren die beteiligten Staaten Türkei, Russland und das syrische Regime im Windschatten des israelischen Krieg gegen Gaza und schlagen strategisch Kapital aus dem erhöhten internationalen Augenmerk auf den dortigen Konflikt, um ungestraft ihre eigene Agenda zu verfolgen.
Das Chaos infolge des Gazakriegs nutzen auch andere Akteure aus: So sind US-Militärstützpunkte in Syrien und im Irak seitens durch den Iran gesteuerter Gruppierungen vermehrt mit Drohnen und Raketen angegriffen worden. So gab das US-Verteidigungsministerium am 10. Januar bekannt, dass US-Truppen und -Stützpunkte in Syrien und im Irak seit dem 17. Oktober 127 Mal angegriffen worden seien. Diese verstärkten Angriffe sind eine direkte Reaktion auf Washingtons Unterstützung für Israels Militäraktion im Gazastreifen und dienen dabei sowohl der politischen als auch der regional-strategischen Agenda. Seit Ende Oktober fliegen die USA wiederum systematische Angriffe auf Einrichtungen der pro-iranischen Milizen und der Islamischen Revolutionsgarden Irans im Osten Syriens.
Auch im Irak kommt es zu Spannungen zwischen US-Streitkräften und pro-iranischen Milizen. Am 4. Januar griffen die US-Streitkräfte ein irakisches Sicherheitshauptquartier im Herzen der Hauptstadt Bagdad an. Dabei wurden zwei Mitglieder der al-Nujaba-Fraktion der pro-iranischen Milizengruppe Al-Haschd asch-Schaʿbīgetötet. Einer der ermordeten Milizionäre, Kommandant Abu Taqwa, wurde von Washington beschuldigt, aktiv an Angriffen auf US-Militärstützpunkte im Irak beteiligt zu sein.
Da die Al-Haschd asch-Schaʿbīoffiziell in die nationale irakische Armee integriert ist, verurteilte das irakische Außenministerium den Anschlag scharf. Das Büro von Premierminister Mohammad Shia al-Sudani bezeichnete den Angriff vom 4. Januar als gefährliche Eskalation. Es kündigte die Bildung eines bilateralen Ausschusses an, der die Aufgabe hat, Schritte zur endgültigen Beendigung der Präsenz der US-geführten internationalen Koalitionstruppen zu unternehmen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die politischen Machthaber des Irak den Abzug der US-Truppen fordern. Nach der Ermordung von Kassem Soleimani, dem Chef der iranischen al-Quds-Truppe der Revolutionsgarden in Bagdad, durch die USA im Jahr 2020 hatte Interimspremierminister Adel Abdel-Mahdi Washington aufgefordert, einen Plan für den Abzug seiner Truppen aufzustellen. Diese Bitte wurde vom US-Außenministerium kategorisch abgelehnt.
Das irakische Parlament hatte ebenfalls in einem Gesetzesentwurf den Abzug der USA gefordert, aber die Resolution war nicht bindend. Offiziell leisten die 2500 US-Soldaten im Irak den irakischen Streitkräften Unterstützung, Beratung und Ausbildung. Ihre Anwesenheit erfolgte auf Einladung der irakischen Regierung, die 2014 um Unterstützung im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) gebeten hatte. Sie war aber auch Teil des strategischen Abkommens, das 2008 zwischen dem ehemaligen Premierminister Nuri al-Maliki – jetzt Teil eines pro-iranischen schiitischen Netzwerkes (CF) – und Washington unterzeichnet wurde. Das Abkommen wurde damals vom irakischen Parlament gebilligt. Washington seinerseits möchte seine Militärpräsenz sowohl im Irak als auch in Syrien aufrechterhalten.
Auch auf jemenitischer Seite haben die Spannungen zwischen der politisch-militärischen Bewegung der Huthis und den US-Streitkräften und ihren Verbündeten zugenommen. Seit dem 7. Oktober haben die Huthis aus Solidarität mit den Palästinensern ihre Angriffe im Roten Meer auf Schiffe aus „pro-israelischen“ Herkunftsländern verstärkt. So kaperten sie am 19. November das Handelsschiff Galaxy Leader, das einem israelischen Geschäftsmann gehört, mit 25 Besatzungsmitgliedern. Die Huthis haben mehrfach erklärt, dass sie diese Angriffe erst dann einstellen werden, wenn der israelische Krieg gegen die Palästinenser im Gazastreifen beendet ist.
In Anbetracht dieser Lage hat Washington Anfang Dezember eine multinationale Seestreitmacht zum Schutz der Handelsschiffe im Roten Meer aufgestellt. Das Hauptziel besteht darin, einen der wichtigsten Schifffahrtskorridore für den internationalen Handel (12 % des Welthandels) zu sichern. Am letzten Tag des Jahres 2023 wurden zehn Huthi-Milizionäre getötet, als das US-Militär nach eigenen Angaben als Reaktion auf Angriffe auf das Containerschiff einer dänischen Reederei drei Schiffe versenkte. Es war der erste tödliche Schlag gegen die Huthis seit der Aufstellung der multinationalen Seestreitkräfte. Wenige Tage danach führten die USA und das Vereinigte Königreich weitere Luftangriffe gegen die Huthis durch. Außerdem verhängte Washington Sanktionen gegen die Finanzflüsse der Huthis, die sich gegen mehrere Personen und Einrichtungen im Jemen und in der Türkei richteten. Zwischen dem 18. November und dem 13. Januar wurden mehr als 27 Handelsschiffe, die im südlichen Roten Meer und im Golf von Aden unterwegs waren, von den Huthis angegriffen.
Im Libanon, der seit Beginn des israelischen Krieges gegen den Gazastreifen Ziel israelischer Raketen ist, hat sich das Risiko einer größeren Konfrontation zwischen der Hisbollah und Tel Aviv erhöht, nachdem Saleh al-Aruri, stellvertretender Vorsitzender des politischen Büros der Hamas und Mitgründer ihres militärischen Flügels, der Kassam-Brigaden am 2. Januar in den südlichen Vororten von Beirut von den Israelis ermordet worden war. Zwei weitere Hamas-Funktionäre, Samir Fandi und Azzam al-Akraa, sowie vier weitere Personen, die der Bewegung, aber auch der libanesischen Jamaa Islamiya (einem Zweig der Muslimbrüder im Libanon) angehören, wurden bei diesem Anschlag ebenfalls getötet. Aruri hatte sich seit 2018 im Libanon aufgehalten, war zuvor zweimal inhaftiert worden und hatte etliche Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht, bevor er im April 2010 freigelassen wurde. Er war einer der bevorzugten Gesprächspartner von Hassan Nasrallah, dem Generalsekretär der Hisbollah.
Das nächste Mordopfer war Wissam Tawil, ein Kommandeur der Al-Radwan-Truppe, einer militärischen Einheit der Hisbollah, der im Südlibanon einer israelischen Drohne zum Opfer fiel. Er war der ranghöchste militärische Funktionär der Hisbollah, der seit dem 8. Oktober getötet wurde. Als Reaktion darauf griff die Hisbollah Militärstützpunkte im Norden Israels an.
Bei israelischen Angriffen sind zwischen dem 8. Oktober und Mitte Januar 2024 rund 160 Hisbollah-Mitglieder ums Leben gekommen. Luft- und Drohnenangriffe der israelischen Besatzungsarmee auf Dörfer im Südlibanon haben außerdem zur Zwangsvertreibung von mehr als 76 000 Menschen aus ihren Häusern geführt und große Teile der landwirtschaftlichen Nutzflächen beschädigt.
Die Ermordung von Aruri und des Hisbollah-Kommandeurs Tawil hat die Position der libanesischen islamischen Partei und ihres Hauptsponsors Iran vorerst nicht beeinträchtigt. Das Zögern, auf den israelischen Krieg mit einer intensiveren militärischen Reaktion zu reagieren, liegt daran, die eigenen politischen und geopolitischen Interessen zu wahren. Die Hisbollah fungiert weiterhin als Druckmittel gegen Tel Aviv, wie Hassan Nasrallah es formuliert. Auch der Iran möchte nicht, dass sein Kronjuwel, die Hisbollah, geschwächt wird. Das geopolitische Ziel des Iran ist nicht die Befreiung der Palästinenser, sondern die Nutzung dieser Gruppierungen als Druckmittel, insbesondere in den Beziehungen zu den USA. Insofern hält die Hisbollah an „kalkulierten und angemessenen Reaktionen“ auf israelische Angriffe fest.
Die Gefahr dahinter ist, dass Israel seine Attentate und Angriffe auf libanesische Gebiete wahrscheinlich fortsetzen wird. Ein Teil der israelischen herrschenden Klasse will durch ihren Krieg gegen Gaza die Hisbollah dazu zwingen, sich 10 Kilometer von der Grenze, also nördlich des Litani-Flusses, zurückzuziehen. Dies würde einen politischen und militärischen Gewinn für Israel bedeuten.
Die Eskalation der israelischen Angriffe im Libanon ergibt sich aus der neuen militärischen Strategie Israels. Der Rückzug von fünf Brigaden aus dem Gazastreifen zu Beginn des Jahres, die größtenteils aus Reservesoldaten bestehen, ist Teil der israelischen Strategie eines „Krieges niedriger Intensität“. Beabsichtigt wird damit eine stärkere Kontrolle über den größten Teil des Gazastreifens, der inzwischen besetzt ist, die Zerstörung des unterirdischen Tunnelnetzes und die Ausrottung jeglichen Widerstands. Die zunehmenden Drohungen und Angriffe im Libanon zeigen, dass die Hisbollah die Chance verpasst hat, Israel zu einem Zweifrontenkrieg zu zwingen. Dies wendet sich nun gegen sie.
Der völkermörderische Krieg gegen die im Gaza-Streifen eingeschlossene palästinensische Bevölkerung geht unvermindert weiter. Die israelischen Regierungsvertreter haben angekündigt, dass der Krieg „das ganze Jahr“ 2024 andauern wird. Die Straflosigkeit dieses Vorgehens ist eine ständige Bedrohung für die Arbeiterklassen in der Region und erhöht weiterhin die Gefahr eines regionalen Krieges. Zugleich mehrt der westliche Imperialismus unter Führung der USA durch die Unterstützung Israels nur noch weiter das Elend der dortigen Bevölkerung, die ohnehin unter ihrer autoritären Staatsführung und den andauernden Bombardements leidet.
Wir müssen weiterhin den kolonialistischen und rassistischen israelischen Apartheid-Staat unter Druck setzen und gleichzeitig das Recht der Palästinenser*innen auf Widerstand gegen ein solches Verbrecherregime verteidigen. Wie jede andere Bevölkerung unter solchen Bedrohungen haben die Palästinenser*innen dieses Recht, auch mit militärischen Mitteln. Genauso haben die Libanes*innen das Recht, sich gegen die militärische Aggression und den Krieg Israels zu wehren. Dies darf nicht gleichgesetzt werden mit der Unterstützung der politischen Ziele und Orientierung der verschiedenen palästinensischen und libanesischen politischen Parteien, einschließlich Hamas und Hisbollah. Das gilt auch für alle Arten von militärischen Aktionen dieser Gruppierungen, insbesondere für Aktionen, die zur wahllosen Tötung von Zivilist*innen führen.
Dafür bedarf es in erster Linie einer Strategie der Linken, die auf der Solidarität der einheimischen Bevölkerung basiert. Das bedeutet Widerstand einerseits gegen die westlichen Staaten und Israel, andererseits aber auch gegen die autoritären Staaten der Region (Iran, Saudi-Arabien, Türkei, Katar, VAE etc.) und die mit ihnen verbundenen politischen Kräfte. Diese auf dem Klassenkampf von unten basierende Strategie ist der einzige Weg, um die Befreiung von diesen Regimen und ihren imperialistischen Hintermännern (seien es die USA, China oder Russland) zu erlangen. Für diesen Kampf müssen sich die Palästinenser*innen, Libanes*innen und die Menschen in den anderen Ländern auch die Forderungen all derer zu eigen machen, die unter nationaler Unterdrückung leiden – wie die Kurden und andere, die ethnisch, religiös und sozial unterdrückt werden.
15. Januar 2024 aus: Against the Current Nr. 229 Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz